Читать книгу Schritte in der Nacht - Anny von Panhuys - Страница 6

3.

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Gisa Wergenheim und Herbert Willmann sassen sich in der engen Traulichkeit des kleinen Biedermeiersalons gegenüber. Er war vor fünf Minuten gekommen und hatte ihr erklärt, nun sei alles geordnet, was irgendwie mit dem Tode der alten Dame zusammenhinge, und er stehe ihr weiter vollkommen zur Verfügung.

Gisa blickte ihn dankbar an.

„Sie haben sehr viel für mich getan, Herr Willmann. Ohne Sie wäre die Beerdigung und alles Drum und Dran bestimmt nicht so glatt gegangen. Sie haben alles sehr gut arrangiert, und Tante hat ein prachtvolles Begräbnis gehabt. Mein Vormund, Justizrat Völkert, sagt das auch. Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, und ich bitte Sie nun, die Rechnungen an Justizrat Völkert zu senden.“

Er verneigte sich im Sitzen. „Komtesse, das wird ja erledigt werden, viel wichtiger ist nach meiner Ansicht etwas anderes.“

Er blickte sie an, die in dem kreppbesetzten schwarzen Kleid geradezu hinreissend rührend und lieblich aussah. Er erhob sich.

„Komtesse, ich bitte Sie um Ihre Hand. Sie stehen jetzt ganz allein in der Welt, und ich liebe Sie. Verzeihen Sie, wenn ich schon jetzt davon spreche, aber ich meine, es wäre für Sie gut, recht bald hier herauszukommen.“

Gisa schüttelte den Kopf.

„Ich kenne Sie zu wenig, um Ihre Frau werden zu können.“

Er lächelte: „Sie haben doch schon einmal, wenn auch nur für Minuten, an meinem Herzen geruht, Komtesse, und ich kann diese Augenblicke nicht vergessen.“

Ueber ihr blasses Gesicht jagte rasches Rot.

„Wenn Sie mich nach Ablauf des Trauerjahres noch einmal fragen, ob ich Ihre Frau werden will, dann hoffe ich, Ihnen eine klare Antwort geben zu können. Heute ist es mir unmöglich. Dringen Sie, bitte, nicht in mich, ich bin ausserstande, Ihnen etwas anderes zu erwidern.“

Er hätte am liebsten die Arme ausgestreckt und die schöne Gisa Wergenheim an sich gerissen wie eine Beute: aber er bezwang sich. Bei Gisa konnte er mit einer Unüberlegtheit alles verderben.

Er setzte sich wieder und sann. Noch niemals war er vom ersten Augenblick an so über alle Begriffe verliebt gewesen wie jetzt in Gisa Wergenheim. Noch niemals hatte er vordem daran gedacht, sich zu binden; aber in Gisa sah er die Frau, die vorzüglich zu ihm passte. Sie war schön und jung und trug einen klingenden Namen. Man würde ihn um die goldblonde, graziöse Köstlichkeit beneiden. Er sagte in bedauerndem Tonfall:

„Wie schade, dass Sie eine so lange Ueberlegungsfrist brauchen! Aber vielleicht kürzen Sie sie doch etwas ab. Ich hoffe, Sie sehen schon bald ein, dass ich Ihnen ein guter Begleiter durchs Leben werden würde. Verzeihen Sie eine Frage, Komtesse, wie alt sind Sie?“

„Ich bin zwanzig Jahre“, gab sie zurück.

Er fand, sie sah aus, als sei sie kaum achtzehn. Sie hatte ihre Jugend in strengster Zurückgezogenheit verbracht, sie kannte keine von all den modernen Vergnügungen, die fast jedes junge Mädchen kennt, und um sie her war ein seltener Duft von Reinheit und Unberührtheit. Sie kannte kein modernes Theaterstück, und erst zweimal war sie im Kino gewesen. Sie war noch in vielen Dingen weit hinter ihren Altersgefährtinnen zurück, da ihre Urgrosstante sie an keinem Vergnügen der Jugend hatte teilnehmen lassen.

Vielleicht war es die weltfremde Reinheit, die Herbert Willmann so besonders an Gisa reizte? Er wusste es nicht; er wusste nur, er musste sie besitzen.

Gisa hüstelte verlegen, fand dann den Mut zum Sprechen.

„Ich hätte eine Bitte, Herr Willmann, und Sie würden mir eine grosse Freude bereiten, wenn Sie mir die Bitte erfüllen wollten.“

„Wenn die Erfüllung in meiner Macht liegt, gewähre ich sie Ihnen schon im voraus“, versprach er galant.

Ihr Blick ward warm.

„Das wäre wunderschön, Herr Willmann. Sie suchten letzthin, kurz, bevor meine Tante starb, eine Sekretärin. Wenn Sie inzwischen noch keine engagiert haben, prüfen Sie mich, ob ich die Stellung ausfüllen kann. Ich spreche Englisch, Französisch und Italienisch und habe Buchführung gelernt, sowie Maschinenschreiben.“

Er sah sie verblüfft an.

„Fast meine ich mich verhört zu haben, Komtesse. Oder wollen Sie sich einen Scherz mit mir machen? Ich kann doch unmöglich glauben, Sie möchten sich von mir Geschäftsbriefe diktieren lassen und sich mit allerlei trockenen Büroarbeiten langweilen.“

Sie nickte eifrig. „Doch, doch, es ist mein voller Ernst! Ich habe Büroarbeiten gelernt, manches heimlich, hinter dem Rücken von Tante, um etwas zu können, falls die Not an mich heranträte. Ich hätte auch gern zum Haushalt beigetragen; aber Tante würde nicht erlaubt haben, dass ich mir eine Stellung suchte. Auch gibt es ja hier kaum eine für mich. Ihre Annonce hat mich begeistert, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es mit mir versuchen würden. Ich verspreche Ihnen auch, mir die allergrösste Mühe zu geben.“ Sie brach ab und ihr feines Gesichtchen verdunkelte sich. „Aber wozu reden wir davon? Die Stellung ist sicher längst vergeben.“

Herbert Willmann durchzuckte es, dass ihm jetzt vielleicht Gelegenheit geboten war, schnell ans Ziel zu kommen. Ein häufiges Zusammensein mit Gisa würde sie ihm bald in die Arme treiben. Dieses unschuldige kleine Mädelchen verliebt in sich zu machen, konnte doch nicht so schwer sein. Er antwortete schnell:

„Die Stellung ist noch nicht vergeben; aber Sie sollten sich nicht mit so langweiligem Kram beschäftigen. Obwohl Sie nicht reich sind, ja, vielleicht nicht einmal wohlhabend, so gehört Ihnen doch das Häuschen, und vorläufig wird das Geld reichen, das Ihre Tante Ihnen hinterlassen hat. Ich hörte von Ihrem Vormund, es seien noch fünfzehntausend Mark.“

Gisa nickte: „Das stimmt. Aber es ist mir jetzt, wo ich allein in der Welt stehe, auch nicht nur um das Geldverdienen zu tun. Ich bin zu viel allein, ich denke zu viel an Tante und habe eingesehen, dass ich Arbeit brauche. Die würde mich ablenken. Bitte, versuchen Sie es doch mit mir.“

„Wäre Ihr Vormund damit einverstanden?“ fragte Herbert Willmann.

Sie antwortete mit einem schnellen Ja, und ihre schönen Braunaugen hingen bittend und fragend an seinem Gesicht.

Er neigte den Kopf.

„Gut, ich engagiere Sie, Komtesse. Doch den ganzen Tag haben Sie vorläufig noch nicht zu tun, nur des Vormittags. Dafür zahle ich Ihnen dreihundert Mark monatlich.“

Sie sah ihn fast verdutzt an.

„Eine solche Riesensumme wollen Sie ausgeben für eine Anfängerin, auf die Sie doch vielleicht Rücksicht nehmen müssten? Bewahre! Das ist viel zu viel.“

Sie bemerkte nicht, wie das Spottlächeln um seinen Mund betonter ward, als er zurückgab: „Ich habe die Summe von dreihundert Mark für den Posten ausgesetzt, und weshalb soll ich Sie, weil ich Sie zufällig kenne, benachteiligen? Also topp, es gilt! Wann können Sie Ihre Stellung antreten, Komtesse?“

Sie machte ein ganz frohes Gesicht — zum ersten Male, seit die alte Verwandte sie verlassen. Es war ein so hübscher Gedanke, sich durch ihrer Hände Arbeit Geld zu verdienen! Und gleich so viel! Da brauchte sie das kleine Vermögen, das die alte Dame ihr hinterlassen, vorläufig gar nicht anzugreifen. Der Gedanke gab eine so angenehme Sicherheit.

Doch plötzlich verflog die frohe Stimmung wieder.

„Es geht doch nicht mit der Stellung“, erklärte sie traurig, „weil Sie mir vorhin gesagt haben, Sie lieben mich.“

„Aber das ist doch kein Hinderungsgrund“, erwiderte er leicht erschreckt; denn jetzt hatte er sich mit dem Gedanken schon befreundet, jeden Vormittag die schöne Komtesse in seiner Nähe zu haben. „Vergessen Sie zunächst, was ich Ihnen gestanden; auch ich werde mir Mühe geben, es vorläufig zu vergessen.“ Er lächelte. „Vielleicht gewöhnen Sie sich als meine Sekretärin an mich und erlauben mir, Ihnen eines Tages zu wiederholen, was ich Ihnen schon heute sagte.“

Sie überlegte flüchtig.

„Ich werde mit meinem Vormund sprechen“, antwortete sie.

Er stimmte ihr bei.

„Wenn Ihr Entschluss feststeht, bitte ich Sie sofort um ein paar Zeilen. Oder noch besser! Wenn Sie sich endgültig entschlossen haben, die Stellung anzunehmen, brauchen Sie nur ins Schloss zu kommen. Morgen oder übermorgen vormittag! Ich werde Sie erwarten.“

Er gab sich Mühe, recht kühl und nüchtern zu sprechen, damit Gisa nicht kopfscheu würde.

Diese nickte: „Ich rede noch heute mit meinem Vormund.“

Herbert Willmann lächelte: „Es ist für mich eigentlich eine sehr befremdende Idee, dass ich in Ihnen meine Sekretärin sehen soll.“

Sie lächelte ebenfalls ein wenig.

„Sie sollen mich genau so behandeln, wie Sie jede beliebige Sekretärin behandeln würden. Das müssen Sie mir versprechen.“

Er verneigte sich.

„Ich verspreche es Ihnen, Komtesse.“

Und er dachte belustigt, es wäre ihm gar nicht eingefallen, einer anderen Anfängerin dreihundert Mark für ein paar Vormittagsstunden zu bieten.

Als er gegangen war, machte sich Gisa gleich auf den Weg zu Justizrat Völkert. Sie erzählte ihm, dass Herbert Willmann sie als Sekretärin engagieren wollte; aber sie erwähnte keine Silbe davon, dass er ihr von Liebe gesprochen und sie zur Frau begehrte. Sie fürchtete wohl mit Recht, der Vormund würde ihr dann abraten, die Stellung anzunehmen.

Sie reizte die Arbeit. Sie sehnte sich nach Beschäftigung, nach Ablenkung. Die Tage waren so endlos, seit sie die alte Dame nicht mehr betreuen durfte, deretwegen sie fast klösterlich einsam hatte leben müssen; aber die Sorge um die Urgrosstante war doch immerhin eine Aufgabe gewesen. Jetzt schien ihr die Stille des kleinen Hauses oft unerträglich, atembeklemmend, und sie dachte, es müsste schön sein, sich einen Pflichtenkreis zu schaffen. Auch gab es da noch ein Gefühl, über das sie sich bisher nicht klar geworden. Sie empfand manchmal starke Zuneigung für Herbert Willmann. Dann wieder war er ihr unsympathisch, stiess sie ab.

Sie ward aus ihren Empfindungen nicht klug.

Wenn sie ihn öfter sah und mit ihm zusammen arbeitete, würde sie ihn vielleicht anders beurteilen als bisher. Die allzu dreiste Art, mit der er sie am ersten Tag behandelt, hatte sich deutlich in ihr Gedächtnis eingeprägt. Sie musste das erst vergessen.

Justizrat Völkert fand die monatliche Entlohnung ebenfalls sehr hoch, aber er dachte, ein Mann, hinter dessen Namen einige Millionen standen, konnte seine Angestellten auch gut bezahlen.

Schon am nächsten Vormittag trat Gisa Wergenheim ihre Stellung an. Punkt zehn stand sie in der Eingangshalle des Schlosses, deren Wände mit grossen Gemälden aus der Rokokozeit geschmückt waren.

Der Diener ging, sie anzumelden, und sie beschaute sich inzwischen die Wandgemälde. Es fiel ihr ein, die Urgrosstante hatte ihr oft erzählt, die Bilder stellten bestimmte Personen dar.

Als Kind war sie einmal von der Urgrosstante mit ins Schloss genommen worden, und die alte Dame hatte ihr hier in der Halle erklärt, wer die Damen und Herren aus dem Rokoko gewesen, die so elegant und zierlich Menuett tanzten.

Auch Erbprinz Otto war hier auf einem Bilde zu sehen, erinnerte sich Gisa. Die alte Dame hatte sie noch besonders auf sein Bild aufmerksam gemacht.

Gisa ging langsam hinüber zur linken Wand.

Der hübsche, schlanke Kavalier im blauen Seidenrock und weissem Zöpfchen im Vordergrund war es. Seine Augen blitzten übermütig, und um seinen Mund sass das Schlänglein des Spottes.

Gisa stutzte. Der unselige Erbprinz hatte denselben Zug um die ein wenig hochmütigen Lippen, wie Herbert Willmann.

Sie war völlig in die Betrachtung des Bildes versunken und überhörte nahende Schritte. Erst als Herbert Willmann dicht neben ihr sagte: „Das ist ein sehr lebenswarmes Rokokoherrchen, nicht wahr, Komtesse?“ schreckte sie auf.

Er verneigte sich. „Ich danke Ihnen, Komtesse, dass Sie gekommen sind. Es wartet sogar schon Arbeit auf Sie.“

Gisa nickte. „Ich freue mich darauf.“

Herbert Willmann wies auf den Kavalier im blauleuchtenden Seidenrock.

„Meint man nicht, er lebt und möchte von der Wand heruntersteigen, um Sie zum Tanze aufzufordern, Komtesse?“

Sie fand, er hatte recht. Es sah wirklich aus, als wollte der schlanke Mann seinen Platz verlassen, auf sie zuzutreten und sie zum Tanze auffordern.

Sie erzählte, was sie von den Bildern in der Halle wusste, und erklärte:

„Zu diesem Bilde hier soll Erbprinz Otto Modell gestanden haben. Er war der älteste Sohn der Herzogin, bei der meine Tante Hofdame gewesen. Er wurde erwürgt.“

Herbert Willmann schüttelte den Kopf.

„Das klingt ja ganz schaurig. Wissen Sie vielleicht auch, wer den Mord begangen hat?“

„Natürlich! Tante kannte ja die Geschichte genau.“

Herbert Willmann wies auf einen der bequemen, mit Gobelinstoff überzogenen Sessel in der Halle.

„Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen, Komtesse? Es würde mich sehr interessieren, die Geschichte von dem Mord zu hören. Dies Bild“ — er wies auf den hübschen Kavalier im blauen Rock — „hat mir vom ersten Augenblick an ganz ungewöhnlich gefallen. Ich habe bisher geglaubt, es sei ein Phantasiebild, und nicht geahnt, dass es die Züge eines Menschen trägt, der einmal hier zu Hause gewesen ist. Es ist etwas an dem Bilde, das mich wie etwas längst Vertrautes anmutet, als stelle es einen Freund dar.“ Er zuckte die Achseln. „Nun werden Sie lachen, nicht wahr, Komtesse?“

Sie sah ihn ernst an.

„Ich finde an Ihren Worten nichts Lächerliches.“ Sie fuhr langsam fort: „Wenn Sie es mir nicht übelnehmen, möchte ich sagen: er hat fast denselben Mund wie Sie.“

Er blickte das Bild scharf an.

„Sie haben recht, er hat meinen Mund.“

Gisa hatte inzwischen Platz genommen, und er liess sich ihr gegenüber nieder, hielt ihr sein geöffnetes silbernes Zigarettenetui entgegen.

Sie machte eine fast erschreckte Bewegung.

„Ich bitte Sie, ich verstehe nichts vom Rauchen.“

Er lachte: „Dann sollten Sie es lernen. Eine junge schöne Dame von heute muss rauchen.“

Sie lächelte: „Ich bin eine junge Dame von gestern! In der Liliengasse hat die Zeit stillgestanden.“

Er fragte: „Gestatten Sie mir eine Zigarette?“

Sie erwiderte mit kleinem Lächeln: „Ich bin nur Ihre Angestellte, Herr Willmann. Aber Sie wollten ja die Geschichte vom Erbprinzen Otto hören. Also, es heisst, er wäre sehr lebenslustig gewesen, und die Mädchen der Stadt hätten alle ihr Herz an ihn verloren. Er soll aber jeder immer sehr schnell überdrüssig geworden sein. Auch mit der Tochter eines Schlossdieners hatte er eine Liebschaft. Doch als er dann nichts mehr von ihr wissen wollte, ging sie nicht still beiseite wie die anderen, sondern lauerte ihm auf, als er von einem neuen Stelldichein kam. Er ist wohl langsam seines Weges gegangen und hat an nichts Böses gedacht, als sie ihn ansprang und ihm die Kehle zusammenpresste. Sie muss viel Kraft gehabt und er die Besinnung verloren haben, ehe er sich noch wehren konnte. Jedenfalls hat sie ihn, als er fiel, zu Tode gewürgt. Sie hiess Magdalene Karsten und ist hingerichtet worden.“

Herbert Willmann machte eine komisch entsetzte Miene.

„Eine gruselige Geschichte. Aber ein Held scheint er gerade nicht gewesen zu sein, der hübsche Erbprinz, trotzdem er hier nicht feige aussieht. Ich meine, es gehört doch allerhand dazu, sich von einer Frau erwürgen zu lassen.“

Gisa fuhr fort: „In der Liliengasse vor unserem — nein, ich muss wohl sagen — vor meinem Haus, ist das Grässliche geschehen, und nun geht die Sage, die jeder hier kennt: zuweilen, zwischen Mitternacht und erster Morgenstunde, hört man das Aufklappern von hohen Holzhacken auf dem alten Pflaster der Liliengasse, und manche Leute wollen eine dunkelgekleidete Frauengestalt durch die Gasse haben eilen sehen. Es heisst, Magdalene Karsten muss zur Strafe für ihre Tat oft um Mitternacht denselben Weg machen wie in jener schrecklichen Nacht. Kurz ehe Tante starb, hat sie noch einmal davon gesprochen, weil sie um Mitternacht aufgewacht war und das Hackenklappern draussen gehört hat.“ Sie lächelte. „Unsere Gasse hat schon an und für sich etwas Spukhaftes. Die alte Geschichte passt dorthin, und der Schauplatz macht nachts auch den Spuk glaubhaft.“

Herbert Willmann blickte wieder auf den hübschen, eleganten Kavalier.

„Man sieht ihm jedenfalls nicht an, welch tragisches Schicksal ihm drohte.“

Gisa warf einen Blick auf die reichgeschnitzte Standuhr neben der breiten, niedrigen Marmortreppe.

„Es ist bereits eine halbe Stunde über zehn, Herr Willmann. Darf ich jetzt mit der Arbeit anfangen, die schon auf mich wartet, wie Sie sagten?“

Er nickte: „Natürlich dürfen Sie anfangen. Bitte, folgen Sie mir, Komtesse.“

Er führte sie in ein grosses, sehr hübsch eingerichtetes Zimmer, dessen Fenster in den Garten führten, und Gisa fand, sie hatte als Anfängerin eine geradezu ideale Stellung gefunden. Ein breiter Schreibtisch stand an einem der Fenster, durch das die Sonne in mächtigem Glanzstrom brach, und ihre erste Arbeit bestand darin, einen Artikel aus einer französischen Automobilzeitung ins Deutsche zu übersetzen. Herbert Willmann erklärte ihr:

„Diesen Artikel und noch verschiedene andere sollen die Ingenieure und Meister meiner Fabrik lesen und daraus lernen. Die meisten können ja nicht Französisch; ich selbst aber habe keine Geduld für Uebersetzungsarbeiten.“

Das leuchtete Gisa ein, und sie machte sich mit grossem Eifer an die Arbeit. Sie fand den Stoff nicht trocken und langweilig, obwohl sie vom Autobau doch gar nichts verstand. Jedenfalls versuchte sie in das, was sie übersetzte, Sinn hineinzubringen.

Herbert Willmann sass seitlich in einem bequemen Klubsessel und las. Sie dachte, er läse sicher irgendein neues Fachbuch, und wäre wohl ein wenig erstaunt gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass das Buch ein moderner Roman war.

Doch interessierte er Herbert Willmann herzlich wenig.

Er blickte, sobald sich Gisas Kopf über die Schreibarbeit neigte, zu ihr hinüber. Das feine, schöne Mädelchen, dessen reine Züge ihn förmlich verhext hatten, musste ihm gehören. Seine Junggesellenfreiheit wollte er ihretwegen leichten Herzens aufgeben; aber ein langes Jahr durfte die Wartezeit nicht dauern. Sie sollte sich jetzt an ihn gewöhnen, und in einigen Wochen würde er sie wohl so weit gebracht haben, dass sie ihm gern die jungen Lippen bot.

So viele Mädchen und Frauen hatten ihn schon gereizt, aber keine so wie die blonde Komtesse.

Gisa schrieb bis um ein Uhr. Da erhob sich Herbert Willmann.

„Nun ist es genug für heute, Komtesse. Ich danke Ihnen. Morgen um zehn Uhr erwarte ich Sie zur Weiterarbeit.“

„Wenn die Uebersetzung sehr wichtig ist, kann ich ja zu Hause noch ein paar Stunden daran arbeiten“, erbot sie sich.

Er hätte ihr beinahe ins Gesicht gelacht. Die Uebersetzung flog, wenn sie fertig war, ins Feuer.

Er antwortete:

„Nein, nein, es genügt, wenn Sie hier daran arbeiten, Komtesse.“ Er sah sich die Bogen an, die sie mit der Hand vollgeschrieben, und lobte: „Sie haben eine hübsche, klare Schrift. In den nächsten Tagen erhalten Sie eine Schreibmaschine.“

Gisa verabschiedete sich kurz und höflich. Sie verspürte gesunden Hunger und eilte nach Hause, so schnell sie konnte.

Lina öffnete ihr mit verzweifelter Miene.

„Das gute Schnitzel ist schon verbraten, und die Speise ist zusammengefallen, Komtesschen. Wo bleiben Sie denn um des Himmels willen? ’s ist eine ganz verdrehte Sache, in die Sie sich eingelassen! Hat man sowas schon in der Welt gehört, dass eine Komtesse Wergenheim zu einem simplen Herrn Willmann ins Haus läuft und Schreiberdienste für ihn tut? Die alte Gnädige tät’ wiederkommen, um Ihnen den Marsch zu blasen, wenn sie ahnte, was Sie anstellen, Komtesse.“

„Das verstehst du nicht, Lina“, beruhigte sie Gisa. „Heutzutage ist so etwas vollkommen an der Tagesordnung. Für mich ist die Hauptsache, zu arbeiten und Geld zu verdienen, damit das kleine Kapital möglichst erhalten bleibt.“

Sie setzte ernst hinzu: „Man kann nie wissen, wie es im Leben noch kommt.“

Lina brummte: „Wie es kommt, ist klar. Sie werden heiraten, und dann sind Sie versorgt, und die alte Lina geht mit. Aber Bürofräulein sollten Sie nicht spielen, oder wenn es schon sein muss, nicht bei dem Fremden, der hier in unser Städtchen reingeschneit ist wie ’ne Strafe Gottes.“

„Aber, Lina!“ verwies Gisa sie. „Du gehst mit deiner Ungerechtigkeit gegen Herrn Willmann zu weit.“

„Gar nicht weit genug kann ich gehen“, erregte sich die alte Haushälterin und stemmte die Hände unternehmend auf die Hüften. „Ich sage es noch hundertmal: er ist eine Strafe Gottes. So lange haben wir gut und friedlich gelebt, bis der Mensch hier auftauchte und mit seinem Deifelskarren die arme alte Gnädige ins Verderben lockte. Ich hab’ die alte Gnädige gewarnt; aber der verflixte Mensch muss sie emailliert haben, oder wie das heisst, wenn einer einen anderen Menschen durch seine Augen zwingt, was zu tun, was er eigentlich nicht tun will.“

„Du meinst, er muss sie hypnotisiert haben“, lächelte Gisa.

Die gute Alte war in ihrem ungerechten Zorn sehr komisch.

„Ja, lachen Sie mich nur aus, Komtesse“, fuhr sie jetzt auf, „ich kann es Ihnen nicht verwehren; aber Sie werden noch einsehen, ich habe recht gehabt. Mir gefällt der Mosjöh nicht, vor dem hier alle katzbuckeln, weil er ja wohl viel Geld haben soll. Vor dem ollen schmutzigen Geld kriechen ja die meisten Menschen, bloss ich nicht. Sie kriechen auch davor, Komtesse, Sie auch, sonst würden Sie nicht für den Mann arbeiten, wo Sie es doch nicht nötig haben. Ich habe schon bemerkt, wenn er Sie anguckt, dann flimmert in seinen Augen was widerwärtig Gieriges.“

Gisa wandte sich ab.

„Wenn wir uns hier noch lange auf dem Flur unterhalten, Lina, werden die Schnitzel bestimmt nicht besser.“

Lina wackelte ein bisschen mit den sehr runden Schultern.

„Sie wollen bloss nix mehr hören. Die Wahrheit hört eben keiner gern. Ich bleibe dabei, ohne den Mosjöh ässe die alte Gnädige heute mit Ihnen am Tisch Schnitzel.“

Sie schob ab in die Küche, und Gisa ging etwas verdriesslich ins Wohnzimmer, wo der Tisch bereits gedeckt war. Sie war so frohgelaunt heimgekommen, es war ein so angenehmes Gefühl gewesen, etwas gearbeitet zu haben, wofür sie Geld verdiente, und nun hatte der Empfang sie um ihre ganze gute Stimmung gebracht.

Lina war zuweilen kindisch. Sie liess sich nicht ausreden, dass Herbert Willmann an dem Tod ihrer über alles verehrten Herrin schuld war.

Das Mittagessen schmeckte Gisa gar nicht, obwohl die Schnitzel ausgezeichnet waren; sie kämpfte mit einer bösen Verstimmung. Endlos schien ihr der Nachmittag, und sie dachte mit förmlicher Sehnsucht an das schöne, hohe Zimmer im Schloss, in dem sie heute gearbeitet. Arbeit war ein Gnadenquell, dessen Trank frisch machte und alle schweren Gedanken in den Hintergrund zwang.

Jetzt sass sie in dem Biedermeiersalonchen und kam sich grenzenlos einsam und verlassen vor. Das Haus war so klein; aber es schien ihr heute unendlich gross. Furcht vor dem Leben erwachte in ihr, und ihr Herz klopfte überschnell und schmerzhaft.

Schritte in der Nacht

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