Читать книгу Auslöschung - Anthony J. Quinn - Страница 13

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Am Rand des Fahrwegs, der zu dem abgelegenen Cottage führte, zwängte sich eine Schar Kriminaltechniker in weißen Schutzanzügen durch die Lücken in einer Schlehdornhecke. Daly und die an der Einfahrt zum Cottage postierten Uniformierten begrüßten sich mit einem kaum merklichen Nicken. Dabei sah er aus dem Augenwinkel, wie Detective Derek Irwin gelangweilt gegen einen rostigen Schubkarren trat.

Bereits seit sieben Uhr morgens beaufsichtigte Irwin die Spurensicherer, die rund um Joseph Devines Cottage zugange waren.

»Ich dachte schon, Sie lassen uns hängen«, sagte er grußlos, als er Daly bemerkte. Irwin war nicht am Fundort der Leiche gewesen, entsprechend ungetrübt war sein forscher Blick. Es hatte den Anschein, als könnte jeden Moment unterdrückte Wut aus dem Detective herausplatzen.

»Wirklich prima hier. Ich dachte, Sie hätten es heute früh eilig mit dem Anfangen. Nach Ihrem Anruf bin ich sofort aus dem Haus gestürzt, ich hab nicht mal gefrühstückt.«

Im Licht von Irwins funkelnder Gereiztheit war Dalys Miene ein dunkler Granitblock. Dieser kleine Zornesausbruch ließ ihn nicht einmal blinzeln.

»Kein Grund zur Panik«, sagte Daly kühl. »Devines Mörder sind nicht erst vor ein paar Minuten zur Hintertür raus. Im echten Leben sind Verbrechen nicht so simpel.«

Irwin schnitt ein verächtliches Gesicht und zog sein Handy aus der Tasche, das zu klingeln begonnen hatte. »Ist privat«, verkündete er, neigte den Kopf mit den langen Locken zur Seite, und im nächsten Moment waren alle Empörung und Müdigkeit aus seiner Stimme verschwunden: »Hi Poppy. Hey, ich hoffe, ich hab dich gestern Nacht nicht aufgeweckt. Hat ewig gedauert, bis ich ein Taxi bekommen hab.« Er senkte die Stimme zu einem rauen Flüstern. »Kann ich heute Abend kommen? Sag bloß nicht Nein, das würde mich in tiefste Depressionen stürzen.« Das Handy gierig an den Mund gedrückt, entfernte er sich ein paar Schritte weiter.

Irwin war mindestens zehn Jahre jünger als Daly und stand für die Art von Jugend, von der Daly innig hoffte, er habe sie hinter sich gelassen. Die vielen SMS, die Irwin bekam, und seine geflüsterten Telefonate ließen auf ein bewegtes Sexualleben schließen. Dabei mochte Daly die Energie und das Ungestüm, mit dem sich Irwin ins Leben stürzte, obwohl er die Tage meist mit Routineermittlungen zu Sachbeschädigungen und Hauseinbrüchen verbrachte. Allerdings zeichnete sich der junge Detective auch durch einen Mangel an Geschick und Umsicht aus, der Daly befürchten ließ, er könnte manchmal mehr mit den Verwicklungen seines Liebeslebens beschäftigt sein als mit den Problemen eines Falls.

Irwin kehrte zurück und klappte sein Handy zu.

»Sie sehen scheiße aus«, sagte er nach einem prüfenden Blick auf Daly. »Wegen der vielen Wochenenden allein steht der Kessel ziemlich unter Druck, was? Ich glaube, Ihr Problem ist, dass Sie nicht genug unter Leuten sind.«

Dalys Trennung von seiner Frau war allen Kollegen bekannt. So etwas ließ sich bei der Polizei kaum verbergen. Nur wer glücklich liiert war, eilte freitagabends mit einem fröhlichen Lächeln nach Hause. Daly quittierte Irwins Bemerkung mit einem Nicken, als hätte sie ihm ein Quäntchen Trost beschert.

»So was wie Treue gibt’s heut nicht mehr«, fuhr Irwin mit einem Zwinkern fort. »Wir spielen doch alle dauernd Bäumchen wechsle dich. Jeder ist Single, die Verheirateten nur nicht so oft.«

Daly wandte sich ab. Das Unbehagen über seine gescheiterte Ehe behinderte ihn wie ein gebrochener Flügel. Das Ende seiner Beziehung mit Anna hatte sie wieder zum Dreh- und Angelpunkt all seiner Gefühle gemacht, genau wie damals, als er angefangen hatte, um sie zu werben. Er hoffte, dass das vorübergehend war und nur so lange anhielt, bis er sich an den freien, glamourösen Lebensstil eines Junggesellen gewöhnt hatte, den Irwin inszenierte.

Als er jedoch sah, wie der jüngere Detective die Einfahrt hinaufschlenderte, sich dauernd mit der Hand durch die dichten Haare fuhr und den Text eines Popsongs halb trällerte, halb brummte, fragte er sich, welche Peinlichkeiten ihm noch bevorstanden, bis er dieses Ziel erreichte.

Ein junger Uniformierter mit ängstlichem Gesichtsausdruck hob das Absperrband an, um sie ins Cottage zu lassen. Das Eintreten in das Haus eines Mordopfers empfand Daly ähnlich wie den Einbruch in eine Kirche. Weil damit die Ruhe und die Unversehrtheit jener vier Wände verletzt wurden, die eigentlich die grausame Welt draußen halten sollten.

»Devine muss jemand mit ziemlich guten Kontakten zu Paramilitärs auf die Zehen getreten sein«, meinte Irwin. Sein Eifer kehrte zurück. »Was meinen Sie, welche Truppe das war? Die Real IRA, die Continuity IRA, die INLA oder die echte, irre, voll geheime IRA?«

»Nicht alle Arschlöcher auf der Welt sind republikanische Paramilitärs«, erwiderte Daly. »Aber wenn ich in diesem Fall wetten müsste, würde ich auch auf sie setzen.«

Die Eingangstür wies keinerlei Spuren eines gewaltsamen Eindringens auf, und weder in der Diele noch in einem der vollgestellten Zimmer schien es einen Kampf gegeben zu haben. Devine war so überstürzt aufgebrochen, dass er nicht einmal die Hintertür zugemacht hatte. Der Telefonhörer lag neben der Gabel, und in der Spülküche stand ein Topf mit klumpigem Porridge auf der Kochplatte.

»Jedes Haus erzählt eine eigene Geschichte«, sagte Daly.

Irwin steckte einen Finger in den Porridge und probierte. »Na, dann sieht mir die hier stark nach Goldlöckchen und die drei Bären aus.«

Die beiden Detectives traten ins Wohnzimmer, dessen gesamte Inneneinrichtung sich aus den 1950ern bis ins Heute gerettet hatte: Auf einer schweren Anrichte standen ein Röhrenradio und, als sentimentale Souvenirs aus dem katholischen Irland, ein religiöser Aufstellkalender und eine Flasche mit Weihwasser aus Knock. Außerdem gab es ein Porträt des vormaligen Papsts und eine Figur der Jungfrau Maria. Selbst die Lichtschneise, die von der Sonne durch das Zimmer geschnitten wurde, schien in der Vergangenheit festgefroren zu sein. Nur der Papst war, wie Daly bemerkte, staubfrei. Im Ringen um Gleichstellung hatte er gegenüber der verstaubten Marienfigur offenbar noch einen Vorteil.

Daly nahm die Marienfigur in die Hand und blies eine Spinnwebe weg. Marias Augen waren leer, ihre Gesichtszüge wirkten hagerer als die auf den Heiligenbildern, an die er sich erinnerte, so als hätte diese Jungfrau zu viele schlaflose Nächte erlebt. Oder bildete er sich das nur ein? Vielleicht war es auch eine Folge dessen, dass so viele verlorene Seelen Nachtwache hielten und Hunderte Male inbrünstig Marienlieder sangen.

Was die Haushaltsführung betraf, so war Devine nicht über Junggesellendurchschnitt hinausgekommen. Unter dem Küchentisch stand eine Kiste, aus der die leeren Stout-Flaschen ragten. In einem Gästezimmer gab es ein durchgesessenes Sofa, dessen mitgenommene Polster unter einer alten Decke lagen, und einen abgewetzten schwarzen Ledersessel. Das gesamte Cottage war mit grünem Linoleum mit Fliesenmuster ausgelegt, das nach Jahren der Abnutzung aber nur noch an wenigen Stellen zu erkennen war.

Das Einzige, was nicht den Eindruck eines verwehenden Lebens hinterließ, war eine Sammlung von Enten, die in einem Büfett und auf der tiefen Fensterbank in der Küche verteilt war. Beim ersten Blick auf die Enten stockte Daly kurz der Atem, weil er sie zunächst für echt hielt. Sie waren aus Holz geschnitzt und wirkten handbemalt. Als er näher trat, spiegelte sich das Zimmer im Glanz ihrer Glasaugen.

»Lockenten!«, entfuhr es Daly. »Nur wer allein lebt, kann seine Hobbys richtig ausleben.«

»Die sehen aus wie Antiquitäten. Sie könnten sogar ein bisschen was wert sein«, meinte Irwin und nahm eine in die Hand. Als der Kopf zu nicken anfing wie der einer fressenden Ente, hätte er sie vor Überraschung beinahe fallen gelassen.

»Jedenfalls könnten sie die Entenpfeife in Devines Hals erklären.«

»Nämlich?«

»Die Mörder fanden das wohl irgendwie witzig. Ein kranker Humor, aber die Pfeife passt zu Devine. Die Mörder müssen wissen, dass er ein Faible für Entenjagd hatte.«

Daly fiel ein, dass der vermisste David Hughes ebenfalls passionierter Entenjäger war. Hier schälte sich ein Muster heraus.

»Das ist doch pervers«, sagte Irwin angewidert. »Und ich dachte, die republikanischen Paramilitärs täten nichts anderes mehr als Blumensträuße binden und für Menschenrechte eintreten.«

Als es klingelte, fuhren beide herum.

Irwin ging nachsehen. Gleich darauf kam er mit verbissener Miene zurück.

»Keiner da. Wahrscheinlich ein dummer Scherz von einem Kollegen.«

Das Haus war bereits nach Fingerabdrücken abgesucht worden, alle Türgriffe, Gläser, Schubladen und Fensterscheiben waren mit Pulver eingepinselt worden. Es waren nur die Abdrücke von einer Person gefunden worden. Das war ungewöhnlich, aber Daly hatte schon geahnt, dass Devine ein Eigenbrötler gewesen war.

»Der nächste Nachbar hat angegeben, dass Devine Anfang letzten Jahres in diese Bruchbude gezogen ist«, sagte Irwin.

»Was, denken Sie, war der Grund dafür?«

Statt zu antworten, öffnete Irwin die Hintertür. Eine Böe blies einen Schwung altes Laub und trockene Ahornsamen über die Schwelle. Als Daly hinausging, eröffnete sich ihm ein weiter Blick auf den Lough Neagh mit seinen verzweigten, von Bäumen gesäumten Buchten. Er sah mehrere Landzungen, die er nicht genau erkannte, weil sie sich im windumtosten Nichts verloren. Es war der ideale Ausguck für einen Wilderer, nicht einsehbar und geschützt vor dem Treiben auf den Straßen, Feldern oder Dörfern. Der kurze, von undurchdringlichen Hecken gesäumte Weg zum Ufer glich einem Pfad an die Ränder des menschlichen Daseins. Am Himmel über ihm quäkte ein Schwarm Gänse mit lang gestreckten Hälsen im Winkelflug. Dalys Blick folgte der fliegenden Formation und wanderte dann zum Horizont, als hätten ihn alle Naturphänomene dorthin gelotst. Er gestattete sich einen Moment müßigen Schauens, ehe er ins Haus zurückkehrte.

Die friedliche Stimmung wurde durch das erneute Läuten der Türklingel gestört.

Irwin machte ein verdrießliches Gesicht, als er durch den Gang stapfte. Dieses Mal blieb er länger weg.

»Es ist mir schleierhaft, was für Knallköpfe die heute in den Dienst lassen«, sagte er bei seiner Rückkehr. »Keiner will’s gewesen sein.«

»Vielleicht ist es gar nicht die Türklingel«, sagte Daly und fing an, durch die Zimmer zu gehen und zu lauschen. Er sah in der dunklen Diele und im Wohnzimmer nach. Die Marienfigur und das Papstfoto standen still, auch die Lockenten bewegten sich nicht. Nur Staubteilchen schwebten in einem Sonnenstrahl, ein uraltes feines Staubgespinst.

Wieder klingelte es, nicht allzu laut, aber fordernd, Aufmerksamkeit heischend. »Ich weiß, dass da jemand ist. Warum antwortet niemand?«, schien das Läuten zu sagen. Dalys Nackenhaare sträubten sich.

»Glauben Sie an Geister?«, hörte er Irwin hinter sich fragen.

»In manchen Nächten glaub ich nicht mal an mich selber«, erwiderte Daly. »Aber hierfür muss es eine rationale Erklärung geben. Vielleicht hat Devine eine Art Alarmanlage, die ständig ausgelöst wird?«

Er nahm den Telefonhörer und legte ihn dann auf die Gabel. Die Leitung war stumm.

Sie stiegen eine schmale Treppe hinauf in eine Dachkammer. Dort lag ein Stapel Papier auf einer Kommode, vor allem Rechnungen und Broschüren für Lockenten und mehr Jagdausrüstung. Zu zweit durchsuchten sie die Kommodenschubladen und griffen auch in die Taschen von Hosen und Hemden. Am Boden einer Schublade lag ein geöffneter Umschlag. Daly zog ein Foto und eine handgeschriebene Einladung heraus. Sie galt der Versammlung eines Vereins von Entenjägern und stammte aus dem Vorjahr. Darauf stand: Nach dem Mittagessen und der Musik hält unser Vorstand David Hughes einen Vortrag. Das Foto zeigte eine Gruppe älterer Männer mit massenhaft toten Enten vor einer Art Unterstand oder Schuppen. Nachdem er den Pass und den Führerschein gesehen hatte, erkannte Daly das Mordopfer sofort. Er stand in der ersten Reihe, und mit seinem misstrauischen, traurigen Blick in einem Gesicht ohne Lächeln wirkte er wie ein Mensch, der am Rand seines eigenen Grabs kniete.

Daly konnte gerade noch den Poststempel auf dem Umschlag lesen, als es unten wieder klingelte. Es klang, als würde etwas tief in den Mauern des Cottage Verborgenes vibrieren.

»Das kommt ungefähr alle zehn Minuten«, sagte er.

Daly ging in den Trockenraum mit den Wasserrohren und klopfte gegen die Leitungen. In der Küche überprüfte er den Kühlschrank und den Wasserkessel. Beide waren abgeschaltet. Dann stellte er sich ins Wohnzimmer und wartete. Irwin lief unruhig durch das Haus und jagte eingebildeten Geräuschen nach. Auch das Haus selbst schien beunruhigt zu sein und knarrte und scheuerte an seinem Fundament.

Genau zehn Minuten später begann das Papstfoto zu wackeln, und eine weitere Staubwolke schwebte von der Anrichte auf. Das Klingeln war jetzt lauter und vorwurfsvoll, drängend. Daly nahm den Fotorahmen in die Hand. Dahinter lag ein rundes schwarzes Gerät, das mit jedem Vibrieren über die Anrichte rutschte. Daly schnappte es sich, noch bevor es verstummte. Es war ein Pager. Daly drückte auf Empfang, und eine Nachricht erschien: SICHTKONTAKT ZU ZIEL A VON HAUS 1 ZU HECKE C3. SPRICHT MIT EVT UNBEK. IN HAND METALLOBJ. Die Nachricht war vor zwei Tagen gesendet, aber nicht beantwortet worden.

Irwin sah erst den Text, dann Daly fragend an.

»Wer schaut denn da wohin?«

»Möglicherweise ein Entenjäger? Keine Ahnung.«

Beim Nachdenken zwickte Irwin die Augenbrauen zusammen, was ihm das Aussehen eines grübelnden Schuljungen verlieh. »Vielleicht war Devine das Ziel. In diesem Fall wäre es nicht beim Sichtkontakt geblieben.«

Daly sah den Nachrichteneingang des Pagers durch. Er fand eine Reihe weiterer, ähnlich kryptischer Botschaften. Zwei davon waren in der vergangenen Woche gekommen, beide in einem offenbar sehr sorgfältig chiffrierten Code verfasst. Darin schien es um einen Mann in einem Haus zu gehen, in dem er womöglich wohnte. SICHTKONTAKT ZU ZIEL A VON C4 BEWEGUNGSLOS AN GIEBELWAND, und dann A TRÄGT PAPIER ZU HECKE C3. KEIN SICHTKONTAKT. ERSCHEINT BEI C2 BEWEGUNGSLOS. DANN ZURÜCK ZU HAUS 1.

Daly fragte sich, warum diese Nachrichten geschickt worden waren. Um Devines Verfolgungswahn neue Nahrung zu geben oder um ihn zu warnen, dass er beobachtet wurde? Er starrte durch das kleine Fenster auf die Hecke kahler, im Wind wogender Schlehdornsträucher, die den Garten einfassten. Dabei dachte er an Eliza Hughes und ihren herumirrenden Bruder, huschende nächtliche Schatten und ein Augenpaar, das offenbar niemals den Blick von dieser geheimnisvollen Landschaft nahm.

Sie wollten das Cottage gerade verlassen, als ein teuer aussehender Mercedes heranfuhr und ein kleiner, grauhaariger älterer Mann ausstieg. Er hatte das zufrieden-selbstgerechte Auftreten, das zu reichen Männern gehörte wie Zigarrengeruch und das Zischen von Golfschlägern.

»Inspector Daly«, rief er, »wieder führen uns widrige Umstände zusammen. Selten kreuzen sich unsere Wege bei eitel Sonnenschein.«

Der Mercedes-Fahrer war der Anwalt Malachy O’Hare, einer der mächtigsten Vertreter der örtlichen Zunft.

»Was bringt Sie denn hierher?«, fragte Daly.

»Reine Neugier. Ich wollte sehen, wo sich Joseph versteckt hatte.« Die volltönende, melodiöse Stimme des Anwalts erklang in letzter Zeit allerdings öfter, um Lokalrunden zu schmeißen, als Verbrechern die Haut zu retten. Er schien auch nicht mehr richtig vertraut mit polizeilichen Ermittlungsmethoden.

»Das ist ein Tatort, Mr. O’Hare.« Daly deutete auf das gelbe Absperrband. »Weiter dürfen Sie nicht.«

»Einer Ihrer Männer hat mich heute Morgen angerufen. Joseph war früher bei uns angestellt, vierzig Jahre war er in der Kanzlei als Gehilfe tätig.« O’Hare sah Daly offen und gewinnend an. »Wir vermuten, dass er noch etwas hat, das uns gehört.« Er sprach freundlich, aber mit Nachdruck.

»Na, genau solche Informationen will ich doch hören.« Daly setzte ein professionelles Lächeln auf. »Um was handelt es sich denn?«

»Ach, nur ein paar Akten zu alten Fällen. Keine laufenden Verfahren. Aber zum Schutz unserer Mandanten müssen wir natürlich Vertraulichkeit wahren.«

»Dann kommen Sie doch mal mit«, sagte Daly. »Und währenddessen erzählen Sie mir alles, was Sie über Mr. Devine wissen.«

»Was soll ich groß berichten, außer dass er ein guter Kanzleigehilfe war? Über sein Privatleben hat er kaum etwas erzählt.«

»Aber Sie glauben, dass er wichtige Akten mitgenommen hat?«

Vor dem ersten Schritt ins Cottage trat sich O’Hare auf der abgewetzten Türmatte seine teuren Schuhe ab. »Sagen wir, man hatte da so einen Verdacht.«

Trotz des Zwielichts im Haus erkannte Daly, dass aus den Augen des Rechtsanwalts Unruhe sprach. Er wartete geduldig in der Hoffnung, dass sich während ihres Gesprächs zeigen würde, warum der Anwalt den ungewöhnlichen Schritt unternommen hatte, so eilig an einem Tatort aufzutauchen.

Mit gerunzelter Stirn blickte O’Hare auf die Lockenten-Sammlung. Er zog die Augenbrauen hoch, als wären sie Geschworene, die gleich ein Urteil verkündeten.

»Man staunt immer wieder, was die Mitarbeiter privat so treiben. Ich wusste gar nicht, dass er sich für Enten interessiert. Vielleicht war er zwanghaft? Man soll ja über Tote nichts Schlechtes sagen, aber ich habe ihn immer für einen geistlosen, langweiligen Menschen gehalten.«

»Wir sind nicht hier, um den Stab über ihn zu brechen«, entgegnete Daly.

»Devine war bei uns fast so lange Kanzleigehilfe, wie ich Rechtsanwalt bin«, fuhr O’Hare mit der unaufgeregten Exaktheit eines Staatsanwalts fort, der darlegt, was gegen den Beklagten vorgebracht wird. »Und eins können Sie mir glauben: Er war geistlos. Diese Lockenten haben sich seit unserem Eintreten kein Jota bewegt, aber trotzdem steckt in ihnen mehr Leben, als je in dem Mann war, Gott sei seiner Seele gnädig. Ich würde mir lieber eine Glatze rasieren lassen, als mit ihm plaudern zu müssen. Er war der größte Langweiler in der Kanzlei. Aber vermutlich ist in der Juristerei eine gewisse Bräsigkeit keine schlechte Eigenschaft. Wer keine Langeweile aushält, hat als Anwalt auf Dauer keinen Erfolg.«

»Fällt Ihnen jemand ein, der ihn gerne tot gesehen hätte? Vielleicht ein unzufriedener Mandant?«

»Unsere Kanzlei befasst sich fast ausschließlich mit den Alltagsgeschäften des menschlichen Miteinanders: Verträge, Auflassungserklärungen, Testamente … Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass sich ein Mandant so über Joseph aufregen könnte, dass er ihn umbringen möchte. Allerdings gab es einmal einen Fall, bei dem er mitten auf einer Beerdigung einen Schriftsatz überbracht hat. In dem Moment, als Joseph dem Mann die Papiere aushändigte, wurde dessen Vater ins Grab hinabgelassen. Ich glaube, dass er sich über die emotionalen Auswirkungen nicht im Klaren war. Aber das ist lange her, das war in den Siebzigern. Abgesehen davon fällt mir kein Grund ein, warum ihn jemand hätte umbringen wollen.«

O’Hare erlag seiner Neugier und nahm eine Lockente in die Hand.

»Wir sollten den Wert dieser Stücke taxieren lassen«, sagte er, ohne sich allzu sehr für die Enten zu interessieren. Vielmehr blickte er forschend im Zimmer umher.

»Vielleicht sollte ich einen Mitarbeiter schicken, der sich ein bisschen Zeit nimmt und Josephs Hinterlassenschaften durchgeht. Es gibt auch bei Lockenten Antiquitäten, für die es Sammler gibt. Man müsste eine Vermögensaufstellung machen. Sie könnten unseren Mann ja im Haus einsperren und durchsuchen, wenn er rauskommt. Die Wertgegenstände lassen sich sicher in ein, zwei Stunden erfassen.«

»Und ihn durch eventuelle Beweisstücke wühlen lassen? Sie sollten eigentlich besser Bescheid wissen, als mir so was vorzuschlagen.«

»Ja, ja, natürlich, Sie haben recht.«

O’Hare warf Daly erneut einen Blick zu, um festzustellen, wie sehr sich der im Raum stehende Verdacht verdichtet hatte. Er musste es auf andere Art versuchen.

»Wurde die Leiche denn zweifelsfrei identifiziert?« Um einen persönlicheren Ton bemüht, neigte er sich bei der Frage zu Daly.

»Wenn nicht, dann haben Sie sich unbefugt Zutritt in das Haus eines Vermissten verschafft, und wir haben zwei Straftatbestände zu klären, nicht bloß einen. Halten Sie es denn für ausgeschlossen, dass er durch fremde Hand zu Tode kam?«

»Seltsam finde ich es schon.«

»Was ich seltsam finde, ist, dass Sie, nur weil ein Officer heute Vormittag anruft, alles stehen und liegen lassen und hierherkommen. Das ist wirklich seltsam. Devine war nur ein kleiner Angestellter Ihrer Kanzlei, und er war seit längerer Zeit nicht mehr für Sie tätig.«

»Ojemine«, seufzte O’Hare. »Alles an dieser Situation – die Umgebung, der verwahrloste Zustand des Hauses – wirkt auf mich höchst ungewöhnlich. Ich verstehe überhaupt nicht, warum er hierhergezogen ist.«

»Wenn man an einen solchen Ort zieht, tut man das, weil man vor irgendwas flieht. Verkehrsstaus, die Hektik des Alltags, Langeweile, die Vergangenheit«, meinte Daly. »Die langen verregneten Nachmittage und der gelegentliche Sonnenuntergang allein machen’s wohl nicht aus.«

O’Hare machte ein ernstes Gesicht. »Ich fürchte, uns stehen noch mehr unangenehme Überraschungen bevor. Sie müssen mich informieren, wenn Sie vertrauliche Unterlagen von uns finden. Andernfalls könnte der Ruf der Kanzlei schweren Schaden nehmen.« Ein schiefes Lächeln huschte über O’Hares Mund, dann flüsterte er, fast als redete er mit sich selbst: »Die Vergangenheit ist ein vollgeschissener Nachttopf, und Devine hat darin mit einem großen Stock herumgerührt.«

»Die einzige unangenehme Überraschung für mich ist der Mord an diesem Mann. Wir werden alles dransetzen, die Mörder zu fangen. Aber wenn irgendwelche Unterlagen auftauchen, geb ich Ihnen Bescheid.«

Zum Abschied ließ O’Hare noch einen besorgten Blick durch das Zimmer schweifen. Devines Tod schien ihn ernsthaft zu beunruhigen. Seine Nervosität rief Daly ins Gedächtnis, dass der Anwalt bereits während der Troubles tätig gewesen war und zur Selbstverteidigung wohl auch eine Waffe getragen hatte. Es war eine Zeit voller Gewalt gewesen, und Anwälte waren eine Spezies, die nicht darauf hoffen konnte, sich viele neue Freunde zu machen.

»Sie sehen nicht gut aus«, sagte Daly.

O’Hare massierte seinen Arm. »Zu hoher Blutdruck. Der Arzt sagt, ich soll mehr Zeit auf dem Golfplatz verbringen. Und wenn mich Devine nicht am Donnerstag angerufen hätte, wäre ich jetzt auch dort.«

»Das erklärt vielleicht Ihre Besorgnis«, sagte Daly. »Warum hat er Sie denn angerufen?«

»Es war ein eigenartiges Gespräch.« Bei diesen Worten wurde der Ausdruck auf O’Hares blassem Gesicht verkniffen. »Er sagte, er wolle mit mir reden, aber nicht am Telefon. Als ich wissen wollte, wo, sagte er nur: ›Ich geb Ihnen Bescheid.‹ Er sagte, er wolle Informationen über einen alten Fall. Er gab auch zu, wichtige Akten mitgenommen zu haben. Aber mehr habe ich nicht aus ihm herausbekommen. Ich habe angefangen, mit ihm über dies und das zu plaudern, das Wetter, die Gesundheit, wo er jetzt lebt. Da hat er erzählt, er habe ein wunderbares Plätzchen am Lough gefunden. ›Ein schöner Ort zum Sterben‹, hat er gesagt. Ich dachte, dass er wohl schön langsam verrückt wird.«

Im nächsten Moment lenkten Irwins Rufe ihre Aufmerksamkeit nach draußen. Ein Officer hatte in einer Ecke des Gartens die Überreste eines Feuers entdeckt. Der Anwalt folgte Daly ins Freie.

Unter der grauen Asche befand sich ein Karton mit halb verbrannten Papieren. O’Hare erkannte den Karton und begann zu strahlen. Sein Selbstvertrauen kehrte zurück, und mit einem siegessicheren Lächeln streckte er die Hand nach den angekohlten Akten aus.

»Augenblick. Der Brandstelle darf nichts entnommen werden«, sagte Daly drohend. »Nicht mal von unseren Leuten. Auch wir müssen uns an die Regeln halten.«

»Warum?«

»In der Asche befinden sich Gegenstände aus dem Haus. Wir können nicht ausschließen, dass Baumaterial mit Asbest dabei ist. Daher darf niemand diese Asche berühren, bis ein Team mit entsprechender Schutzausrüstung da ist. Und ich weiß nicht, wie lang das dauert.«

»Diese Akten sind möglicherweise eine tickende Zeitbombe. Wer weiß, welche vertraulichen Informationen sie enthalten«, sagte O’Hare schrill.

»Lungenkrebs ist eine schreckliche Krankheit. Ich selbst hab zwar noch nicht erlebt, wie jemand daran gestorben ist, aber ich habe gehört, dass die Erkrankten am Ende an ihrem eigenen Blut und Speichel ersticken.«

O’Hare zog ein großes Taschentuch aus der Hosentasche und legte es sich über den Mund. Für einen Moment starrten er und der Detective die tickende Zeitbombe an. Kurz blitzte in den Augen des Anwalts Enttäuschung auf, dann fasste er sich und fand zu seiner charmanten Unverbindlichkeit zurück.

»Also gut, Inspector. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Ich würde gerne informiert werden, sobald die Überreste des Feuers untersucht wurden. Diese Akten sind weiterhin Eigentum der Kanzlei.«

Nachdem O’Hare abgefahren war, kehrte Daly zu der Feuerstelle zurück. Die spontane Reaktion des Anwalts hatte gereicht, ihn zu der kleinen Lügengeschichte zu veranlassen. Er schob die Asche beiseite und zog die Akten heraus. Justitias Waage würde durch einen hinters Licht geführten Anwalt nicht groß aus dem Gleichgewicht kommen.

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