Читать книгу Der Fluch des Nazigoldes - Anselm Weiser - Страница 6

1. Die Sehnsucht nach dem ersten Ich

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Ewald Rudloff sah viel älter aus, als er sein wollte. Er hatte Probleme mit sich und seiner Welt. Seine vor über fünfzig Jahren spontan zugelegte zweite Identität zehrte stark an seinen Nerven. Bis zum Kriegsende, zum Ende seiner nationalsozialistischen Karriere, hieß er Dr. Franz Stielhammer.

Seine Veranlagung, die zerrütteten Verhältnisse in der Familie und der starke Vater, prägten seine Persönlichkeit nachhaltend negativ. Er flüchtete vor sich selbst. Beeinflusst durch seinen nationalsozialistischen Vater und seiner eigenen Machtbesessenheit, entwickelte er sich später zu einem Tyrannen.

Sein Vater vernachlässigte seine Mutter und ihn während seiner Kindheit. Als seine Mutter erneut heiratete, tritt ein neuer Vater in sein Leben. Als der leibliche Vater seine Freundschaft zu einem jüdischen Schulfreund bemerkte, steckte er ihn in eine nationalpolitische Erziehungsanstalt, NAPOLA genannt. Hier ordnete der junge Franz seine homosexuellen Neigungen und Gefühle der NS-Weltanschauung unter. Von seinem Vater getrieben, machte er nach der Ausbildung Karriere bei der SS. Seine unterdrückte Homosexualität, die es bei den Nazis nicht geben durfte, wandelte er in Gefühlskälte und militärische Härte um. Seine Untergebenen hatten später darunter zu leiden. Das zum Kriegsende erworbene Wissen führte ihn zu einem »zweiten Ich« und einem großen Vermögen. Sein Leben blieb dennoch voller Leere und Einsamkeit. Niemand fragte den reichen Finanzier Dr. Ewald Rudloff nach der Herkunft seines Vermögens.

Es knallte wie ein Schuss, als Dr. Ewald Rudloff die Haustür seiner Villa auf dem Bruderholz in Basel hinter sich zuschlug. Mit diesem Geräusch wollte er Aufmerksamkeit erzielen und sich Gehör verschaffen, wie früher. Eine Möglichkeit aufgestaute Aggressionen abzubauen.

Er hatte Grund sich über sich zu ärgern. In solchen Fällen zog er sich in sein Refugium zurück. Einen großen Raum im Keller seiner Villa in Basel, den nur er kannte. Ein gediegen eingerichteter Pistolenschießstand mit einer Gemäldegalerie nebenan.

Dr. Rudloff war ein passionierter Pistolenschütze, der es fertig brachte, mit einigen Schüssen aus einer seiner Handfeuerwaffen Stimmungen zu verändern und sich zu erleichtern, um sich so zu entspannen. Er hasste seine Namen Ewald und Rudloff, die er sich als junger Mann zulegen musste. Sie zwangen ihn in eine Rolle, die ihm nicht passte und ihn psychisch und im Alter auch physisch überforderte. Er wollte mit Herr Doktor angesprochen werden. Ewald Rudloff hatte das Jurastudium wegen seines Identitätswechsels zweimal absolvieren müssen. Im übrigen wollte er, wie es Prominente tun, mit seinen Anfangsbuchstaben E. R. genannt werden.

Der Grund seiner heutigen Unzufriedenheit war ein banaler. Er hatte sich während einer belanglosen Besprechung mit dem Bauunternehmer Ralf Steiner und anderen Handwerkern über einen ausgesprochenen Fluch geärgert. Diesen hatte er aus seinem Wortschatz gestrichen und vergessen. Himmelzwirn! In seinem ersten Ich als Franz Stielhammer hatte er als junger Offizier in Deutschland diesen harmlosen Halbfluch häufig gebraucht. Das Wort Arsch mittendrin erschien ihm unter seiner Würde. Dieser Ausspruch hatte ihm bis zum bitteren Ende seiner stolzen Dienstzeit den Spitznamen Himmelzwirn eingetragen. Dieses Schimpfwort, das dem Grad seiner Unbeliebtheit entsprach, verfolgte ihn bis zum Ende seiner ersten Identität.

E. R. genoss es, sich an seine ursprüngliche Identität zu erinnern. Er glaubte, dass Franz Stielhammer, der er mal war, sein besseres Ich war. Diesen bewunderte und beneidete er. Die Erinnerungen waren Phasen der Unzufriedenheit, nicht jener zu sein, der er gern wäre. Er sah sich als schneidigen Offizier der Waffen-SS, als den jüngsten im Majorsrang, den es je gegeben hatte. Wäre der Krieg anders ausgegangen, hätte ihm eine glänzende Karriere bevorgestanden - glaubte er.

Meisterhaft verstand er es, die dunklen Punkte seiner Vergangenheit als kriegsbedingt und als Pflichterfüllung auszuklammern. Das Versteckspiel hinter der Maske seines um acht Jahre jüngeren Bruders nervte ihn. Dieses Anders- und Jüngerseinmüssen, das Angsthaben vor der Entdeckung seiner wahren Identität, hatte ihn seit dem Wechsel zu seinem neuen Ich im Jahre 1945 bedrückt. Es war schwer zu ertragen. In diesem zweiten Ich, das ihm nicht entsprach, war er unglücklich.

Häufig hatte er den Wunsch verspürt, alles hinzuwerfen, nach Amerika oder anderswo hinzugehen, um ein drittes Leben zu beginnen. Geld hätte er genug gehabt. Warum hatte er es nicht getan? Jetzt, mit gespielten siebzig und tatsächlichen achtundsiebzig Jahren, war es zu spät.

E. R. kam auf sein heutiges Problem zurück. Vielleicht wäre es ihm nicht bewusst geworden, wenn er das Erstaunen des teilnehmenden Steiner nicht bemerkt hätte. Als sich ihre Blicke trafen, hatte sich dessen Mienenspiel schnell in ein verlegenes und aufgesetztes Lächeln verwandelt. Warum hatte der gestutzt bei diesem harmlosen Fluch? So, als ob er ihn an irgendetwas erinnerte. »Wer ist dieser Steiner, zu dem ich seit Jahren ein zwiespältiges Verhältnis habe« flüsterte er vor sich hin. »Er ist der Liebhaber meiner Frau, den ich insgeheim hasse, obwohl mir das egal sein könnte. Es ist aber nicht so, weil er weiß, dass ich nichts gegen ihn tun kann. Dem ich Bauaufträge erteile, weil ich mir aus seinem schlechten Gewissen wegen der Liaison mit Vera Preisvorteile verspreche, mich kaufen lasse, warum?«

E. R. verspürte einen gewissen Reiz darin, Vera, die er viel mehr hasste als diesen Steiner, herabzusetzen, weil er sie billig abgab. Sie hatte ihn mit Worten erniedrigt und er glaubte nun, sie wie eine Hure verleihen zu können, um damit ihren Stolz zu treffen. Dass bei beiden Liebe im Spiel sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn.

Wer war dieser Ralf Steiner wirklich? Es konnte nicht schwer sein, seine Vergangenheit zu durchleuchten und dunkle Punkte in seinem Leben zu finden. E. R. spürte, dass dieses Thema für ihn noch nicht abgeschlossen war. Er holte sich aus dem Waffenschrank eine Pistole. Er empfand sie für seine augenblickliche Stimmung als zu leicht und legte sie in den Schrank zurück. Er entnahm einen schwereren Revolver und die Munition dafür. Nachdem er die Waffe geladen hatte - er liebte dieses Ritual - gab er drei Schüsse auf eine an der Rückwand befestigten Scheibe ab. Mit Befriedigung stellte er die gute Trefferquote fest.

Er setzte sich in einen der gemütlichen Lehnsessel oder Fauteuils, wie er sie nannte. Er begann jetzt wesentlich entspannter zu überlegen. War es möglich, dass Steiner durch diese unbedachte Äußerung, dieses blöde Himmelzwirn, Verdacht geschöpft hatte? Und das nach mehr als fünfzig Jahren, seit dem Identitätswechsel von Franz Stielhammer zu Ewald Rudloff? Hatte er mit Vera darüber gesprochen und sie, die von seiner Vergangenheit nicht die leiseste Ahnung hatte, ausgefragt und verunsichert?

Das halbe Jahrhundert als E. R. sollte genügt haben, um sich in die Person seines toten Bruders zu verwandeln. Er war nun einmal Ewald Rudloff, wenn auch ungern. Er konnte sich den kompletten Fluch nicht verkneifen. Himmel, Arsch und Zwirn! Niemand würde etwas anderes beweisen können. Seine ursprüngliche Identität, sein erstes Ich, kannte nur er, und kein Mensch könnte sie aufdecken. E. R. glaubte, ausreichend vorgesorgt zu haben.

Unlängst hatte Vera ihn gefragt: »Wer bist du eigentlich, Ewald?« Wenn er es ihr hätte an den Kopf werfen können, ihr, der Erfolgreichen, der Großrätin. Ihr, die trotz ihrer siebenundfünfzig Jahre noch schön und begehrenswert war und das Leben und die Liebe genoss. Gegen sie hatte er den Kampf der Geschlechter längst verloren.

Je mehr er sich seine Schwäche eingestand und seine Unterlegenheit fühlte, desto mehr flüchtete er in Erinnerungen. In seine große Zeit, in Vorstellungen, was er alles hätte erreichen können, wenn er nur .... Es drängte ihn nun, noch einen Schuss abzugeben. Er verfehlte die Scheibe, was ihn nicht weiter störte. Nur der Schuss war ihm diesmal wichtig, nicht das Treffen.

Obwohl das Verhältnis zu seinem Sohn Richard abgekühlt war, war er mit seiner Stellung in der Baseler Gesellschaft für ihn der Einzige, worauf er stolz war. In dieser Gesellschaft, an die er sich nie anpassen konnte, war Richard Anwalt, Notar und Major a. D. der Schweizer Armee. Was war das schon, tröstete er sich. Er hatte als Dr. Stielhammer jun. diesen Rang bereits mit zweiundzwanzig Jahren erreicht. Dass er das seinem Vater, dem SS-Oberstgruppenführer und Generaloberst im Reichssicherheitshauptamt Dr. Heinrich Stielhammer zu verdanken hatte, wollte er sich nicht eingestehen.

E. R. ließ den Film seiner Erinnerungen weiter ablaufen. Dieser Vater, sein leiblicher, nicht jener Alois Rudloff, dessen Familiennamen er jetzt trug, war Oberleutnant und hoch dekoriert. Schwer verwundet war er Ende 1917 aus dem Krieg heimgekehrt und schwängerte eine der ihn pflegenden Krankenschwestern. Im Frühjahr 1919 gebar sie ihm den Sohn Franz. Er heiratete sie. Das war die Ehrenpflicht eines deutschen Offiziers. Dass er noch Pflege benötigte, sah er nicht ein. Kaum genesen, war er zu Hause ein seltener Gast. Die liebevolle Aufmerksamkeit der Mutter vermochte die dauernde Abwesenheit des Vaters nicht ersetzen.

Der einstige Kriegsheld konnte und wollte sich den Gegebenheiten der Nachkriegszeit nicht beugen. Er konnte die Schmach von Versailles nicht überwinden. Er empfand jede ihm angebotene Stelle in Anwaltsbüros oder in der Wirtschaft unter seiner Würde. Er schloss sich zunächst der Organisation Stahlhelm und später der aus der SA hervorgegangenen Schutzstaffel SS an. Die Entfremdung von Frau und Kind war damit vorprogrammiert. Er verließ die kleine Familie 1926, um sich ganz der Parteiarbeit, dem Kampf gegen die Roten, Juden und Kriegsgewinner, wie es damals hieß, zu widmen. Nebenbei gab er sich wechselnden Liebesabenteuern hin.

Die vaterländischen Pflichten des Dr. H. Stielhammer, denen er seine ganze Zeit, Kraft und Intelligenz, vor allem für die Karriere in der NSDAP, widmete, ließen ihn die Zahlung des Pflegegeldes vergessen. Das führte zu einer ärmlichen Lebensführung der beiden Verlassenen und überschattete Franz Kindheit. Das Idealbild des Vaters mit seiner schwarzen Uniform und dem markanten Auftreten imponierte dem Kleinen und machte ihm gleichzeitig Angst. Er bewunderte, liebte und fürchtete ihn. Die Gespräche bei Kurzbesuchen waren einseitig, nur Parolen: »Die Demokratie funktioniert nicht, die Roten müssen vernichtet werden, die Juden sind an allem schuld, Hitler führt uns zum Sieg usw.« Die Mutter schwieg, Franz lauschte gebannt den Tiraden.

Die Scheidung erfolgte noch im gleichen Jahr. Ein Jahr später heiratete Franz Mutter den Postbeamten Alois Rudloff, einen unzeitgemäßen und stillen Mann, der sich jeglichen Äußerungen über Politik enthielt. Er war in allem das genaue Gegenteil von Franz Vater. Er war häuslich, liebevoll und zurückhaltend. Trotz großer Bemühungen gelang es ihm nicht Franz Anerkennung zu gewinnen.

Im Herbst 1927 bekam die neue Familie Nachwuchs, einen Jungen, der auf den Namen Ewald getauft wurde. Aus unerfindlichen Gründen hasste Franz diesen Halbbruder vom ersten Tag an. »Was für ein Wunder, wenn ich mich nicht leiden kann« murmelte E. R. leise vor sich hin, »wer bin ich nun wirklich?« So unberechtigt erschien ihm die Frage, die Vera ihm gestellt hatte, plötzlich nicht. Er hatte sich in eine schmerzlich, nostalgische Stimmung hineinversetzt und begann sich zu bedauern.

Um sein zweites Ich von seinem ersten Ich auseinanderzuhalten, versuchte er das erste konsequent mit Franz oder Stielhammer zu betiteln und diesen als eine andere Person zu empfinden. Er schaltete das Deckenlicht und später die Stehlampe aus. Das Licht störte ihn. Jetzt brannten noch die drei kleinen Spots, die die Zielscheiben beleuchteten.

Was hatte ihn bewegt in seinen beiden Leben, in dem als Franz Stielhammer und als Ewald Rudloff oder besser als E. R? Idealismus, Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit? Er musste einsehen, das war es nicht. Nur Opportunismus? Streben nach Macht und Reichtum - dem Tanz um das goldene Kalb? Er verdrängte wie oft eine Antwort auf diese Frage. Er ahnte, dass diese negativ ausfallen würde. Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und..., von flink konnte keine Rede mehr sein. Das waren seine Lebensmaximen. Sie waren es nur dort, wo es zu nichts Gutem, manchmal zu Schrecklichem, führte. Gewissensbisse? Unsinn! Am liebsten hätte er mit einem Scheiß drauf diesen ganzen Gedankenlauf unterbrochen. Wie unter Zwang setzte er ihn aber fort.

Liebe, was war das? Hatte er seine Mutter geliebt? Irgendwie schon! Sie war die einzige Frau, für die er so etwas wie Liebe empfinden konnte. Männern gegenüber durfte ein solches Gefühl nicht entstehen, oder doch? Damals, als er noch Franz war, jedenfalls nicht.

E. R. versuchte diese schmerzliche Erinnerung an seine erste Liebe zu verdrängen, die ein böses Ende nahm. Zeitweise war ihm - nein Franz – so etwas wie Liebe gelungen. Das damals brennende und beglückende Gefühl passte nicht in das ihm aufgezwungene Weltbild.

Er glaubt, heute noch die harte Hand des geliebten Vaters zu spüren. Dieser hätte ihn damals wegen dieser Obszönität und Rassenschande am liebsten erschlagen.

E. R. fühlte eine Welle des Hasses in sich aufsteigen, ein Gefühl, das er brauchte, um damit alles andere zu überdecken. Liebe? Sein Leben wäre glücklicher gewesen, wenn er sie hätte empfinden können. Das konnte er nie, außer eben der zu Leo damals, als er zwölf war. Die Erinnerung daran, die er verdrängt hatte, die ihn immer wieder einholte und derer er sich jahrzehntelang schämte. Das Wissen um seine ihm aufgezwungene Moral und seine verachtenswerte Neigung waren die Gründe seiner inneren Zerrissenheit. Warum hatte er diese nicht mit seinem ersten Ich, mit Franz, abstreifen können?

Franz war damals dreizehn Jahre und in der dritten Klasse des Gymnasiums. Der Einfluss des Vaters, der mit seiner drängenden Arbeit für die Machtergreifung der NSDAP beschäftigt war, war nicht groß. Er kümmerte sich wenig um seinen Sohn. Dem in die Pubertät gelangenden Knaben hatte sich eine Verliebtheit zu seinem Klassenkameraden Leo Goldberg entwickelt. Dass dieser Jude war, tat dem Anfall jugendlicher Sexualität keinen Abbruch. E. R. hatte sich später diese starke Zuneigung damit erklärt, dass Leo zart wirkte und ein schöner Junge war, wie ein Mädchen. Franz Neigung war somit verständlich. Homosexuell? Nein, das war Franz nicht. E. R. mochte sich diese Perversion, wie er die Empfindung nannte, die er ein Leben lang verleugnete und unterdrückte, auch heute nicht eingestehen.

Franz und Leo schlossen Freundschaft, spielten Schach, machten Wanderungen und verfassten sich gegenseitig anfeuernde, erste unbeholfene Gedichte. Es kam zu keinerlei sexuellen Handlungen oder andeutenden Berührungen. Schon die Nähe des Freundes, die er in den Pausen oder beim Turnen suchte, beglückte Franz. Da Leo sich keinerlei ähnliche Empfindungen anmerken ließ, hielt Franz seine weitergehenden Sehnsüchte zurück, um den Freund nicht zu verlieren.

Zur Bestürzung der Mutter und des Stiefvaters erschien eines Tages unerwartet der schon vergessene Vater. In schwarzer Uniform versteht sich, um sich über die richtige Erziehung seines Sohnes ein Bild zu machen. In Franz brach die vergessene Bewunderung für seinen Vater spontan wieder auf. Mit bewundernden Blicken hing er an dessen imponierender und martialischer Gestalt. Dieser war mit dem Erfahrenen nicht zufrieden. Er wollte schon mit »das wird anders, heil Hitler!« die Wohnung verlassen, als es läutete und Leo in der Türe erschien. Als Dr. Stielhammer den verblüfften Jungen sah, der am liebsten weggelaufen wäre, kam es zur Katastrophe. Er fuhr ihn mit der Frage an: »Was willst du hier und wie heißt du?«

Franz spürte augenblicklich die Brisanz der Situation und antwortete trotz des Würgens im Hals für den Freund. »Das ist mein Schulfreund Leo.«

Der Vater schien etwas zu ahnen, und er fragte mit einer Schärfe, die nichts Gutes ahnen ließ: »Leo - und wie noch?« Als der völlig verängstigte Leo ein kaum hörbares

»Goldberg« hervorbrachte, war es mit der Beherrschung Stielhammers vorbei. Franz, vor Schreck wie gelähmt, fürchtete, dass sein Vater zuschlagen würde, was dieser nicht tat. Dafür rief er zornentbrannt aus: »Verschwinde, du Judenbengel, sonst schlag ich dich tot. Lass dich hier nie wieder blicken!«

Der arme Leo lief völlig verstört davon. Dr. Stielhammer wandte sich jetzt wutentbrannt dem verängstigten Franz zu. Er musste sich im Zaume halten, um nicht zuzuschlagen und um sich zur Ruhe zu zwingen. Mit Eiseskälte in der Stimme sagte er: »Schämst du dich nicht, mit diesem Saukerl zu verkehren? Du weißt doch, dass er Jude ist. Das wird sich jetzt ändern, darauf kannst du dich verlassen.«

Den Rudloffs zugewandt, die der ganzen Szene entsetzt und schweigend beigewohnt hatten, brüllte er: »Wie könnt ihr so etwas dulden? Ich werde dafür sorgen, dass euch das Sorgerecht für meinen Sohn entzogen wird.« Dann verließ der Wütende die Wohnung, nicht ohne beim Verlassen noch ein heil Hitler gebrüllt zu haben.

Franz war aufgelöst und weinte. Die Mutter versuchte vergeblich ihn zu trösten. Er hatte das Gefühl, allein gelassen zu sein und alle Welt hassen zu müssen. Seinen Vater, weil der ihm den Freund genommen hatte, seine Mutter, weil sie ihn nicht schützen konnte und Leo, weil er jemand war, den er nicht lieben durfte. Mit diesem Geschehnis zerbrach in Franz Stielhammer etwas Unwiederbringliches. Die Fähigkeit zu lieben.

Wenige Tage später, Franz hatte den Schock noch nicht überwunden, brachte ihn der Vater, der im Schnellverfahren das Erziehungsrecht für seinen Sohn erhielt, in ein Internat in Potsdam. An seinem vierzehnten Geburtstag wurde er an die NAPOLA, eine ationalpolitische Erziehungsanstalt, auf der Marienburg überstellt. Franz merkte bald, dass die strenge Zucht und Ordnung nicht seinen Neigungen entsprach. Er bemühte sich nicht unangenehm aufzufallen oder als Schwächling erkannt zu werden. Der Name des Vaters, der inzwischen als alter Kämpfer und als brillanter Jurist mit Einfluss in den Führungsstab Himmlers aufgestiegen war, war ihm Verpflichtung genug. Sie brachte ihm auch Vorteile.

Er lernte schnell Schwächen durch gespielte Härte zu überspielen. Er erlaubte sich im Laufe der Zeit eine gewisse Arroganz gegenüber den Kameraden, die keine gute Rückendeckung hatten. Die Verbindung zur Mutter war abgebrochen. Seinen Halbbruder Ewald, der in ihrer Obhut aufwuchs, hasste er mehr den je. In den seltenen Briefen seines Vaters erhielt Franz Verhaltensratschläge.

»Jetzt zeig, dass Du ein ganzer Kerl bist, ein echter Stielhammer! Wenn Du diese Eliteschule beendet haben wirst, gehörst Du geistig und körperlich zu den Besten der Nation. Dann stehen Dir alle Wege offen! Ich will Dich einmal ganz oben sehen und stolz auf Dich und den Namen Stielhammer sein können!« Das großgeschriebene Du, Dir und Dich empfand Franz als außerordentliche Anerkennung.

E. R. erhob sich aus dem Fauteuil und murmelte. »Ja, - wenn - wenn ...!« Es war Zeit, ein paar Schüsse abzufeuern. Er lud die Trommel seines Revolvers nach und feuerte sie leer. Wie gut das tat! Dann setzte er sich hin und begann weiter zu grübeln.

Die Jahre auf der NAPOLA hatte Franz damals für die unangenehmsten seines Lebens gehalten. Jetzt als E. R. gedachte er ihrer mit einer gewissen Wehmut. Sie waren sorglos gewesen und noch reinen Gewissens.

»Was soll das jetzt heißen, verdammt« fuhr E. R. sich selbst an. Sollten ihn auf seine alten Tage Gewissensbisse belasten? Für Dinge, die auf dem Weg nach oben notwendig waren. Sie waren als Pflichterfüllung zu werten! Man konnte aber auch - und darin hatte er Übung - die unangenehmen Erinnerungen weglassen.

Mit den Wölfen heulen konnte man Franz Tun in jener Zeit nennen. Was man zu denken hatte, wurde einem eingetrichtert. Eigene Gedanken, die er sich trotzdem erlaubte, behielt er für sich. Die Begeisterung vieler seiner Kameraden und das Glänzen in ihren Augen, wenn sie vom Führer sprachen, vom Tausendjährigen Reich, vom Heldentum und Opferbereitschaft, konnte er nicht nachvollziehen. Er spielte mit. Freundschaft oder Liebe waren ihm fremd geworden, ausgelöscht, er kannte sie nicht mehr und wollte sie nicht kennen.

Im Jahre 1936, den Zwängen der NAPOLA entkommen, begann er auf Wunsch seines Vaters ein Jurastudium in Berlin. Sein Vater begann sich wieder um ihn zu kümmern. Es war das Jahr der Olympiade, einer allgemeinen Hochstimmung mit wirtschaftlichen und politischen Erfolgen im erstarkenden Deutschland. Die großartig erscheinenden Ereignisse beeindruckten Franz trotz seiner Gemütskälte. Die zur Schau getragene Großspurigkeit der neuen Führungsschicht, zu der er sich als Sohn von Dr. Heinrich Stielhammer zählen durfte, lag auf seiner Linie.

Dass er neben seinem Studium, das er bravourös bewältigte, als aktives Mitglied der SS wirkte, war für ihn selbstverständlich. Dass es zwischen dem Recht, das er erlernte und seinem Tun unüberbrückbare Gegensätze gab, verdrängte er geflissentlich. Bedauern über das unmenschliche und ungesetzliche Vorgehen gegen Juden, Linke und andere Volksschädlinge gelang ihm nicht. Es waren, so empfand er es damals als Franz und heute noch als E. R., notwendige Säuberungen. Sie waren es nicht wert, das eigene Gewissen damit zu belasten. Mitleid war als Schwäche einzustufen, dass hatte er gelernt.

Als junger Untersturmführer und Leutnant erhielt Franz im März 1938 den ehrenvollen Auftrag, eine Eskorte zur persönlichen Bewachung des Führers beim Einmarsch in Österreich zu begleiten. In ihren schwarzen Uniformen fielen die ausgesuchten Männer in den Straßen Wiens nicht nur auf, sie wurden auch bestaunt und bejubelt.

E. R. erinnerte sich mit Stolz an diese Monate in der begeisterten Donaustadt. Weniger Freude bereitete ihm die Erinnerung an den missglückten Versuch, sich die schöne Jüdin aus dem Buchladen in der Rotenturmstrasse sexuell gefügig zu machen. Später erfuhr er, dass sein Vater Dr. Stielhammer als brillanter Jurist 1938 im Führungsstab Hitlers an der Verordnung für die Anmeldung des Vermögens von Juden für die Arisierung in Österreich mitgewirkt hatte. Diese Verordnung überzeugte so sehr, dass sie später auch für das Reichsgebiet übernommen wurde.

Im Jahre 1940, wenige Monate nach dem Überfall Deutschlands auf Polen, mit dem der zweite Weltkrieg begann, beendete Franz sein Studium. Inzwischen hatte Himmler die Waffen-SS gegründet. Er trat auf Wunsch des Vaters im Rang eines Obersturmführers und Oberleutnant, den er schon in der SS bekleidet hatte, dieser neuen elitären Truppe bei. Eigenschaften wie Körpergröße und Aussehen waren Voraussetzung für die Aufnahme.

Als erste Aufgabe übernahm er die Indienststellung eines Kompaniechefs in einem Ersatzregiment in Krakau. Die jungen Rekruten waren ausschließlich Volksdeutsche, Holländer, Belgier, Flamen, Skandinavier und andere, die als sogenannte Freiwillige rekrutiert wurden. Vielen von ihnen, die aus der Geborgenheit ihrer Familien ausgebrochen waren, entsprach das Soldatenleben im fremden Land nicht ihren Vorstellungen. Eingerichtete Freudenhäuser sollten den Neuankömmlingen die Ankunft erleichtern. Für viele war das ein Schock.

Obersturmführer Franz Stielhammer hätte bessere Angebote nutzen können. Er stellte jedoch fest, dass seine Bedürfnisse in dieser Hinsicht bescheiden waren. Seine bisherigen Erfahrungen in Sachen Liebe waren für ihn wenig erfreulich. Statt Zärtlichkeit war für ihn das Beherrschen und das Dominieren wichtig.

Als im Sommer 1941 der Wahnsinn des Russlandfeldzuges begann, wurde Stielhammer mit dem Kommando über eine Flakbatterie betraut. Inzwischen war er zum Hauptsturmführer befördert worden. Auch hier hatte der Einfluss des Vaters mitgespielt. Dieser wusste aus eigener Erfahrung, dass die Überlebenschancen bei der Artillerie größer waren. Mit seiner übertriebenen Zackigkeit und mit Parolen wie, in einem Monat sind wir in Moskau und seinem Halbfluch Himmelzwirn machte er sich lächerlich.

Die Erinnerung an die ersten Monate des zunächst siegreichen Vorstoßens, der durch Lieder wie, ... es ziehen nach Osten die Heere ins russische Land hinein ..., zusätzlich angeheizt wurden, erfüllten E. R., der sich in solchen Momenten in Stielhammer zurückverwandelte, mit Begeisterung. Der anfängliche Siegestaumel war schnell verflogen. Je weiter die Jahreszeit fortschritt, desto schwieriger wurde das Vordringen in den Weiten Russlands. Mit jedem Kilometer und jedem Tag schwanden die Kräfte. Die Toten am Weg beeindruckten ihn nur, weil sie ihn an die eigenen Gefahren erinnerten. Das Leben anderer galt ihm nicht viel.

E. R. fühlte Wut in sich aufsteigen und drehte sich in Richtung Zielscheibe. Legte den noch in seiner Hand liegenden Revolver an und drückte ab, was nur ein Klicken des Hahnes bewirkte. Auch dieses Geräusch schien ihn zu befriedigen, er ließ es mehrmals ertönen. Mit einem laut ausgesprochenen »Scheiße« ließ er den Fluss seiner Erinnerungen weiterlaufen.

Die Kämpfe durch die unendlichen Weiten, der knietiefe Schlamm und später die Schneemassen und die Kälte des unbarmherzig hereinbrechenden Winters, ließen Franz Siegesträume zu Eis erstarren. Die gedankenlose Bemerkung eines Unterscharführers, unser GRÖFAZ wird wissen, was gut für uns ist, die Stielhammer zugetragen wurde, quittierte er mit der sofortigen Absetzung des Geschützführers. Dieser mit dem EK I ausgezeichnete Mann wurde später in ein Strafbataillon versetzt. Bei der unsinnigen Erstürmung einer russischen Stellung kam er ums Leben. Stielhammer hatte den Befehl erhalten, mit seiner Batterie die Festung Istra, wenige Kilometer vor Moskau, mit Pressluftgranaten sturmreif zu schießen. E. R. war noch stolz auf diese, seine einzige Heldentat.

»Dort wurde ich schwer verwundet.« So pflegte Franz seine Erfrierungen an den Füßen zu umschreiben. Eine Feindeskugel wäre zwar ehrenvoller als eine Verletzung durch Väterchen Frost, aber was soll es. Er kam in ein Lazarett in Prag und erhielt neben dem sogenannten Gefrierfleischorden, den er verdient hatte, das ersehnte EK I. Hinter der Auszeichnung war mangels spezieller Heldentaten wieder die Hand des Vaters zu vermuten. Die Heldenbrust, sein schneidiges Auftreten und gutes Aussehen verschafften ihm bei den ihn hingebungsvoll pflegenden Schwestern Chancen, die er zu seiner eigenen Verwunderung nicht nutzte. Das Erobern, wenn es mit Nötigung verbunden war, brachte ihm Befriedigung, nicht die Liebe.

Nach seiner als geheilt erfolgten Entlassung wurde er nicht an die Front abkommandiert, sondern erhielt eine Abstellung zum Kriegsgericht. Im Juli 1943 erhielt er das Kommando über Standorte von Ersatzeinheiten in München. Hier konnte er wie gewohnt Strenge walten lassen, während er außerhalb der Kaserne ein ungewohntes, ihm zusagendes Leben führte. Er war zum Sturmbannführer avanciert und hatte die Gunst einer älteren Dame erworben. Sie war Witwe eines in den ersten Kriegstagen gefallenen Wehrmachtsgenerals, adlig, wohlhabend und lebte in einem Schlösschen südlich von München. In Dr. Franz Stielhammer sah sie einen gutaussehenden, eleganten und charmanten jungen Begleiter. Sein schwaches sexuelles Interesse, sah sie als vornehm und dem Altersunterschied angemessen an.

Die kulturelle und gesellschaftliche Infrastruktur der Stadt war bis zu den verheerenden Bombenangriffen im Sommer 1944 weitgehend intakt. Das Schloss im Grünen, wie er es nannte, war während der schlimmen Zerstörungen, von denen auch die Kaserne betroffen war, ein sicherer Hort. Die Dienststunden in der Kaserne wurden ihm immer lästiger, was ihn als Vorgesetzten gereizt auftreten ließ und noch unbeliebter machte. Er hatte sich eine Arroganz zugelegt, die nach Meinung aller Dienstgrade des Ersatzbataillons nicht zur Truppe passte. All dieses übersah E. R. heute noch kritiklos. In seinen Erinnerungen übersprang er das Negative seines Auftretens. Ohne Grund für die spürbare Ablehnung hielt er alle anderen für Arschlöcher. Stielhammers Selbstüberschätzung führte zur Einsamkeit und nahm groteske Formen an. E. R. hatte diese Neigung zum Größenwahn von seinem ersten Ich Franz Stielhammer übernommen, die er seinerzeit mit anderen Zeitgenossen teilte.

Dass er ihn in seinem zweiten Leben mit dem ungeliebten Namen Ewald Rudloff nicht ausleben konnte, war sein Problem. Im Alter führte seine große Zeit als Sturmbannführer Dr. Franz Stielhammer zur Verherrlichung. In besinnlichen Stunden trauere er in Rückblenden dieser Zeit nach.

Die am achten Mai 1945 erfolgte Kapitulation, deren Geschehnisse er den Grundstock seines späteren Vermögens verdankte, war der Grund für seinen Identitätswechsel. Manchmal bedauerte er diesen und fragte sich, ob er notwendig gewesen war. Seiner Meinung nach hatte er bis zu diesem Zeitpunkt nichts als seine Pflicht getan. Die Angelegenheit mit dem geraubten Gold war nicht ganz zu rechtfertigen, hätte sich aber hinbiegen lassen. Niemand, außer sein Schwiegervater Karpinski, wusste davon.

Mitte April 1945 erhielt Sturmbannführer Franz Stielhammer den Befehl, mit dem gesamten Ersatzbataillon und verfügbarem Geschütz an die Ostfront abzurücken. Die Amerikaner standen bei Aschaffenburg, und Wien war bereits gefallen. Ein Kontingent junger Rekruten, keiner über siebzehn Jahre und erst vor zwei Tagen eingerückt, wurde uniformiert, mit Karabinern ausgerüstet und ohne Ausbildung in die Schlacht um Aschaffenburg geschickt. Stielhammer rollte mit dem vierhundert Mann zählenden Ersatzhaufen per Bahn nach Osten. Ab Linz, wo es infolge eines Sabotageaktes im Bahnhofsareal drei Tote gab, fuhren sie mit den eigenen Zugmaschinen weiter. Bei Kirchberg an der Pillach stießen sie befehlskonform auf die Reste, die sich auf dem Rückzug befanden. Sie waren nach schweren Kämpfen in Ungarn und um Wien stark dezimiert. Irgendeine schützende Hand schien sie vor weiteren Zusammenstößen mit der Roten Armee bewahrt zu haben.

Ein Marschbefehl aus dem Führerhauptquartier beorderten Stielhammer am fünfundzwanzigsten April nach Linz. Zu seinem großen Erstaunen stand er dort seinem Vater gegenüber, den er in Berlin vermutete. Die Begrüßung war eher sachlich. Franz erstattete, wie es sich einem Vorgesetzten gegenüber gehörte, mit ausgestreckter Hand Meldung über sein Eintreffen. Der Vater sagte nur lächelnd und ohne die Hand zu erheben: »Schon gut, Franz. Im übrigen gratuliere ich dir, du machst deine Sache nicht schlecht.« Er wirkte müde. Die Bewunderung, die Franz Stielhammer früher für den Vater ergriff, war einer ernüchternden Beurteilung gewichen. Der Vater war schlank und leicht ergraut, sah jetzt besser aus als je zuvor. Auf Franz Frage: »Wie steht es, Vater?« bekam er eine lakonische Antwort. »Beschissen, aber nicht hoffnungslos! Genügt dir das?« Dann folgte die Erklärung für das spontane Treffen.

Marschbefehl für Franz zur Entgegennahme und Durchführung eines Goldtransports von Mailand nach Franzensfeste in Südtirol. Es handelte sich um Gold der italienischen Nationalbank, das Mussolini als Beitrag Italiens für die Weiterführung des Krieges gegen die Sowjets zur Verfügung gestellt hatte. Nach einem angestrebten Friedensschluss mit den Westmächten würde das Geld für weitere Waffenkäufe im neutralen Ausland benötigt. So die offizielle Version. »Übrigens wird Mussolini in den nächsten Tagen in Deutschland erwartet.« Auf Franz Frage: »Ist es nicht etwas spät« kam die Antwort: »Diese defätistische Frage habe ich nicht gehört. Selbst wenn die Alliierten zu dumm wären, um auf unser Friedensangebot nicht einzugehen und wir bedingungslos kapitulieren müssten, wäre der Kampf nicht zu Ende. Mit geheimen Konten in der Schweiz und in Südamerika können wir verbleibende Seilschaften im In- und Ausland am Leben erhalten. Du wirst sehen, wir kommen wieder!«

E. R. war unversehens wieder in sein erstes Ich geschlüpft und versuchte sich davon zu lösen, Stielhammer als selbständige Person zu betrachten und sich nicht mit ihm zu identifizieren. Er erinnerte sich, dass er, nein Franz oder noch besser Stielhammer, nicht an diese Version geglaubt hatte. Er bezweifelte, dass der Vater sich als eine Art Hüter des Grals oder des Nibelungenschatzes sah. Dafür hatte Gold über alle Ideologien hinweg eine viel zu starke Anziehungs- und Verführungskraft. »Genug der Spekulationen« sagte sich E. R. und kehrte zu seinen Erinnerungen und den Worten des Vaters zurück.

»Der Marschbefehl ist zugleich Auftrag und Passierschein und vom Führer persönlich unterzeichnet. Du übernimmst damit eine heikle und wichtige Mission, mein lieber Franz. Der Auftrag ist ohne Rücksicht auf Verluste durchzuführen, gegebenenfalls gegen anderslautende Befehle örtlicher Kommandostellen. Wenn es sein muss, auch mit Waffengewalt.« Nach einer kleinen Pause fuhr der Vater fort. »Noch etwas - und das betrifft nur uns beide. Es wäre bei dem Stand der Dinge möglich, dass wir in Zukunft getrennte Wege gehen müssen und mit falschen Namen operieren. Du verstehst. Ich habe vor etlichen Jahren in Basel einen Kreis von Freunden aufgebaut, wir nannten ihn die Seilschaft, der uns den Weg zu Banken ebnete. Für Goldtransporte in die Schweiz, zur Erlangung von Devisen, die das Reich zum Einkauf kriegswichtiger Materialien und Waffen in neutralen Ländern benötigte. Dabei sind, ganz legal, Provisionen in Millionenhöhe angefallen, von denen ich ein Viertel beansprucht habe, inoffiziell natürlich. Der Kreis bestand aus vier Herren, die sich zu Stillschweigen verpflichten mussten, auch gegenüber ihren Familien. Zu brisant waren diese Transaktionen, als dass sie an die Öffentlichkeit gelangen durften, ob in Deutschland, in der Schweiz und vor allem gegenüber den Alliierten.

Zentrale Figur war ein Notar, bei dem alle Fäden zusammenliefen. Ferner gehörten der Seilschaft noch ein Bankdirektor der BIZ und ein höherer Zollbeamter an, der für die reibungslose Abwicklung an der Grenze zuständig war. Es passierten auch Antiquitäten, Juwelen und Kunstwerke die Grenze. Diese wurden natürlich legal erworben, wenn auch zu günstigen Preisen, mit deren Beträgen sich die Verkäufer, meistens Juden, ins Ausland absetzen konnten. Die Gattin des Notars hatte ein Antiquitätengeschäft, über das sich dieser Handel abwickeln ließ. Sie war die Einzige, die von der Seilschaft wusste. Als Jurist im Führungsstab Hitlers hatte ich an der Vorordnung für die Anmeldung des Vermögens von Juden für die Arisierung in Österreich mitgewirkt und damit die Wege geebnet. Der Notar übernahm auch Treuhandaufträge für Schwarzgeldkonten aus Deutschland. An diesen Geschäften war ich nicht beteiligt. Dieser Geldtransfer war aus deutscher Sicht illegal. Ich konnte nichts dagegen unternehmen, da ich sonst die Seilschaft gesprengt und den Goldtransfer gestört hätte.

Man darf, wie du siehst, nicht kleinlich sein. Für den Fall, dass mir etwas zustoßen sollte, wäre es schade, wenn mein Guthaben, das in einem Banksafe und auf einem Nummernkonto liegt, meinem Freund dem Notar, der Vollmachten besitzt oder den Banken zufallen würde. Das, was ich dir gerade erzählt habe, sollte dir genügen, um an diese Gelder heranzukommen. Merken musst du dir, ohne es aufzuschreiben, der Notar heißt Dr. Simon Karpinski, seine Frau Johanna. Dies hier ist der Schlüssel zum Bankschließfach bei der genannten Bank in Basel, das ich für zehn Jahre im voraus bezahlt habe. Das Codewort heißt Franz. In dem Fach befinden sich eine Million US-Dollar und der Schlüssel sowie die Nummer eines zweiten Schließfaches und der Name der Bank. Die Unterlagen über ein Nummernkonto sowie ein gewöhnliches Sparbuch mit einer unbedeutenden Summe.

Sollte es irgendwelche Schwierigkeiten geben, kann Karpinski dir helfen, wenn es sein müsste unter leichtem Druck. Er ist sicher nicht daran interessiert, dass besagte Machenschaften publik werden. Mag sein, dass du dich über diese Seite deines alten Herrn wunderst, aber du kennst nicht die Intrigen und das Machtstreben bei den Spitzenleuten unseres Systems. Meine Ehre heißt Treue steht zwar auf unserem Koppelschloss, das gilt nur für die Waffen-SS. In der Clique um Himmler gilt das Gesetz der Wildnis.«

Als Franz nach diesen Eröffnungen sprachlos blieb, fuhr sein Vater fort. »Ich sehe, du wunderst dich. Nach internationalem Recht sind meine Handlungen legal. Im übrigen hat auch Hitler, wie mir zugetragen wurde, ein Konto in der Schweiz, über dessen Höhe ich nicht Bescheid weiß. Hast du dir die Namen und Nummern gemerkt?« Als Franz bejahte, sagte er:

»Gut, ich lade dich jetzt zum Essen ein. Am Abend bringt dich eine Sondermaschine nach Mailand.«

Der als geheime Reichssache bezeichnete Goldtransport, der ein Teil des Goldschatzes der italienischen Nationalbank war, war als Truppenverschiebung getarnt. Eine achtkommacht cm Flakbatterie mit sechs Geschützen und Zugmaschinen mit je drei Tonnen Gold in Barren und Münzen gehörten dazu. Gold und Münzen waren in Munitionskisten verpackt. Obenauf lagen Granaten als Tarnung.

Als Stielhammer in Mailand eintraf, stand der Konvoi bereit. Jede Zugmaschine mit einem Fahrer und vier Mann Besatzung, die mit Sturmgewehren bewaffnet waren. Es schienen ausgesuchte Leute zu sein, die, wie man ihm gesagt hatte, vom wirklichen Inhalt der Munitionskisten nichts wussten. Stielhammer fragte sich, wer die Kisten beladen hatte, und wo diese Leute waren und auf welche Art man sie zum Schweigen verpflichtet hatte. Er unterschrieb das Übernahmeprotokoll und zwang den Mann, der es ihm vorgelegt hatte, unter Protest mit ihm in den bereitstehenden Spähwagen zu steigen. Er befahl, sich mit diesem an die Spitze der Kolonne zu stellen und abzufahren. Es war sechs Uhr morgens, die Straßen waren leer, unheimlich leer. Mailand glich einer Geisterstadt.

E. R. ließ das Geschehene in sich so wach werden, dass er nicht vergaß, sich in seinen Erinnerungsorgien mit seinem ersten Ich zu identifizieren und für Augenblicke darin aufging.

Von Mailand ging es nach Como, wo Stielhammer sich entschloss, die Straße am linken Comer Seeufer entlang zu fahren. Die Nachrichten von der näher rückenden Front am Isonzo beunruhigten ihn. Ein plötzlicher Durchbruch der Truppen von General Clark schien möglich. Das wunderbare Frühlingswetter, die in voller Blüte stehende herrliche Landschaft und die Aussicht auf eine unbeschadete Heimkehr beschwingten die Soldaten, die zu singen begannen. Bei Pianello wurde der Konvoi von einem Kradfahrer angehalten, der Stielhammer meldete, bei Dongo sei ein Mannschaftswagen der Wehrmacht von Partisanen mit Schüssen gestoppt worden. Angeblich sollten Mussolini und seine Geliebte, die sich mit deutschen Uniformen und Stahlhelmen getarnt hatten, vom Wagen geholt und verhaftet worden sein. Ein Durchkommen sei nicht möglich, hieß es.

E. R. fühlte Stolz in sich aufsteigen, dass er - das heißt Stielhammer - sich entschlossen hatte weiterzufahren, um sich den Weg notfalls freizuschießen. Er ließ die Parole durchgeben Zurückhaltung zu üben, nicht zu provozieren und erst bei Feindbeschuss das Feuer zu erwidern. Die Männer setzten die Stahlhelme auf, die sie in ihrer Euphorie abgenommen hatten. Ihre Lieder waren verstummt. Stielhammer hatte die fatale Situation des Reiches für den Moment vergessen. Er nahm sich vor, sollte man Mussolini entdecken, das Husarenstück Skorzenis zu wiederholen und den Duce herauszuhauen. Daraus wurde nichts. Einer seiner Leute hatte die Nerven verloren und bei den ersten Häusern des Dorfes Dongo auf mit Gewehren herumfuchtelnde Partisanen geschossen. Das hatte zur Folge, dass in Sekunden kein Mensch mehr zu sehen war, obwohl aus den Fenstern geschossen wurde. Das Kettengerassel der schweren Zugmaschinen vermischte sich mit dem Schusslärm der Sturm- und Maschinengewehre zu einem ohrenbetäubenden Spektakel. Die Lust auf das Abenteuer einer Befreiung Duces war Stielhammer gründlich vergangen.

Als sie den Ort passiert hatten, wurde die hintere Zugmaschine von einer Maschinengewehrsalve aus einem der letzten Häuser eingedeckt. Das hätte sich verheerend ausgewirkt, wenn nicht das hinterherfahrende Geschütz als Kugelfang gedient hätte. Es wurden zwei Mann verletzt und ein Doppelreifen der hinteren Lafette zerschossen. Stielhammer ließ nach einigen Minuten halten, um mit einem wütenden »Himmelzwirn - verdammt« den Schaden zu betrachten. Am liebsten hätte er die zwei Verwundeten am Straßenrand abgesetzt, spürte aber, dass er damit die Gehorsamspflicht der Kameraden zu sehr strapazieren würde. Er befahl, sie auf die erste Zugmaschine zu bringen und so gut es ging zu versorgen. Den aus Mailand mitgenommenen verängstigten und verstörten Banker, dem er die Übernahme des Goldtransportes bestätigt hatte, nahm er die Papiere unter Drohungen ab. Er ließ ihn aussteigen. Zu langem Überlegen blieb keine Zeit. Er befahl: »Weiterfahren!« Die vor Dongo noch gelöste Stimmung der Männer war verflogen. Bei Tresenda entschied er sich für die nördliche Route entlang der Adda, die über Bormio und den Vinschgau nach Meran führte. Die Standarte an Stielhammers gepanzertem Fahrzeug ließ den kleinen Verband unbehelligt durchkommen, obwohl viele Wehrmachtsverbände unterwegs waren.

Kurz nach Meran, das Schloss Tirol war zu sehen, stellte er in einer weiten Kurve fest, dass das letzte Geschütz nicht mehr zu sehen war. Die Fahrt auf den Felgen hatte das Vorankommen wesentlich verlangsamt. Er sah jetzt ein, dass es ein Fehler war, das Geschütz mit den zerschossenen Reifen nicht liegengelassen zu haben. In St. Leonhard, wo sich der Weg teilte, befahl er einem jungen Sturmmann abzusitzen. Er sollte dem Fahrer der zurückgebliebenen Zugmaschine den rechten Weg zeigen und ihm den Befehl auszurichten, das Geschütz abzuhängen und neben der Straße liegen zu lassen. So bestand die Hoffnung, schnell in Richtung Franzensfeste weiterzufahren.

Um siebzehn Uhr traf der Goldtransport in Franzensfeste ein. Stielhammer war erstaunt, von einem Gruppenführer empfangen zu werden. Er machte Meldung und erläuterte kurz das Fehlen der Zugmaschine, um dieser entgegenzufahren. Einen Beleg für die Übergabe des Transportes hatte er noch nicht erhalten. Sein Fahrer, Rottenführer Jelinek, machte zwar kein begeistertes Gesicht, hatte aber das Fahrzeug mit mitgeführtem Sprit aufgetankt. Während der Fahrt hatten sie wenige Worte miteinander gewechselt. Jelinek schien ein wortkarger Mann zu sein. Stielhammer, der auf Fragen knappe Antworten erhielt, glaubte daraus eine Ablehnung oder Feindseligkeit zu verspüren. Ein Grund, ihn zusammenzuscheißen, ergab sich daraus nicht, zumal er in gewisser Weise auf diesen Jelinek, der Name störte ihn schon, angewiesen war.

Als sie auf der jetzt noch stärker befahrenen und verstopften Strecke nach vierzig Minuten zu der Abzweigung in St. Leonhard kamen, stand der als Wegweiser zurückgelassene Mann und mit ihm die noch auf der Zugmaschine verbliebenen Männer am Straßenrand. Als Stielhammer bei der Gruppe angekommen war, sah er das Geschütz, das einen kleinen Hang hinuntergerollt und umgestürzt war. Fast hätte er sich in seinem Entsetzen mit den Worten, »wo ist die Zugmaschine mit dem ...« versprochen. Das Geheimnis des Transports schien jeder zu kennen, als er die drei Männer anbrüllte.

Der junge Sturmmann, in gewohntem Gehorsam stillstehend, meldete, dass er dem Fahrer die ihm aufgetragenen Weisungen übermittelt habe. Die zwei Kameraden hatte er absteigen lassen, um ihnen beim Abhängen des von der Straße gerollten Geschützes zu helfen. Während man mit dem Ausbauen des Verschlusses zu tun hatte, sprang ein Mann auf die mit laufendem Motor stehende Zugmaschine und fuhr in falscher Richtung davon.

Mit dem wütenden Ausruf, »verdammte Scheiße« sprang Stielhammer in den Spähwagen und sein »ihm nach - Mann« brachte den verdutzten Jelinek dazu, mit Vollgas loszurasen. Hierbei übersah Jelinek einen vorbeifahrenden Spähwagen und verursachte einen Unfall, der unnötige Zeit kostete.

E. R. versuchte in seiner Erinnerung zu ergründen, ob Stielhammer in diesem Moment insgeheim ahnte, warum er die drei Männer nicht mitnahm und sie einem ungewissen Schicksal überlassen hatte. Sie hatten keinen Marschbefehl bei sich und konnten große Schwierigkeiten mit der Feldgendarmerie, den sogenannten Kettenhunden, bekommen. Die neigten zu spontanen und ungerechtfertigten Hinrichtungen von Fahnenflüchtigen. Er kam zu keinem Ergebnis.

Der Spähwagen überholte Wehrmachtskolonnen und näherte sich dem Moospass. Stielhammer überlegte, der Mann hatte drei Stunden Vorsprung, konnte aber nicht so schnell fahren wie der Spähwagen. Sicher hatte er mit der Zugmaschine größere Schwierigkeiten beim Überholen und beim Überqueren der Berge, wie des Timmelsjochs. Im Ötztal gab es kein Ausweichen in andere Richtungen, höchstens ein Verstecken in Sackgassen der Nebentäler. Man musste ihn vor Oetz erreichen. Der Kerl musste wissen, welche Fracht er mitführte, sonst wäre sein Ausbrechen nicht zu erklären gewesen. Das Risiko ohne Marschbefehl unterwegs zu sein, wäre zu groß gewesen. Stielhammer wandte sich an Jelinek mit der Frage: »Kennen sie den Mann?« Er bekam die lakonische Antwort: »Natürlich, er heißt Beier und stammt aus Bayern!« Auf weitere Fragen antwortete er ausweichend. Stielhammer war jetzt der festen Überzeugung, dass der Inhalt der Kisten allen am Transport Beteiligten bekannt war. Er scheute sich nicht zu sagen: »Drei Tonnen Gold, der Arsch kann nicht glauben damit durchzukommen?« Er erhielt darauf keine Antwort. Erst nach einer längeren Denkpause flüsterte Jelinek vor sich hin:

»Das ist eine ganze Menge, da kann man schon ein Risiko auf sich nehmen!« Als sie vom Timmelsjoch ins Ötztal einfuhren, wurde es dunkel. Das Überholen der Kolonnen war nicht leicht für das Fahrzeug mit Standarte. Ohne Überholvorgänge wäre es unmöglich gewesen ihn einzuholen. Schmährufe wie, natürlich die Bonzen, heim ins Reich! oder die Nachricht, nach München müsst ihr nicht mehr, das ist heute gefallen, bekam Stielhammer zu hören. Jelinek grinste vor sich hin, war aber froh, schneller als die anderen voranzukommen. Stielhammer ahnte, dass er mit Glück den Flüchtenden erreichen würde.

Das Tempo der Fahrzeugkolonnen verlangsamte sich wesentlich, da wegen angreifender Tiefflieger ohne Licht gefahren wurde. Stielhammer erlaubte sich, diese Notwendigkeit zu missachten. Bei einem die Straße blockierenden Auffahrunfall vor einer Brücke über die Ache gerieten sie in einen Stau und kamen nicht weiter. Stielhammer stieg aus und ging in Fahrtrichtung die Wagenkolonne entlang. Wie von ihm erhofft, stieß er nach einem halben Kilometer auf die gesuchte Zugmaschine. Der sternklare Nachthimmel brachte viel Licht. Er konnte Beier erkennen, der über dem Lenkrad eingeschlafen war. In diesem Augenblick begannen sich die vorderen Fahrzeuge des Staus in Bewegung zu setzen. Stielhammer lief um die Zugmaschine herum und kletterte auf den Beifahrersitz der noch stehenden Maschine. Dort drückte er mit den Worten »los - fahr weiter«, dem verdatterten Beier die Pistole in die Seite. Noch schlaftrunken setzte dieser die schwere Zugmaschine in Fahrt. »Solltest du zu fliehen versuchen, schieße ich dich über den Haufen« drohte Stielhammer. Beier schwieg.

Er hielt sich streng an den bei dem schwachen Sternlicht notwendigen Sicherheitsabstand. In Ötz erlaubte er sich erstmals zu sagen: »Wir könnten jetzt über das Sellraintal fahren. Da ist weniger Verkehr zu erwarten.« Erst hier viel Stielhammer auf, dass Jelinek ihnen nicht mehr gefolgt war. Als sie, wie vorgeschlagen nach rechts abgebogen waren, fragte Stielhammer sarkastisch: »Oder haben Sie schon Sehnsucht nach dem Erschießungskommando?« Beier antwortete nicht. Unausgesprochen war jetzt klar, »nur einer von beiden kommt durch.« Ein kurzer Seitenblick Beiers auf die ihn bedrohende Pistole ließ darüber keinen Zweifel. Stielhammer bedauerte, die Situation provoziert zu haben. Er spürte jetzt die Müdigkeit der zweiten schlaflosen Nacht. Ein Sekundenschlaf wäre tödlich, das war ihm klar. Beier lauerte nur darauf. Stielhammer spürte, dass er es nicht mehr lange schaffen würde wach zu bleiben. Die Entscheidung musste bald fallen.

E. R. unterbrach den Gedankengang mit der sich gestellten Frage: »Wann hatte Stielhammer den Entschluss gefasst, nicht über Innsbruck und den Brennerpass nach Franzensfeste zurückzukehren, sondern bei Kermaten in Richtung Bad Tölz und Holzkirchen abzuschwenken? Zum Schloss im Grünen, auch auf die Gefahr hin, den Amerikanern in die Hände zu fallen?« War auch er dem Goldrausch verfallen, oder wollte er das Gold für einen Widerstand oder für die Weiterführung des Krieges gegen die Sowjets beschaffen? Diese Fragen konnte er heute nicht eindeutig beantworten. Er musste einen Moment abschalten. Er hatte sich so sehr in die gedachte Situation zurückversetzt, dass er die Müdigkeit Stielhammers zu verspüren glaubte. Mit zwei neuerlichen Schüssen überwand er diese. Sein Gedankenflug in die Erinnerung ging weiter.

Beier schien die Brisanz der Situation richtig einzuschätzen. Seine Nervosität war spürbar. Es begann Tag zu werden. Die Straße war jetzt erstaunlich leer. Sie waren am Walchensee vorbeigefahren, und Stielhammer spielte mit der Idee, die Zugmaschine mit dem Gold im See zu versenken. Er fürchtete, dass Schloss im Grünen und die ihm für ein vorübergehendes Versteck tauglich erscheinende Scheune bei Holzkirchen nicht mehr zu erreichen. Er musste einsehen, nicht überlegt zu haben, wie er die Zugmaschine verschwinden lassen könnte. Er fragte Beier: »Kennen Sie sich hier aus?« Dieser antwortete: »Und ob, wie in meiner Westentasche!«

Sie fuhren nach einer kurvenreichen Strecke am Kochelsee entlang. Beiers Antwort hatte Stielhammer aufgeschreckt, er war jetzt wieder hellwach. Plötzlich, an einer flachen Stelle, riss Beier das Steuer herum und fuhr auf das Wasser zu. Stielhammer, der Ähnliches ahnte, gelang es abzuspringen, bevor das Fahrzeug das Wasser erreichte. Der See schien hier schnell tiefer zu werden, denn die Maschine war in wenigen Sekunden versunken. Stielhammer versicherte sich, dass die Pistole entsichert war, und hielt nach Beier Ausschau. Der war zunächst nicht zu sehen. Nach längerer Zeit sah er Beiers Kopf im See auftauchen. Er schoss sofort. Beier wollte das gegenüberliegende Ufer erreichen. Nach dem vierten Schuss verschwand der Kopf von der Oberfläche des Sees. Stielhammer wartete vergeblich auf ein Auftauchen. Die noch herrschende Dämmerung und ein leichter Dunst über dem See hätten ein weiteres Zielen unmöglich gemacht. Er war sicher, den Mann getroffen zu haben.

E. R. war es unangenehm, sich an diesen Vorfall erinnert zu haben. Obwohl er zu Recht Beier, den Deserteur und Goldräuber, nach Kriegsrecht erschossen hatte. Wären da nicht seine eigenen Absichten im Spiel gewesen. Er gab noch einen Schuss ab und es beruhigte ihn, ins Schwarze getroffen zu haben.

Zwei Tage später konnte sich Sturmbannführer Stielhammer nach einer unangenehm beschwerlichen Fahrt zurückmelden. Per Autostop mit verschiedenen Wehrmachtsfahrzeugen sowie im Beiwagen eines Kradmelders war er in Amstetten angekommen. Er übernahm wieder das Kommando über sein Ersatzbataillon. Die Nachricht vom Tode Hitlers erschütterte ihn nicht. Dieses Kapitel hatte er abgeschlossen. Er hatte noch keine Pläne für die Zukunft. Die Eröffnungen seines Vaters über die Baseler Guthaben beruhigten ihn dagegen sehr. Nicht zu vergessen war auch der Goldschatz im Kochelsee. Wichtig war ihm jetzt noch, lebend davon zu kommen. Er hütete sich davor, mit Franzensfeste Kontakt aufzunehmen. In der augenblicklichen Lage war das ohnehin nicht möglich. Es kam zu keiner Feindberührung mehr. Am siebten Mai erhielt die Division den Befehl, sich nach Westen über die Enns zurückzuziehen, um nicht der für den nächsten Tag vorgesehenen Kapitulation der Roten Armee in die Hände zu fallen. Die Kapitulation und Waffenübergabe an die Amerikaner erfolgte am nächsten Tag bei St. Valentin.

E. R. verspürte heute noch ein Gefühl des Stolzes darüber, dass er, Stielhammer es war, der dank seiner guten Englischkenntnisse amerikanische Offiziere von der Notwendigkeit einer ehrenvollen Übergabe überzeugen konnte. Er befand sich mit drei Kameraden in einer Gruppe hochrangiger amerikanischer Offiziere in lässigen Kampfanzügen, als er den Vorbeimarsch des Regiments abnahm. »Die Augen links«

war das Maximum, was man von diesem zusammengewürfelten, nicht mehr korrekt uniformierten Haufen erwarten konnte. Es war das erste Mal, dass er nicht mit ausgestrecktem Arm salutierte, sondern wie die Amerikaner mit der Hand an der Schirmmütze.

E. R. stand unbewusst auf, nahm Haltung an und salutierte. Er hielt diese von ihm als persönliche Ehrung empfundene Geste als einen der erhebendsten Augenblicke seines Lebens. Er kam nicht darauf, dass dieser Respekt nicht ihm, sondern dem geschlagenen Gegner galt. Eine absurde Situation. Gleichzeitig war es auch, pathetisch gesehen, das gestand E. R. sich ein, das Ende seines ersten Ichs. Es war das Ende des stolzen SS-Sturmbannführers Dr. Franz Stielhammer.

Ein neben ihm stehender amerikanischer Offizier, der seine Rührung bemerkte, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte nur, »O.K. - the war is over!« Aus diesem eigenartigen Hochgefühl, das ihn für einen kurzen Augenblick ergriff, wurde Stielhammer durch den Anruf eines Sergeanten geweckt. Dieser sagte ihm, »Sie kommen jetzt mit mir!«

Die Feindseligkeit, die aus diesen deutsch gesprochenen Worten zu hören war, brachte dem Sturmbannführer, als der er sich noch eben sah, den Ernst der Situation zu Bewusstsein. Die amerikanischen Offiziere, die eben noch kameradschaftlich gewirkt hatten, wandten sich grußlos ab. Sie hatten das ganze Schauspiel nur für sich als Selbstdarstellung genossen und nicht als versöhnliche Geste. Die MPs zweier Soldaten, die den Sergeanten begleiteten, zielten auf Stielhammers Beine und ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Sache ernst zu werden versprach. Man schritt auf einen Bauernhof zu, wo ein erstes Verhör stattfinden sollte. Die schnittige Uniform mit den Auszeichnungen, die ihm bisher viel Selbstvertrauen und Machtgefühl verliehen hatte, war ihm jetzt nicht nur wegen seines Schweißausbruchs unangenehm.

E. R. spürte in diesem Augenblick die mit Übelkeit verbundene Beklemmung seines ersten Ichs. Er konnte sich davon nur mit einem weiteren Schuss aus seiner Pistole befreien. Er fuhr dann in seiner Rückschau fort.

Die kleine Gruppe hatte den Bauernhof erreicht, als etwas Unerwartetes eintrat, das den Amerikanern vorübergehend das Gesetz des Handelns entriss. Die auf den Feldern neben der Straße kampierende, entwaffnete und spärlich bewachte deutsche Heerschar geriet durch den Ruf »die Russen kommen« in Panik. Sie stürmte in Richtung Westen, in Richtung Enns, in Richtung Überleben. Die Flüchtenden riefen, »die liefern uns den Russen aus!« In die Luft abgegebene Warnschüsse der wenigen Bewacher übertönten das Geschrei. Mit dem Mut der Verzweiflung missachteten sie die Gefahr. Eine geschlossene Einheit überrannte die Gruppe um Stielhammer. Die beiden US-Soldaten hatten keine Möglichkeit, von ihren MPs Gebrauch zu machen. Stielhammer ergriff sofort die Chance und rannte ebenfalls los. Zu dicht war die flüchtende Menge für seine Begleiter. Sie konnten ihn weder fassen noch erschießen.

Im Laufen entledigte er sich seiner Schirmmütze und der Uniformjacke. An der Hochwasser führenden Enns angekommen, warf er seine Stiefel und Hose weg und stürzte sich, wie Hunderte neben ihm, in den reißenden Fluss. Nicht alle erreichten das rettende Ufer. Wer konnte es sich in einer solchen Situation leisten Ertrinkenden zu helfen? Es galt, rette sich wer kann!

Sonst nicht empfindsam, schauderte es E. R. bei der Erinnerung an die entsetzlichen Szenen, die sich abgespielt hatten. Er war nur stolz auf seine Heldentat. Er hatte einem Mann, der nicht mehr genug Kraft hatte um sich an Land zu ziehen, die Hand gereicht und ihn herausgezogen. Es war eher eine Reflexbewegung als eine überlegte Hilfeleistung. Diese Situation galt ihm, wenn er dies als notwendig empfand, als Beweis von Stielhammers Opferbereitschaft. E. R. benötigte solche Selbstbetrügereien.

Die Ereignisse dieses Tages, das Wegwerfen von Uniform, Soldbuch und Erkennungsmarke, waren das symbolische Ende von Sturmbannführer Dr. Franz Stielhammer. Den gab es ab jetzt nicht mehr. Wer er in Zukunft sein würde, wusste er nicht. Er ging instinktiv in Richtung Donau. Der Auwald bot ihm Schutz. Die Amerikaner hatten genug mit den Tausenden Gefangenen zu tun. Er war keiner von ihnen. Er hielt sich versteckt und wartete bis es dunkel wurde. Dann ging er die Donau aufwärts, bis er auf ein kleines Haus stieß, in dem noch Licht brannte. Der Bauer ließ ihn übernachten und gab ihm am Morgen, als er weiter wollte, Hose und Jacke eines abgetragenen Anzuges. Als ihm der Mann noch ein altes Hemd reichte, sagte er, er habe eines. »Mit diesem Hemd wirst du auffallen, so etwas trägt kein armer Schlucker und kein einfacher Soldat« war der gute Rat. Da fiel ihm der Spruch ein, »der wechselt seine Meinung wie ein anderer sein Hemd.«

Er war im Begriff nicht nur die Meinung zu wechseln, sondern auch sein Ich! Sollte er den Amerikanern in die Hände fallen, würde er einen Idioten mimen. Eine Woche später traf er im Schloss im Grünen ein. Frau Elisabeth, die Witwe des Generals, war nicht erfreut ihn wiederzusehen. Sie musste ihn, da amerikanische Offiziere im Haus einquartiert waren, verstecken. Das Versteckspiel missfiel ihm, und nach zehn Tagen überredete er die Hausherrin, ihn als ihren Neffen auszugeben. Niemand fragte nach Papieren.

Auf eine schriftliche Anfrage in Dresden erfuhr er später, dass seine Mutter, der Stiefvater und sein Stiefbruder bei dem verheerenden Luftangriff vom Februar 1945 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit umgekommen waren. Bei mehr als fünfundzwanzigtausend verkohlten Leichen war es nicht möglich, die Personalien festzustellen. Mit Bedauern wurde ihm mitgeteilt, dass auf längere Zeit keine Sterbeurkunden ausgestellt werden können. Eigenartig unberührt nahm er diese Nachricht hin, und spontan kam ihm der Gedanke, in die Identität seines jüngeren Halbbruders zu schlüpfen. Es war zu diesem Zeitpunkt nicht schwierig, sich unter dem Namen Ewald Rudloff polizeilich anzumelden. Sein Wissen und seine finanziellen Mittel aus dem Baseler Dollarkonto halfen ihm dabei.

Er begann ein zweites Jurastudium in Heidelberg. Für seine neue Identität nahm er diese Belastung gern auf sich. Schließlich schloss er 1952 das Studium mit dem Doktortitel ab. Es war für ihn trotz der schwierigen Nachkriegsjahre die schönste Zeit seines Lebens.

Dass er seinen Schatz im Silbersee - wie dieser später von den Medien genannt wurde - ruhen ließ, war nicht nur eine Vorsichtsmaßnahme - er benötigte ihn noch nicht.

Allerdings ärgerte es ihn heute noch, dass er sich - Jahre später - mit zehn Prozent Finderlohn zufrieden gegeben hatte. E. R. schnaubte verdrießlich. Den Schatz zu heben, ohne großes Aufsehen zu erregen, war zu jener Zeit unmöglich.

So hatte er im ersten Jahr seines Aufenthaltes in Basel Kontakt mit seinem späteren Schwiegervater Dr. Simon Karpinski aufgenommen und ihn von seinem Wissen um den Schatz unterrichtet. Diesem teilte er mit, dass er Informationen von anonymer Seite - die Quelle dürfe er nicht verraten - erhalten hatte. Er hätte Dr. K., wie Karpinski unter den Mitgliedern der Seilschaft genannt wurde, mit seinem Wissen unter Druck setzen können. Er zwang ihn, das Mandat zu übernehmen. Obwohl das ein schönes Honorar und einen Schwiegersohn einbrachte, kam es Karpinski nicht gelegen. Das mit dem Schwiegersohn, fand E. R., war kein guter Schachzug. Er hasste Vera von Jahr zu Jahr mehr und ihre häufig gestellte Frage, »wer bist du eigentlich« blieb ohne Antwort. Ihm lag die Antwort auf der Zunge, aber er konnte sie ihr nicht geben. Wenn sie es wüsste, würde sie sich wünschen, nicht geboren worden zu sein.

E. R. schaltete die Stehlampe wieder an. Eine Fliege, die laut summte, an seinem Ohr vorbeiflog und sich am Lampenschirm niederließ, unterbrach seinen Gedankengang. Am liebsten hätte er mit dem Revolver, den er noch in der Hand hielt, nach ihr geschossen. Wenn es Vera gewesen wäre, hätte er lustvoll abgedrückt.

Was war aus ihm geworden? Ein alter Mann, der langsam müde wurde. Müde allein mit den quälenden Erinnerungen. Das verdrängen fällt ihm schwerer und dann immer wieder die Angst entlarvt zu werden. Das Lügen und sich verstellen müssen kostet Kraft. »Ich werde es ihr sagen« ging es ihm plötzlich durch den Kopf. »Ihr die Last des Wissens aufbürden, als Rache für ihre Erniedrigungen. Sie kann dieses Wissen nicht weitergeben, ohne sich selbst zu schaden, ohne die Familie zu zerstören. Das wird sie nicht tun. Sie mag zwar stark genug sein es zu ertragen, es wird ihr wie ein Dorn im Fleisch sitzen. Vera - mit ihrem Selbstbewusstsein, ihrer Selbständigkeit, ihrer verdammten Lebenslust und ihren Erfolgen. Mit ihren siebenundfünfzig Jahren immer noch eine schöne Frau, die mit ihrer erotischen Ausstrahlung noch für jüngere Männer anziehend wirkte. Ich hätte sie vor siebenunddreißig Jahren nicht heiraten dürfen. Ich hätte spüren müssen, dass sie die Stärkere ist.«

E. R. gab, um seinen Ärger und seine Wut zu zügeln, einen Schuss auf eine der beleuchteten Scheiben ab. Er traf ins Schwarze und verspürte die erhoffte Erleichterung. Gedanklich kehrte er an den Anfang seiner Überlegungen zurück. »Sollte dieser verfluchte Steiner durch das unbeherrscht ausgerufene Himmelzwirn an etwas erinnert worden sein? Unmöglich! Und wenn, dass ich nicht Ewald Rudloff bin, lässt sich nicht beweisen. Wer ist dieser Steiner überhaupt? Es wird nicht schwer sein, das erforschen zu lassen, seine Vergangenheit zu durchleuchten. Selbst wenn er Verdacht geschöpft haben sollte, gab es doch keine Beweise und keine Zeugen mehr. Dafür habe ich gesorgt.«

Seine momentane Situation verhinderte die Auseinandersetzung mit seinem zweiten Hobby, der Kunst. Jetzt beschäftigte ihn Ralf Steiner. Er kam nicht mehr dazu, sich im Raum nebenan genussvoll die Gemälde und Kunstwerke seiner Bildergalerie anzusehen. Er hatte all diese Gemälde seiner Schwiegermutter abgeluchst. Bei der Auflösung der Restbestände überführte sie alle kritischen Werke in das sogenannte Museum ihres Schwiegersohns. Mit diesen Bildern und Kunstgegenständen konnte man heute nicht mehr an die Öffentlichkeit. So avancierte Ewald Rudloff zum Kunstliebhaber. Gern begab er sich in sein Museum und betrachtete stundenlang die Kunstwerke. Er war stolz darauf, sie zu besitzen. Die meisten Bilder stammten von bekannten Malern. Dass diese Bilder einmal jüdischen Familien gehörten, die sie billig abgeben mussten, um ihr Überleben zu organisieren, störte ihn nicht.

Dr. Simon Karpinski und seine Frau Johanna arbeiteten im Rahmen der Seilschaft mit seinem Vater zusammen. Die Nationalsozialisten versuchten dem Kunstraub einen legalen Anstrich zu geben, um ihn als Barvermögen für die Rüstung auszugeben. Nazigrößen wurden plötzlich Kunstsammler und legten eigene Sammlungen an. Nun hatte E. R. auch eine eigene Sammlung.

E. R. spürte Hunger. Er stand auf und als er den Revolver an seinen angestammten Platz in den Waffenschrank legte, sagte er laut und pathetisch, ohne eine Spur Selbstironie,

»ich bin der Hüter des Grals« und zu dem Revolver gewandt fügte er hinzu, »du mein einziger Freund und treuer Vasall.«

Der Fluch des Nazigoldes

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