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Oliver Jordan. Der Name sagte Celcius Daly weiterhin nichts, aber es war der einzige, den er bei der Durchsicht der angekohlten Kanzleiakten entziffern konnte. Mehrmals stand er da, in einer akkuraten, aber so winzigen Handschrift, dass er beinahe unlesbar war, in einem Postskriptum nachträglich eingefügt in etwas, das nach einem Aktenvermerk über einen Polizeigewahrsam aussah. Derselbe Name hatte auch auf einem der Kreuze auf Hughes’ Spielzeugfriedhof gestanden. Das andere Detail, das ihm ins Auge sprang, war das Datum auf den Akten. Sie waren alle zwischen August und November 1989 datiert.

Er entschied, dass die Akten warten mussten, bis er Zeit hatte, sich eingehender damit zu beschäftigen. Es war früher Nachmittag, und er war spät dran für sein Treffen mit einem Lokalpolitiker. Er steckte die Papiere zusammen mit Devines Pager in eine Asservatentüte und warf alles auf den Beifahrersitz. Dann sagte er Irwin, er müsse zu einem Termin, und fuhr zurück zur Polizeistation.

Den ganzen Vormittag hatte er keine einzige Tasse Kaffee getrunken, und mittlerweile lechzte er nach dem Koffein-Kick. Weil er befürchtete einzunicken, ließ er das Fenster einen Spaltbreit herunter. Vom Ufersaum rieselte Vogelgesang in den Wagen. Überall in den Bäumen erklang das perlende Zwitschern von Amseln und Drosseln.

Daly war auf dem Weg zu dem republikanischen Politiker Owen Sweeney. Er kannte Owen bereits aus Kindertagen und hatte ihn öfter mal auf dem Gepäckträger in die Schule mitfahren lassen, wenn er seine Runde mit den Morgenzeitungen drehte, aber vor vielen Jahren hatten sich ihre Wege getrennt. Jetzt hatte Sweeney ihn wegen der Hubschraubersuche nach David Hughes wutentbrannt angerufen. Der Hubschrauber war am Sonntagnachmittag kurz über einer Schar Gaelic-Football-Fans gekreist, die von einem Match zurückkehrten, und man hatte sie über den Bordlautsprecher gebeten, bei der Suche nach einem Vermissten zu helfen. In dem Glauben, ein gefährlicher Irrer sei auf freiem Fuß, war unter den Fans Panik ausgebrochen. Nun behauptete Sweeney, der Hubschrauberpilot habe die Gaelic-Football-Fans auf dem Nachhauseweg absichtlich belästigt.

Das sei ein gefundenes Fressen für die Presse, hatte er Daly gedroht. Im Geiste sah der Detective die Schlagzeile vor sich: ALZHEIMER-PATIENT IN PYJAMA UND PUSCHEN TERRORISIERT EINE HORDE HOOLIGANS. Er verabscheute die melodramatische Übertreibung und die politischen Erpressungsversuche, denen man seit dem Waffenstillstandsabkommen beinahe täglich ausgesetzt war, wenn man als Polizist in Nordirland mit der Öffentlichkeitspflege befasst war.

An einer Brücke fuhr Daly an einem schlammbespritzten Kastenwagen vorbei, der offenbar liegen geblieben war. Er verringerte das Tempo und sah zum Fahrer – ein dürrer junger Mann mit käsigem Gesicht stand neben dem Fahrzeug und hielt ein Handy an sein Ohr.

Der Transporter hatte einen Platten. Obwohl er es eilig hatte, bremste Daly und stellte den Warnblinker an. Sein Instinkt sagte ihm, dass hier etwas faul war.

Sobald der junge Mann Daly erblickte, sprintete er los und rannte auf einen von Brombeerranken und Gestrüpp überwucherten Feldweg. Die Hecktüren des Kastenwagens standen offen. Als Daly näher kam, roch er sofort den Dieselgeruch. Er sah sich die Fracht genauer an: eine mit schmuddeligen Decken halb abgedeckte Doppelreihe Benzinkanister. Er war zufällig auf eine schiefgelaufene Schmuggelfahrt gestoßen.

Schon mehrmals war Daly in brandgefährliche Katz-und-Maus-Spiele mit solchen Fahrzeugen verwickelt gewesen, die über die M1 rasten und dann auf engen Landstraßen entschwanden. Die Fahrer waren stets junge Männer, die noch vor zehn Jahren den lieben langen Tag fröhlich auf einem tuckernden Traktor gesessen und ein schlammiges Feld gepflügt hätten. Jetzt konnten sie mit einer Spritztour von der inneririschen Grenze zu den Schottland-Fähren in Larne oder zu den loyalistischen Paramilitärs in Belfast mehrere Tausend Pfund verdienen. Der Schmuggel, an sich so alt wie die Grenze selbst, überschritt auch eine Vielzahl politischer Trennlinien. Agrardiesel, der ursprünglich aus der Republik Irland stammte, wurde von ehemaligen IRA-Männern über die Grenze geschmuggelt, in versteckten Schuppen entfärbt und dann in die loyalistischen Hochburgen in der Hauptstadt transportiert. Selbst für Todfeinde war Geld wichtiger geworden als die Politik oder der Papst. Für einen Zehnpfundschein galt eben keine Religion.

Allerdings war die Sache nicht nur illegal, sondern auch hochgefährlich. Der Laderaum eines Kastenwagens war kein sicherer Ort für Tausende Liter entflammbaren Kraftstoff. Daly berührte die Motorhaube des Wagens, um festzustellen, ob der Motor noch warm war. Er war kalt. Als Behelfstanker war der Transporter eine Zeitbombe auf Rädern.

Aus dem Augenwinkel sah er den Trainingsanzug des Jungen. Er schien langsamer zu werden und sich im Gestrüpp ein Versteck zu suchen. Hinterher wusste Daly, dass er an diesem Punkt den Jungen hätte laufen lassen sollen und per Funk Verstärkung anfordern. In seinem Auto lagen wichtige Beweisstücke, und er hatte einen dringenden Termin. Doch stattdessen machte er sich an die Verfolgung. Nicht weil er so furchtlos war, sondern weil der Fliehende nichts weiter als ein aufblitzender Trainingsanzug war, ein flüchtiger Schatten, eine herausgerissene Seite aus einem Buch, das er noch lesen musste.

Knapp hundert Meter den Feldweg runter blieb der Junge stehen. Anscheinend glaubte er, dass ihn ein zufällig vorbeikommender Autofahrer mittleren Alters nicht verfolgen würde. Als Daly ihn am Ende eines Tunnels aus Gestrüpp entdeckte, war seine Miene so starr und ausdruckslos wie eine Eisplatte. Einzig seine Atemwölkchen, die im Schatten verschwanden, regten sich. Doch im nächsten Moment flitzte der Junge wieder los, schlängelte sich mit schnellen, flüssigen Bewegungen zwischen ausgreifenden Ranken hindurch, sprang über bröckelnde Mauern und verschwand erneut im buschigen Dickicht. Hinterdreinhechelnd blieb Daly mehr als einmal an ausgestreckten Ästen hängen.

Der Feldweg, der parallel zur Hauptstraße und einer Reihe neuer, strahlend weißer Bungalows verlief und von Schlehdorn, Weißdorn und Holunder gesäumt war, führte an den krummen und schiefen Mauern eingestürzter Cottages und Schuppen vorbei. In dieser Gegend riss man Häuser gar nicht erst ab. Man baute einfach größere, während die Behausungen früherer Generationen an langsam zuwuchernden alten Feldwegen wie diesem ihrem Schicksal überlassen wurden. Der County Armagh verwandelte sich in ein Labyrinth dunkler, vergessener Pfade und Wege, düster und verschlungen wie die Vergangenheit.

Das Gestrüpp wurde immer dichter, sodass Daly nur noch ein paar Meter weit sah. Er blieb stehen, hörte den Regen auf Blätter fallen und Äste im Wind knarren. Etwas weiter voraus entdeckte er einen bewegungslosen Fetzen des glänzenden Trainingsanzugs, als ob er an einem Ast hängen geblieben wäre. Hatte der Junge angehalten, damit Daly ihn wiederfand? Als er sich näherte, empfand er Neugier und Furcht zugleich und fragte sich, ob es bei dem Jungen genauso war. Immerhin waren das zwei elementare Empfindungen, die alle Spezies miteinander teilten, sogar Polizisten und Verbrecher.

Er rief: »Polizei! Gehen Sie bitte mit mir zurück zu Ihrem Wagen.«

Durch das Unterholz sah er das Jungengesicht genauer. Schmal, blass und mit feuchten Ponyfransen. Der Blick eines störrischen Schuljungen. Keine Anzeichen von Furcht oder Neugier. In den republikanischen Teilen des County Armagh brachte man Kindern früh bei, der Staatsgewalt gegenüber keine Gefühle zu zeigen. Daly ahnte, dass der Junge nicht kooperieren würde. Die Benzinschmuggler ähnelten dem Republikanismus der Grenze. Sie waren unabhängig und schlau, aber leicht zu verführen von den mächtigen Kräften des Gelds und der Politik.

Seine letzte Hoffnung auf eine Festnahme wurde durch den Lärm eines heranrasenden Quads zunichtegemacht. Der Junge winkte ihm kurz spöttisch zu, ehe er auf den Rücksitz sprang. Schlingernd setzte der Fahrer das Gefährt wieder in Bewegung und hielt auf Daly zu. In der Hand des Beifahrers erschien plötzlich ein Stock, den er im Vorbeifahren ausstreckte. Daly spürte einen Schlag gegen seine Knie und stürzte wie gefällt zu Boden.

»Up the hoods, Scheißbulle!«, rief der Junge und reckte den Stock in die Höhe. Dann war das Quad verschwunden. Daly hatte gerade noch erkannt, dass der Stock ein Hurling-Schläger gewesen war. Es war aber leider kein Trost für ihn, dass der Junge sich wohl mehr für gälischen Sport interessierte als für Messer oder Schusswaffen, denn er hatte den Schläger mit der Präzision eines Scharfschützen eingesetzt und ihn schmerzhaft getroffen.

Mittlerweile hatte es heftig zu regnen begonnen, und bis Daly zum Pannenauto zurückgehumpelt war, war er nass bis auf die Haut. Als er einen letzten Blick in den Laderaum des Transporters warf, strahlten die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Lasters hinein. Im Licht sah er, dass die Kanister leer waren. Müde schlug er die Hecktüren zu. Warum war der Junge geflohen, wenn er nicht mal Schmuggelware hatte? Als er sein eingeschlagenes Beifahrerfenster sah, hatte er die Antwort. Sofort sah er nach der Asservatentüte mit den Kanzleiakten und suchte sogar unter dem Sitz, aber sie war weg. Ein weiterer schwarzer, nasser Lastwagen, dessen Scheibenwischer mit dem schweren Regen kämpften, rumpelte an ihm vorbei. Der kalte Luftzug schien direkt durch ihn durchzuwehen, als wäre er nicht vorhanden.

Mittlerweile dämmerte es, und es war zu spät geworden, um Sweeney anzurufen und sich für das geplatzte Treffen zu entschuldigen. Der Tag ging zu Ende, und zwei wichtige Beweisstücke waren ihm gestohlen worden, allem Anschein nach in einem geplanten Überfall. Da war Daly als junger Zeitungsausträger erfolgreicher gewesen.

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