Читать книгу Christel stellt was an - Anny von Panhuys - Страница 7

4.

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Dr. Wendeck spielte mit keinem Wort auf den gestrigen Zwischenfall an. Er hatte es am Vormittag nicht getan und schwieg auch nachmittags. Nur war es Christel, als ob er sie jetzt aufmerksamer beobachtete bei allem, was sie unter seinen Augen tat. Sie fühlte oft seine Blicke auf ihren Händen, wenn sie ihm etwas zureichte.

Abends beeilte sich Christel heimzukommen. Ihr war es, als müsse sie über vieles nachdenken. Die Rückfahrkarte hatte sie in ihrer kleinen Börse aufgehoben, die bedeutete für sie ungefähr dasselbe, was ein plötzlich entdeckter Wegweiser für einen Menschen bedeutet, der sich gründlich im Wald verlaufen hat.

Frau Ankes erste Frage war: „Bleibt es bei der Kündigung?“

Christel bejahte.

„Es bleibt dabei, aber ich konnte es auch wirklich nicht mehr bei Dr. Wendeck aushalten. Wollen‘s dabei lassen, Großchen, selbst wenn er sich anders besänne.“

Die alte Frau nickte mehrmals, doch sagte sie leise:

„Unsereins überlegt mehr. Ein gutes Wort findet einen guten Ort.“

„Du warst heute früh mit mir einig, Großchen, sprich jetzt nicht anders. Ich hoffe, ich werde gar nicht lange zu pausieren brauchen“, wehrte Christel ab.

Frau Ewald schluckte. Es sah aus, als wäre ihr das Weinen nahe.

„Ich wollte dich erst in Ruhe Abendbrot essen lassen, Christel, ehe ... Also — etwas Trauriges ist geschehen. Mein Bruder auf dem Schattenhof ist heute früh gestorben, sein Enkel hat mich zur Trauerfeier eingeladen. Ich hab‘ meinem Bruder im vorigen Monat zum Geburtstag Glück gewünscht, was ich oft vergaß. Es ist, als wenn ich geahnt hätte, daß es so kommen würde. Und ich möchte hinfahren, ihm die letzte Ehre erweisen. Wir haben uns nicht mehr verstanden all die vielen Jahre, seit ich mich verheiratet habe. Nur ab und zu wechselten wir einen Briefgruß.“ Tränen liefen über ihr Gesicht. „Wie dem auch sei, er ist mein einziger Bruder gewesen, und es tut mir nun weh, daß er gestorben ist. Ich hab‘ schon mein Zeug zusammengesucht, übermorgen wird er begraben.“

Christel wurde plötzlich von ihren Gedanken abgelenkt. Sie hatte Großchens Bruder niemals kennengelernt, aber sie spürte jetzt ein seltsam dumpfes Weh, ein Bangen, als ob sich eine feste Hand um ihr Herz lege. Ihr Urgroßonkel war Hinrich Wobbe gewesen und Blut von seinem Blut floß auch in ihren Adern. Eigentümlich war es, zu denken, daß da unfern von Hamburg ein alter Mann gestorben war, den sie nie gesehen hatte, und dem sie vielleicht doch irgendwie äußerlich oder innerlich ähnlich war. Sie legte die Arme um den Hals der alten Frau.

„Ich gehe schnell zu Frau Steffen, sie hat einen neuen Fahrplan, und ich will gleich nachsehen, mit welchem Zug du reisen kannst, Großchen. Ich lasse dich nicht gern allein fahren, aber Dr. Wendeck gibt mir jetzt sicher nicht frei.“

Christel strich mit behutsamer Hand über das dichte weiße Haargespinst der Großmutter, die still vor sich hin weinte. Aus längst verschütteten Herzenstiefen brach in der einstigen Anke Wobbe die Geschwisterliebe wieder hervor, die man oft nicht hoch genug einschätzt und die sich nun mit einemmal erhob und bewies, sie war immer und immer dagewesen. Gleiches Blut hatte sie festgehalten, aber Dummstolz und törichtes Beleidigtsein hatten darüber gelegen wie hartes, kaltes Eis. Der Tod hatte erst kommen müssen, es zu schmelzen.

Christel hatte sich entfernt, um den Fahrplan zu besorgen, die alte Frau aber begann in ihrer Kommode herumzukramen. Sie zog schließlich etwas daraus hervor, das — glatt zusammengelegt — nicht auf den ersten Blick verriet, was es war. Aber als sie es dann auseinanderfaltete, nahm es die Form einer großen Schürze an. Eine schwarze Schürze war es, Spitze aus Goldfäden umsäumte die Gürtellinie und am Rand war sie mit roter Seide bestickt.

Die alte Frau hob die Schürze dicht vor die Augen, ein Teil der feinen Stickerei wurde zu einem Namen, und sie entzifferte: Dorothea Hansen, 27. Oktober 1836. Schon mehr als hundert Jahre waren vergangen, seit geschickte Finger das zierliche Muster auf die Trachtenschürze gezaubert hatten. Der Hochzeitstag ihrer Mutter war der 27. Oktober 1836 gewesen, und ihr Herz mochte froh bei der Handarbeit geschlagen haben.

„Mutter!“ rief die alte Frau leise und ein wenig scheu. Es ist so seltsam, wenn alte Leute den Namen ihrer Mutter aussprechen, deren Leib längst zu Staub und Asche geworden. Aber der Ruf dringt wohl doch über alle Weiten des Irdischen hin ins Land der Ewigkeit, zu ihr, der Mutter. Anke Ewald setzte sich nieder, und sie drückte die Schürze vor die Augen und weinte viele Tränen hinein. Ihr Bruder war gestorben! Einst war sie jung und froh mit ihm zusammen gewesen, und sie trauerte um ihn, der an derselben Mutter Hand gegangen war wie sie, dessen Heimathaus auch das ihre gewesen.

Christel schloß eben die Korridortür auf, und die alte Frau versuchte, die Schürze schnell zusammenzufalten. Da trat die Enkelin ein. Sie lächelte ernst.

„Laß doch, Großchen, ich weiß, wieviel dir die Prunkschürze deiner Mutter bedeutet. Nimm sie mit, damit sie im Schattenhof sehen, daß sie dir wert geblieben ist durch die vielen Jahre fern von ihnen.“ Sie nahm ihr die Schürze sacht aus der Hand und legte sie sorgsam in die eingeknifften Falten, die aber noch keine Bruchstellen aufwiesen.

„Morgen früh, gleich nach halb acht, fährt ein Zug vom Lehrter Bahnhof, der gut passen würde“, berichtete sie. „Ich bringe dich hin.“

Die alte Frau saß sehr gerade da, ihre Tränen waren versiegt.

„Ich weiß ja noch Bescheid von damals, und wenn sich inzwischen noch soviel geändert hat. Über Bergedorf komme ich heim — und der Schattenhof liegt ja immer noch an der gleichen Stelle, wo er gelegen hat, als ich ihn verlassen habe. Ich werde schon nach Hause finden.“ Sie zog tief den Atem ein. „Wir sind keine verzärtelten Mutterkinder, wir Wobbes, und haben starke Knochen. Ein Altmütterchen, das sich unterwegs nicht zu helfen weiß, bin ich nicht, und meine Beine sind auch noch tüchtig. Mach dir meinetwegen keine Sorgen, Christel!“

Und über Großchens Reise und die Vorbereitungen dazu vergaß Christel sogar die Rückfahrkarte in ihrer Tasche. Sie fiel ihr erst wieder ein, als sie, vom Bahnhof heimgekehrt, die Treppe in dem düsteren Mietshaus der Großen Frankfurter Straße hinaufstieg, in dem Dr. Wendeck wohnte und seine Praxis ausübte. Tagsüber dachte sie noch oft daran und ging abends nicht heim, sondern besuchte Fränze Dorner, die eben nach Hause gekommen war und sich in ihrer netten möblierten Wohnung, die aus einem Zimmer und einer Wohnküche bestand, einen duftenden Tee braute. Christel wollte mit der Freundin über die Fahrkarte reden, wollte hören, was die dazu sagen würde. Aber zuerst erzählte sie, daß ihre Großmutter so überraschend plötzlich ins Hamburgische gefahren war und weshalb.

Fränze hörte zu und sagte dann nachdenklich:

„Wir Menschen sind viel zu empfindlich. Das mag bei Fremden angebracht sein, aber schade ist‘s um die schöne Zeit, die man sich selbst stiehlt, wenn es um die Familie geht. Ich habe keine, aber ich wünschte, ich besäße einen Bruder, der mir manchmal über den Mund fahren würde und mir riete: ‚Schwester, halt‘ dich an mich, ich bin deine natürliche Stütze.‘ Ihre schmalen Grauaugen strahlten und sahen jetzt fast schön aus.

„Du, einen Bruder zu haben oder eine Schwester, das müßte schön sein. Es wären Menschen, die einem ganz nahestehen. Die solch ein Glück haben, wissen‘s oft nicht einmal zu schätzen. Geschwister zu haben muß herrlich sein!“ Ihr Gesicht schien blasser zu werden. „Ich dürfte wohl kaum einen Mann bekommen. Die meisten finden mich nett, lustig und tüchtig, aber heiraten wollen sie doch lieber eine von deinem Aussehen, schöne Christine. Sollte sich aber doch einer zu mir verlaufen, der mir auch gefiele — Herrgott, wie wollte ich ihm gut sein! Und Kinder wünschte ich mir dann, Geschwister, die sich lieben sollten von Jugend auf bis zum Tod. Das Gefühl würde ich in sie hineinlegen wie das Reis einer kräftigen, immergrünen Pflanze, das schnell grünt, wächst und Hitze und Kälte verträgt, allen Stürmen standhält und nicht umknickt, wenn ein Wetter darüber hinzieht.“

‚Schade, daß die Männer so gleichgültig an der etwas großen Gestalt Fränze Dorners vorübergingen‘, dachte Christel bewegt.

Fränze lachte leise.

„Ich habe eine eisenfeste Gesundheit, meine Kinder würden kräftig werden, ach du, ich ...“ Sie unterbrach sich. „Entschuldige Christel, ich will mich lieber bemühen, wieder normal zu werden. Und jetzt sollst du Tee mit mir trinken. Auch habe ich leckeren Fleischsalat und Würstchen, hab‘s beinah geahnt, dein Kommen.“

Sie warf eine hübsche Streumusterdecke über den Tisch und schob ein goldbraunes Glasschälchen mit weißen, kurz geschnittenen Rosen in die Mitte. Bald war der Tisch in Ordnung und beide begannen zu essen. Fränze plauderte dabei in ihrer angenehmen Art. Sie hatte wieder in die Tiefe ihres Herzens zurückgeschoben, was sich vorhin als heißer Wunsch über die Lippen gewagt.

Schließlich erzählte dann Christel von der Rückfahrkarte, und die Ältere lächelte: „Wenn der Mann wirklich die Karte verloren hat, wüßtest du nun also wahrscheinlich, wo er sich aufhält. Es gibt zwar eine Menge Möglichkeiten, daß alles nicht zu stimmen braucht, aber auch andere, die dafür sprechen. Wollen wir mal gelegentlich einen Sonntagsausflug nach dort unternehmen, wohin uns die Fahrkarte den Weg weist? Vielleicht treffen wir deinen Helden! Die Stadt ist ja nicht besonders groß, und ich könnte mir gut vorstellen, wenn man ein paar Stunden in dem Nest herumspaziert, daß er einem in den Wurf kommt. Drollig wäre das.“

Christel lächelte auch, aber mit etwas verzogenen Lippen.

„Ja, Fränze, und ganz besonders drollig male ich es mir aus, wenn ich ihm dann, möglichst angesichts seiner Mitbürger, die zugedachte Ohrfeige geben könnte.“

„Ach so ...“, machte die Freundin langgedehnt. „Daran habe ich im Augenblick gar nicht gedacht. Weißt du, da möchte ich auch nicht dabei sein. Für öffentlichen Skandal habe ich nichts übrig.“

„Ich im allgemeinen auch nicht, aber in diesem Fall kann ich mich nicht darum kümmern, ob‘s Skandal gibt oder nicht. Das mußt du doch einsehen, Fränze.“ Christel trank einen Schluck Tee, es war, als ob er sofort etwas beruhigend auf sie wirkte. Sie milderte, was sie eben geäußert. „Vielleicht begegne ich ihm an einer etwas entlegenen Stelle, wo sieh gerade niemand in der Nähe befindet und für ihn das Peinliche, Zeugen seiner beschämenden Lage zu haben, wegfällt. Die Hauptsache ist, ich muß mich rächen, weil ich das, was ich mir vorgenommen habe, auch halten muß.“

Fränze zuckte verstimmt die Achseln.

„Ich habe den Sonntagsausflug zwar selbst vorgeschlagen, aber ich ziehe meinen Vorschlag zurück, denn ich kann mich wirklich nicht dafür begeistern, mit dir durch eine fremde Stadt auf den Kriegspfad zu gehen und abzuwarten, wie du den armen Sünder verdreschen willst.“ Sie lachte hellauf. „Möglicherweise haut er sogar wieder und die Szene würde dann komisch werden.“

Christel blickte sie empört an.

„Du willst die Sache, die sogar meine Stel’ung gekostet hat, heute durchaus als komisch und nebensächlich hinstellen, und ich werde mir keine Mühe geben, deine Ansicht darüber zu ändern. Jedenfalls hoffe ich nun, darüber im Bilde zu sein, wo sich dein Freund wahrscheinlich aufhält.“

„Mein Freund ...!“ äffte ihr Fränze vergnügt nach. „Das ist wirklich ein ganz famoser Witz, den du dir eben geleistet hast. Mich hat er doch nicht abgeknutscht, schöne Christine! Wenn ich ihm an deiner Stelle bei Dr. Wendeck entgegengetreten wäre, hättest du mal sehen sollen, wie der sich zu beherrschen verstanden hätte. Noch dazu ohne die geringste Anstrengung.“ Die breiten Flügel ihrer kurzen, aber etwas zu kräftig geformten Nase bewegten sich leicht. „Du solltest alle Rachegedanken begraben und dich über den Kuß freuen, Christel. Er beweist doch, daß du einem Mann auf der Stelle den Kopf dermaßen verdreht hast, daß er völlig vergaß, was sich gehört.“ Sie sah Christel aufmerksam an. „Ihr Mund sieht noch so ungeküßt aus, Schwester!“ Sie strich mit den Fingerspitzen der Rechten liebkosend über die weißen Rosen in der flachen Glasschale, die wie aus einem großen Goldtopas herausgeformt war und die doch nur zwei Mark gekostet hatte. „Es klingt wunderhübsch, was der fremde Mann zu dir gesagt hat. Daß er dich ‚Schwester‘ genannt hat, ist ja weiter nichts Besonderes. Das glatt zurückgestrichene Haar, das die meisten Zahnärzte ihren Helferinnen zur Bedingung machen, dazu der alles verhüllende weiße Kittel reizen förmlich zu dieser Anrede, und daß er behauptet, dein Mund sähe noch so ungeküßt aus, finde ich tatsächlich richtig. Deine Schnute hat so eigene weiche Linien, wie man sie meist nur bei Kindern findet. Der Mann hat mit seiner Feststellung den Nagel auf den Kopf getroffen.“

Christel fand es plötzlich sehr heiß im Zimmer. Oder war der Tee so stark, heizte er ihr plötzlich so gründlich ein, daß ihre Wangen zu brennen begannen? Sie bat: „Wollen endlich von dem Thema aufhören, Fränze, ich ärgere mich nur immer wieder aufs neue dabei.“

Die Freundin blinzelte schlau, aber sie erwiderte nichts. Wozu auch? Sie war überzeugt, so mit einem Male ließ sich ein unvernünftiger Mensch kaum in einen vernünftigen verwandeln. Dabei mußte die Zeit helfen. Und der Fremde hatte Christel gefallen, er ging ihr nicht aus dem Kopf. Wenn sie ihn aber wirklich wiedersähe, was trotz der vielleicht einen Fingerzeig gebenden Rückfahrkarte ziemlich unsicher war, würde sie vor Verblüffung sicher an alles andere eher denken als an die dem Sünder zugedachte Ohrfeige. Also Schluß mit dem Thema. Es gab noch eine Menge anderer Gesprächsstoffe. Während sie weiteraßen, denn auch Christels Appetit hatte nicht gelitten — gesunden jungen Menschen schmeckt‘s und soll es schmecken, auch wenn sie Kummer haben —, erzählte Fränze begeistert von dem Geschäft nicht weit von der Gedächtniskirche, dessen erste Kraft sie war. Fränze konnte vom Morgen bis zum Abend von Blumen sprechen und behauptete jetzt:

„Wenn‘s keine Blumen gäbe, wäre das Leben stumpf und matt. Sie bringen eigentlich erst die richtige Freude ins Dasein. Ein Blütenstrauß macht die ärmste Stube licht und schön.“ Sie nahm die Schale mit den Rosen vom Tisch, stellte sie auf einen Stuhl, daß man sie nicht mehr sah. „Schau nur, wie unfreundlich das Bild gleich geworden ist, und wie einladend war es noch eben. Jetzt ist die Stimmung, die vor Sekunden noch über allem gelegen, jäh zerrissen, nur weil die paar Rosen fehlen. Ich bringe mir abends oft einige Blumen mit, es schmeckt mir besser, wenn sie außer den Tellern auf dem Tisch stehen.“ Sie schob die Schale an ihren Platz zurück. Ihr dichtes, etwas strähniges Blondhaar war im Nacken zu einem kleinen Knoten aufgesteckt. Während sie lebhaft sprach, waren ein paar Nadeln herausgefallen und das bis etwas über die Schultern reichende Haar legte sich lose um ihren Kopf, der — kraftvoll in der Form mit dem kurzen offenen Haar — einem fahrenden Schüler des Mittelalters hätte gehören können. Fränze wechselte schon wieder das Thema.

„Deiner alten Dame wird die Fahrt in die Vierlande guttun, wenn auch der Anlaß dazu ein sehr trauriger ist. Sie hat ihren Mann sehr lieb gehabt und seinetwegen alles aufgegeben, was sie daheim als Tochter einer gediegenen Bauernfamilie hätte haben können. Hoffentlich nimmt man sie freundlich auf. Ich wünsche es ihr von Herzen.“ Sie fragte: „Wer lebt denn jetzt auf dem Schattenhof? Ich meine, wer ist der Besitzer?“

Christel antwortete: „Großchens Bruder war es wohl bis zuletzt, denn seine beiden Söhne hat ihm der Krieg genommen. Aber es ist ein Enkel da, der wohl auch schon verheiratet ist. Er heißt Jens Wobbe und muß so ’ne Art studierter Mann und sehr tüchtig sein. Er war auf einer landwirtschaftlichen Schule. Auf einer der seltenen Karten von Großchens Bruder hat das mal gestanden.“

Fränze blickte nachdenklich.

„Ich kann mir vorstellen, was für eine Art von Bauer er ist. Ich war einmal eingeladen von Bekannten, die nahmen mich mit auf einen großen Hof in der Kurmark. Der lag weitab von den Städten, und die Leute lebten doch so zufrieden auf ihrem Besitz, daß es eine wahre Freude bedeutete, ein paar Tage bei ihnen sein zu dürfen. In den uralten Stühlen ließ es sich behaglich plaudern, während der Tisch vor uns reich gedeckt war. Es gab dort Radio und Fernsprecher, dazu zwei bequeme Autos, und das Arbeitszimmer des Bauern besaß eine kleine Bibliothek, außerdem alles, was ein Büro braucht. Der Bauer wußte auch viel von der Welt draußen, über alles konnte er mitreden, aber wenn er von seinem Hof sprach, war es doch, als ob seine hohen Stiefel sowie die kurze Joppe und die bequeme Mütze betonen wollten: ‚Wir gehören einem Bauern — in ihm sitzt Tradition und Bauernkraft. Seht seine Hände an, die wissen wohl noch besser anzufassen als sein fleißigster Knecht‘.“ Sie lächelte: „Der Bauer von heute, einer der neuen Generation, braucht durchaus kein Mensch zu sein, der nichts weiter sieht und sehen will als nur sein Stück Erde. Und doch liebt er es inbrünstig, wenn er auch weiß, daß der Horizont über seinem Heimatfleck noch lange nicht zu Ende ist und daß er sich weiter über ganz Deutschland spannt und dann noch weiter, über die riesengroße Welt. Ich habe damals die Bäuerin auf dem Hof beneidet. Wie eine Fürstin kam sie mir vor, wenn sie am Sonntag neben ihrem Mann in die Kirche ging, im schwarzseidenen Kleid und Urgroßmutters schwerem Goldschmuck, und ich habe sie wochentags beneidet, wenn sie förmlich in Arbeit untertauchte, den Mägden im Stall beim Melken half oder beim Viehfüttern und wenn sie die Eier zählte oder wenn sie, ihren kleinen Sohn an der Hand, abends mit uns noch ins Feld ging und so stolz mit einer einzigen Bewegung anzeigte: Dort drüben am Wald hört erst unser Besitz auf.“ Fränze schwieg. Abschließend fuhr sie versonnen fort: „In den Vierlanden, wo deine Großmutter herstammt, muß es sehr schön sein. Ich hab‘ darüber gehört und gelesen.“

Christine nickte. „Großchen sprach manchmal davon und ich weiß etwas Bescheid. Viele, viele Blumen blühen in den Vierlanden und Obst gibt’s in Hülle und Fülle, und bei jedem Wetter wird draußen geschafft, ob Sonnenschein lacht oder graue Wolken die Landschaft verdüstern. In den Häusern aber riecht es so wunderlich nach Torfrauch, und die Menschen reden sich alle mit dem vertrauten Du an.“

Sie schwiegen beide, und es dünkte Christine mit einemmal alles töricht, was sie vorhin von ihrer Rache geredet. Aber als sie dann mit der Straßenbahn heimfuhr, erwachten alle die Gedanken wieder in ihr, die sich um den Fremden bewegten, der ihr so übel mitgespielt. Am nächsten Sonntag wollte sie — auch ohne Fränze — die Stadt besuchen, deren Name auf der Rückfahrkarte stand. Warum sollte sie das nicht tun, es drängte sie doch förmlich dazu.

Christel stellt was an

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