Читать книгу Auslöschung - Anthony J. Quinn - Страница 12

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Nachdem sie den wackligen Bootsanleger hinter sich gelassen hatten, riet der Fischer Celcius Daly, sich zurückzulehnen und die Landschaft zu genießen. Beim Hinausrudern aus der Mündungsbucht tat sich im Norden die weite Seefläche des Lough Neagh auf, während die Uferlinie immer zerklüfteter wurde. Bald sah Daly die Umrisse von Coney Island, und als das Boot sich der Insel näherte, entdeckte er den verkohlten Eichenstumpf, die ein Blitz in Brand gesetzt hatte. Eine Gruppe von Männern und Frauen, teils in Schutzanzügen, wuselte zwischen den geschwärzten Baumteilen hin und her. Als der Fischer an einer Schilffläche vorbeiruderte, flog eine Seeschwalbe mit zunehmend gereiztem Keckern auf sie zu.

Der schlanke, schnittige Fiberglasrumpf des Polizeiboots, des einzigen, das hier im Einsatz war, blockierte fast den gesamten Anlegesteg. Daly gelang es, auf die Planken zu springen, ohne sich ein Bein zu brechen. Er war froh, wieder halbwegs festen Boden unter den Füßen zu haben.

»In der Regel machen Leichen keine Geräusche«, warnte Ruari Butler, der heranschlendernde Rechtsmediziner, den Detective zur Begrüßung. »Aber ich fürchte, hier haben wir es mit einem sehr speziellen Fall zu tun.«

Er zeigte Daly den Tatort mit einer Beflissenheit, als ob er ihn durch ein Naturschutzgebiet führen würde. Unbeholfen tastete Daly hinter dem großen Mann nach dem Absperrband, um darüberzusteigen, und stolperte leicht.

Auf den ersten Blick entdeckte Daly nichts Auffälliges. Der Körper eines barfüßigen älteren Manns war sitzend gegen einen verkohlten Baumstumpf gelehnt. Seine Miene war entspannt, der Mund stand leicht offen, und die Zunge hing heraus, als hätte sie versucht, dem Tod ihres Wirts zu entwischen. In der Luft hing der Duft überreifer Schlehen, und das Surren der um die Leiche schwirrenden Fliegen erweckte den Anschein, als würde sie leise schnarchen. Kein sichtbares Anzeichen für ein Verbrechen, bemerkte er. Es könnte auch der tragische Unfall eines alten Manns sein, der wie jeden Morgen barfuß hierhergekommen war und sich in dieser Baumhöhle ausgeruht hatte, als ihn der Tod ereilte.

Aber bei genauerem Hinsehen war offensichtlich, dass Teile der Leiche versengt waren und man kaum zwischen menschlichen Sehnen und verbranntem Holz unterscheiden konnte. Die schwarzen, im Feuer geschrumpften Gliedmaßen des Opfers und die verkohlten Äste waren ineinander verschlungen, als hätte sich der Körper um die Überreste eines deformierten Zwillings gewickelt. Eine Untersuchung des Kopfs ergab vielfache stumpfe Verletzungen und Reste klebrigen Bluts. Der Hinterkopf war grießig wie ein durch den Fleischwolf gedrehter Knorpel.

Um die Leiche schwirrten Kriminaltechniker, die fleißig fotografierten, Haarproben nahmen und mikroskopisch kleine Beweisstücke aus dem Gebüsch klaubten, um ein brutales Stück Vergangenheit zu heben und zu katalogisieren. Nach getaner Arbeit würden sie damit abmarschieren und es in den Regalen eines forensischen Labors einlagern.

Butler sprach zu ihm, aber Daly konnte seinen Worten kaum folgen, weil er zu sehr mit diesem Anblick beschäftigt war. Manche Detectives vermochten alle Einzelheiten eines grausamen Mords aufzusaugen wie ein Hochleistungsstaubsauger, aber Daly gehörte nicht dazu. Butler bemerkte sein Unbehagen. Um ihm zu helfen, die Fassung wiederzuerlangen, richtete der Pathologe den Blick auf das Südufer des Sees und fing wie zum Spaß an, die dortigen Townlands des County Armagh aufzuzählen: Clonmakate, Columbkille, Maghery und Derrylileagh.

Der Schauder, der Daly in die Eingeweide gefahren war, war jedoch schwächer ausgeprägt als die professionelle Rivalität im Umgang mit Unangenehmem, die ihn mit Butler verband, und so ärgerte er sich ein wenig über dessen taktvolle Ablenkung von seiner Schwäche.

»Wie lang ist die Leiche hier?« Daly blickte auf das entspannte Profil des Gerichtsmediziners.

»Zum Glück wurde das Opfer gefunden, bevor der eigentliche Verwesungsprozess eingesetzt hat oder sich die Wildtiere hier daran haben gütlich tun können.«

»Dann hätte es für ihn ja kaum besser laufen können, was?« Dalys Ton war eisig.

»In gewisser Hinsicht ja. Für eine Leiche ist so ein Wildschutzgebiet kein guter Aufenthaltsort.«

»Und was wäre einer?«

Unbeeindruckt von Daly wie von der Leiche, ging Butler behutsam um einige Holzstücke herum, allein auf den Fortgang seiner Gedanken und Schlussfolgerungen konzentriert. Ähnlich wie die Mathematik machte der Tod die Dinge einfacher. Herauszufinden, wie etwas geschehen war, bedeutete, die Dinge mit klarem, nüchternem Blick zu betrachten und den Schleier der Gefühle zu lüften.

»Immerhin hat er die Sterbesakramente bekommen«, bemerkte Daly.

»Freundlicherweise verabreicht durch Father Jack Fee aus Maghery. Kennen Sie ihn?«

»Nein. Ich bin kein regelmäßiger Kirchgänger. Aber ich werde ihn besuchen.«

»Er sagt, der Tote ist Joseph Devine, ein frommes Mitglied seiner Gemeinde. Offenbar hat Mr. Devine keine näheren Verwandten. In seiner Jacke war eine Brieftasche mit einem Führerschein und mehreren Bankkarten.«

Die Wellen von einem vorbeifahrenden Motorboot klatschten gegen den Anlegesteg. Die beiden Männer sahen zu, wie das Boot um das Inselufer kurvte und aus ihrem Blickfeld verschwand.

»Das Opfer wurde durch eine Reihe von Schlägen gegen den Kopf, ausgeführt mit einem stumpfen Gegenstand, getötet«, fuhr Butler fort. »Außerdem wurden seine Gliedmaßen angezündet, möglicherweise um ihn zu foltern. Dabei diente Baumharz als eine Art Brennstoff. Den genauen Todeszeitpunkt werden wir nicht mehr herausfinden, aber grob geschätzt dürfte er nicht länger als vierundzwanzig Stunden zurückliegen.«

Mit einer Pinzette drückte der Gerichtsmediziner auf die Brust des Opfers. Es folgte ein Zischen, und aus dem Hals der Leiche kam ein Geräusch. Ein anhaltendes raues, vogelartiges Gurgeln. Es war eines der merkwürdigsten Geräusche, die Daly je gehört hatte. Hoch, wild, unmenschlich.

Er sah Butler beinahe flehend an. »Was zum Teufel war das?«

»Erkennen Sie’s nicht?«

Butler öffnete den Mund des Opfers. Er hatte die Kehle schon eingehend untersucht. Geschickt fummelte er mit der Pinzette einen kleinen Metallgegenstand heraus und hielt ihn vor Daly in die Höhe.

»Eine Entenpfeife. Steckte knapp über dem Kehlkopf.«

Die Anspannung auf dem Gesicht des Detective nahm etwas ab.

»Nach dem Trauma in der Mundhöhle zu schließen, wurde sie dem noch lebenden Opfer gewaltsam eingeführt.«

Er schwieg einen Moment wie ein Schauspieler, der sich die Bühne zurückerobert. »Weil die Leiche so theatralisch zur Schau gestellt wurde und weil ein Priester über den Fundort informiert wurde, kann man wohl davon ausgehen, dass hier irgendwelche Paramilitärs die Hand im Spiel hatten.«

»Für diese Vermutung haben wir noch keine Beweise«, knurrte Daly.

»Für die Medien ist das auch ohne Beweise ein gefundenes Fressen.«

Daly zuckte die Achseln. »Vielleicht bringt uns der Rummel ja ein paar brauchbare Hinweise.«

»Einen kann ich jetzt schon bieten. Offenbar war sein Tod für die Mörder von großer Bedeutung.«

»Wieso?«

»Verbrennen, foltern und dann totschlagen, dazu eine tief in den Hals gerammte Entenpfeife. Nach meiner Erfahrung werden nicht viele Opfer so zugerichtet. Eine Kugel in den Schädel wäre doch viel einfacher und effektiver gewesen.«

Daly war nörgelig. »Also sind unsere Hauptverdächtigen Paramilitärs mit kranker Fantasie und einem Faible für Entenjagd.«

Butler deutete ein schiefes Lächeln an. Dann wandte er sich der Leiche zu und setzte seine Arbeit fort, während Daly – froh, dem gruseligen Anblick des verkohlten Baumstumpfs zu entkommen – sich auf den Weg machte, um die übrige Insel in Augenschein zu nehmen. Eigentlich hätte er am Tatort bleiben und den Kriminaltechnikern zur Hand gehen sollen, aber er musste einen klaren Kopf bekommen. Außerdem war hier Butler für die Spurensicherung verantwortlich, und der würde keinen Stein auf dem anderen lassen.

Zurück am Ufer, nahm Daly ein paar tiefe Atemzüge Seeluft und sah zu, wie die Wolkenschatten über das Wasser huschten. Weiter unten im Süden verschwanden die Mourne Mountains im abnehmenden Winterlicht mit einem letzten violetten Schimmer am Horizont.

Coney Island war ein wilder, merkwürdiger Ort, an den nur vom Sturm überraschte Fischer oder wagemutigere Vogelbeobachter kamen. Während der elisabethanischen Kriege war die Insel von den Anführern des O’Neill-Clans als Zuflucht genutzt worden, und sie war nach einer Hexe benannt, die angeblich für die englische Königin spioniert hatte. Der Legende nach hatte sie Red Hugh O’Neill vergiftet, während sie seine Wunden nach einer Schlacht versorgte. Hexe, Mörderin und Spionin in einer Person, dachte Daly. Im Vergleich zu Miss Coney war Mata Hari eine Pfadfinderin.

Während er am Ufer entlangwanderte, legte er sich einen Plan für die Ermittlungen zurecht und überdachte die einzelnen Schritte. Nach der Spurensicherung am Tatort würden sie damit beginnen, die am Lough lebenden und arbeitenden Menschen zu befragen. Sie würden versuchen herauszufinden, wie der Tote auf die Insel gekommen war und wie die Mörder dorthin gelangt und wieder verschwunden waren. War jemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Waren plötzlich fremde Boote oder Autos in der Gegend gewesen? Am Seeufer gab es zwei Gemeinden, eine protestantisch, die andere katholisch, beide in tiefem Argwohn miteinander verbunden. Alles, was auch nur im Entferntesten ungewöhnlich gewesen war, war garantiert von jemandem bemerkt worden.

Er kam an einen Kiesstrand mit wunderbar rund geschliffenen Kieselsteinen, und während er dort entlangspazierte, spielte er mit dem Gedanken, ein paar davon auf das Boot des Fischers zu schaffen. Damit könnte er den vernachlässigten Garten seines Vaters etwas hübscher machen. Eine Möwe tauchte ins Wasser und kam mit einem zappelnden Aal im Schnabel heraus. Im See wimmelte es von Leben, dachte er, aber genauso war dort der Tod zu Hause. Vielleicht war die Zivilisation hinter dem Lough ja nur seiner Fantasie entsprungen?

Zum Leben war Nordirland kein so übler Ort mehr, sprach er sich Mut zu. Möglicherweise war das Essen nicht so gut, und es gab auch hier schlechte Menschen, aber durch den Friedensprozess wurde das viele Leid, das in den vergangenen vierzig Jahren entstanden war, langsam geheilt.

Auf den Kieselstrand folgte dichtes Röhricht, das weit in den Lough hinausreichte. Beim Blick auf den Zerrspiegel der Seefläche schauderte es ihn. Dieser Mord war besonders grausam gewesen, und er befürchtete, dass sich die Ermittlungen lange hinziehen und schwierig werden würden. Die Mörder waren einige Risiken eingegangen, offenbar weil sie sicher waren, auf dieser unbewohnten Insel ungestört zu bleiben. Hatten sie ihr Opfer hierhergelockt, oder war es zu einem vereinbarten Treffen gekommen?

Er bemerkte eine Spur aus abgeknicktem Schilfrohr und kürzlich aufgewühltem Schlamm, die in das Röhricht führte. Als er darauf zuging, flog ein Schwarm Enten aus Nestern auf. Es waren flinke, vorsichtige Wesen, und ihre Körper waren für eine schnelle Flucht gebaut. Kurz blieb er stehen und betrachtete versonnen ihre gewandten Bewegungen, die sich im Wasser verdoppelten. Der einfachste Weg, um Ordnung ins Chaos zu bringen, dachte er plötzlich, war, zu warten, bis sich wieder Stille einstellte.

Im Röhricht stieß er auf eine Vogelbeobachtungshütte. Sie war nicht so klapprig und besser gebaut als jene, die er aus seiner Kindheit kannte. Im Innern fand er ein Fernglas. Eigentlich, dachte er, dienen Vogelbeobachtungshütten eher dazu, sich vor anderen Menschen zu verstecken, damit die das idiotische Verhalten von Ornithologen und Entenjägern nicht mitkriegen. Das Fernglas war von überraschend guter Qualität – keines der alten Dinger, wie er auf den ersten Blick vermutet hätte. Er nahm es und betrachtete damit die Uferlinie, eine verschlungene Gruppe von Wurzeln und Felsen, die über ihrem Spiegelbild schwebte. Er hatte weder Stift noch Block, um die Tiere zu notieren, die er entdeckte, aber zur Vogelbeobachtung war er ja nicht gekommen. Sein Blick blieb an einem heruntergekommenen Cottage hängen, halb versteckt unter Bäumen, die Hintertür einen Spaltbreit offen. Außer dem Haus war am Ufer kein Anzeichen von menschlichem Leben zu sehen.

Daly blinzelte. Das Gesicht des Toten hatte sich so tief in sein Gedächtnis eingebrannt, dass er dessen Umrisse in den dunklen Bäumen und ihrem Spiegelbild darunter wiederentdeckte. Er setzte das Fernglas ab. Er wusste nicht einmal, wonach er suchte. Genauso gut konnte er einen Märchenwald nach Spuren eines Ungeheuers absuchen.

Er trat aus der Hütte und ging den Pfad durch das Röhricht zurück. Ein durchweichtes, blutiges Ding fiel ihm ins Auge. Weil er es für einen toten Vogel hielt, stupste er mit dem Schuh dagegen. Doch es erwies sich als der erste Hinweis, der ihn auf die Spur der Täter führen konnte. Es sah aus wie ein blutiger Tauchhandschuh, und er hob ihn auf, um ihn in eine Asservatentüte zu stecken. Vielleicht hatte der Angreifer ihn ausgezogen, um besser zupacken zu können. Daly begriff, dass der Überfall sehr genau geplant und mit großem Aufwand durchgeführt worden war. Dann fragte er sich, wie lange es gedauert haben mochte, bis das Opfer gestorben war.

Als der Fischer Daly zum Festland zurückruderte, war es später Nachmittag geworden. In immer mehr Cottage-Fenstern erschien Licht. Von Mücken umschwirrt, traten sie an Land. Der Fischer meinte, im Winter seien sie nicht so schlimm wie die Sommermücken. Jetzt könnten sie nur einmal stechen.

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