Читать книгу Der Gesang der Orcas - Antje Babendererde - Страница 11

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5. Kapitel

Henry Soones warf den Motor der Victoria wieder an und fuhr mit uns noch ein Stück die Küste entlang nach Süden. Vermutlich um die Zeit einzuhalten, die für den Ausflug angesetzt war. Tiere sahen wir nicht mehr, bewunderten aber einstimmig die Schönheit der rauen Küste. Doch dann verschwand die Sonne auf einmal und die Wolken am Himmel wurden dichter. Die blauen Löcher zogen zu und es fing an, zu regnen. Wir stülpten unsere Kapuzen über die Köpfe und Papa brachte seine Kamera vor dem Regen in Sicherheit.

Javids Onkel steuerte das Boot sicher zurück in den Hafen von Neah Bay, wo wir uns bei ihm für den gelungenen Ausflug bedankten und uns verabschiedeten.

Das Ehepaar Austin hatte es eilig, ins Motel zurückzukommen. Die Bootstour war für die alten Leutchen wahrscheinlich anstrengend gewesen und nun wollten sie etwas essen und danach ein Mittagsschläfchen halten. Mein Vater offenbarte mir, dass er schon die ganze Zeit Zahnschmerzen hatte, die nun so schlimm geworden waren, dass er eine Schmerztablette nehmen musste.

»Du hast gar nichts gesagt«, bemerkte ich vorwurfsvoll.

»Ich dachte, es geht wieder weg. Der Zahn macht mir schon seit einiger Zeit Ärger.« Er drückte mir einen Zwanzigdollarschein in die Hand und sagte: »Hier, du hast bestimmt Hunger. Vielleicht bekommst du im Supermarkt etwas. Kauf ruhig ein bisschen Obst ein und was zu knabbern, damit wir auch mal was für unterwegs dahaben.«

»Und du?«, fragte ich.

Er betastete vorsichtig seinen Unterkiefer. »Mir ist der Appetit vergangen. Ich lege mich im Motel ein bisschen hin.«

Ich nahm das Geld und vor dem Motel trennten wir uns. Regen trieb mir ins Gesicht. Den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, lief ich die Hauptstraße von Neah Bay entlang. Es war nicht kalt, aber furchtbar nass. Ich dachte, dass dies vermutlich die dunkelste und feuchteste Ecke von ganz Amerika war. Ausgerechnet hierher hatte es mich verschlagen: an einen Ort am Ende der Welt!

Zum Ausgleich war ich allerdings Javid begegnet und dem Ozean mit diesen wunderschönen, faszinierenden Geschöpfen, den Orcas. Ihre riesigen, glänzenden Körper mit den kräftigen Flossen gingen mir nicht aus dem Sinn, genauso wenig wie Javid Ahdunko.

»Hey Copper«, rief auf einmal jemand hinter mir und ich drehte mich um, weil ich seine Stimme erkannte. Ich blickte über die Straße, um mich zu vergewissern, dass er tatsächlich mich meinte. Javid holte mich ein und grinste, die Hände tief in den Taschen seiner alten gelben Wetterjacke vergraben. »Wo willst du denn hin?«

»Ich hab Hunger«, sagte ich, was sogar stimmte, und sah ihn an. Er hatte seine Baseballkappe jetzt richtig herum auf, damit das Schild ihm den Regen aus dem Gesicht hielt.

»In Washburnes Supermarkt gibt’s was zu essen«, sagte er. »Wenn du nichts dagegen hast, komme ich mit.«

Ich zuckte die Achseln. Es war eine einstudierte Geste, um meine Gefühle zu verbergen und noch unberührbarer zu scheinen, als ich es ohnehin schon war.

Sollte das etwa ein Annäherungsversuch gewesen sein? Und wie hatte er mich gerade genannt? Copper? Kupfer. Keine Ahnung, ob er sich über meine roten Haare lustig machen wollte oder was auch immer es bedeutete. Es hatte nicht abschätzig geklungen, aber ich war aus Erfahrung misstrauisch. Wortlos lief ich weiter und Javid trabte neben mir her.

»He«, sagte er, »du hast es aber eilig.«

»Es regnet«, erwiderte ich.

»Na und? Hier regnet es dauernd, aber niemand rennt deswegen.« Er breitete seine Arme aus wie Flügel.

Ich lief ein bisschen langsamer.

»Haben sie dir gefallen?«, wollte er wissen.

»Wer?«, fragte ich.

Ich hörte sein Seufzen. »Die Wale natürlich.« Er blieb stehen und hielt mich am Arm fest. »Hey, Copper, was ist eigentlich los mit dir?«

Die Frage kam unerwartet. Schon lange hatte niemand mehr wissen wollen, was mit mir los war. Mir wurde eng in der Kehle und ich musste schlucken. »Ich heiße Sofie«, sagte ich und sah ihm in die Augen. Sie glänzten schwarz wie die Rückenflossen der Orcas und hielten meinem fragenden Blick stand.

»Gefällt dir Copper nicht?«

»Niemand mag es, wenn er verspottet wird«, antwortete ich.

Nun blickte Javid überrascht. »Ich verspotte dich nicht. Mir gefallen deine Haare, sie glänzen wie flüssiges Kupfer. Ich habe noch nie jemanden mit solchen Haaren gekannt.« Er hob die Hand und griff nach einer Strähne, die meinem Haarband entschlüpft war und unter der Kapuze hervorquoll. Als ich einen Schritt zurückwich, ließ er seine Hand wieder sinken.

»Warum sollte ich dir glauben?«, fragte ich schroff.

Javid runzelte die Stirn. »Weil ich kein Lügner bin.«

Er klang so aufrichtig, dass ich mich plötzlich schämte. Ich sah weg. »Das habe ich ja auch nicht gesagt.«

»Dann drück dich doch mal klar aus!«

Stumm schüttelte ich den Kopf, aus Angst, das Falsche zu sagen. Ich fürchtete, er würde mich nun einfach im Regen stehen lassen und fortgehen.

Aber Javid ging nicht. »Weißt du«, fing er an, als hätte er soeben beschlossen Geduld mit mir zu haben, »vor ein paar Jahren, ich war damals sieben oder acht, fuhren meine Eltern für zwei Tage in die Stadt und ich blieb bei meiner Großmutter. Sie wohnte in einem alten Haus am Strand. In der Nacht tobte ein gewaltiger Sturm und ich hatte große Angst. Um mich abzulenken, erzählte mir meine Großmutter die Geschichte von Kupferfrau, der ersten Frau, aus deren Bauch unsere Vorfahren kommen. Kupferfrau hatte grüne Augen und rotes Haar«, sagte er, »genau wie du. Und sie war unglücklich, weil sie sehr einsam war.«

Ich stand da, mit Füßen schwer wie Blei, und lauschte auf das, was Javid mir auf dem nass glänzenden Asphalt der Hauptstraße von Neah Bay erzählte.Den Regen spürte ich nicht mehr, obwohl er kaum nachgelassen hatte. Noch nie hatte ich etwas so Schönes aus dem Mund eines Jungen gehört. Bisher hatte ich nicht gewusst, wie glücklich Worte machen können.

»Großmutter sagte, die Weisheit eines Volkes müsse immer durch die Frauen überliefert werden«, fuhr er fort, »weil nur sie den Mut haben, sich an die Wahrheit zu halten.« Javid suchte nach meinem Blick. »Kupferfraus Töchter erkennt man an ihren Augen. Grüne Augen sind das Zeichen für eine alte Seele, die wiedergeboren wurde. Du hast wunderschöne grüne Augen, Copper.«

Verlegen blickte ich auf meine Schuhe hinunter und wusste nicht, was ich sagen sollte. Javid legte seine Hand versöhnlich auf meine Schulter und meinte: »Na komm, ich denke, du bist hungrig.« Er zeigte auf den Parkplatz vor dem Supermarkt. »Wir sind gleich da.«

Washburnes General Store war der einzige Supermarkt in Neah Bay, ein großer, kastenartiger Bau mit ausgeblichener Bretterverkleidung und einem betonierten Parkplatz davor. Zwei frisch bemalte Totempfähle standen zur Linken und zur Rechten des Einganges, wie Wächter mit aufgerissenen Augen und großen Zähnen.

Javid holte einen Einkaufswagen und wir schoben ihn gemeinsam durch die Regalreihen der Markthalle. Hier gab es neben Lebensmitteln auch einiges, was man sonst noch täglich brauchte, wenn man in einem Ort wie Neah Bay wohnte: jede Menge Angelbedarf, Spielzeug für kleine Kinder und Kleidungsstücke für jedes Alter. Da war ein ganzes Sortiment an wetterfester Kleidung, von Regenjacken über Gummihosen bis zu verschiedenen Gummistiefeln und -schuhen.

Es gab auch eine kleine Ecke mit Schulbedarf und in der entdeckte ich eine Packung mit Tubenfarben, die vermutlich schon ewig dort lag. Ich öffnete die Schachtel und testete, ob die Farben in den Tuben noch weich waren, dann legte ich sie in den Wagen.

»Das ist Farbe«, sagte Javid mit einem verwunderten Lächeln. »Davon wirst du nicht satt.«

»Vielleicht doch«, erwiderte ich und übernahm das Kommando über den Einkaufswagen, um ihn zu den Regalen mit den Lebensmitteln zu schieben.

Ich suchte ein paar Snacks aus und ließ mich dabei von Javid sachkundig beraten (er wusste, was zu süß war), dann legte ich eine Tüte Äpfel dazu. Das übrige Obst sah nicht mehr besonders appetitlich aus und ich hatte das Gefühl, alles roch irgendwie nach Tang und Fisch.

An der Kasse saß eine junge Indianerin. Sie musterte Javid und mich neugierig und hätte sicher gerne gewusst, wer ich war. Der spöttische Ausdruck in ihrem Gesicht entging mir nicht. Was hatte er zu bedeuten? Lachte sie über mich oder über Javid? Was wusste ich schon über ihn? Gar nichts. Außer dass er verdammt gut aussah und sicher enorme Chancen bei sämtlichen Mädchen von Neah Bay hatte. Warum gab er sich dann eigentlich mit mir ab? Bloß weil ich rote Haare hatte und grüne Augen? Vielleicht war ich naiv, dämlich war ich jedenfalls nicht.

Javid ließ mir keine Zeit zum Grübeln. Schon zog er mich weiter, in eine Ecke neben der Kasse, wo drei Resopaltische und ein paar Plastikstühle standen. Es roch nach Muscheln und überbackenem Käse, und was da hinter den heißen Scheiben vor sich hin blubberte, machte mir nicht unbedingt Appetit. Aber ich hatte wirklich großen Hunger und so entschied ich mich kurzerhand für den Nudelauflauf.

Javid kaufte mir eine Portion und bestellte sich selbst einen Becher Muschelsuppe, eine weißliche Flüssigkeit, in der undefinierbare graue Stückchen schwammen. Als ich ihm das Geld zurückgeben wollte, wehrte er gekränkt ab.

»Ich hab dich eingeladen«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ihr in Deutschland für komische Bräuche habt, aber bei uns bezahlt man nicht, wenn man eingeladen wurde.«

Javid Ahdunko hatte mir tatsächlich ein Essen spendiert. Das hatte noch nie ein Junge für mich getan. Ich bedankte mich bei ihm mit einem Lächeln. Dann verschlang ich meine Nudeln und war überrascht, wie gut sie schmeckten. Vor allem wohl deshalb, weil sie in einer dicken Soße aus Käse und Sahne schwammen.

»Willst du mal von meiner Suppe probieren?«, fragte Javid und hielt mir den Becher unter die Nase. Ich schüttelte den Kopf und konnte nicht verhindern, dass ich mein Gesicht verzog. Für Muscheln hatte ich noch nie was übrig gehabt.

Er lachte. »Sie schmeckt besser, als sie aussieht, glaub mir. Mit vielen Dingen ist das so. Erst bist du enttäuscht, weil du ganz andere Vorstellungen von einer Sache hattest. Und wenn du dir nicht die Mühe machst, hinter die Fassade zu schauen, wirst du enttäuscht bleiben. Man muss sich schon ein bisschen anstrengen, um das Schöne zu finden.«

Ich schluckte überrascht. Was waren das für Worte? Und noch dazu von einem Jungen wie Javid. Verbarg sich vielleicht eine alte Seele hinter seinem hübschen Gesicht, obwohl er schwarze Augen hatte und keine grünen?

Noch einmal reichte Javid mir den Pappbecher mit der Suppe. »Na los«, sagte er, »sei nicht feige und probier sie! Mach einfach die Augen zu und nimm einen Schluck.«

Ich schloss meine Augen und hielt den Atem an, als ich die Suppe probierte. Aber Javid hatte Recht: Sie schmeckte tatsächlich, auch wenn man es ihr nicht ansah. »Gut«, sagte ich, nachdem ich meine Augen wieder aufgemacht hatte. Er nickte und grinste zufrieden, als er den Becher wieder in Empfang nahm.

Als wir den Supermarkt verließen, nieselte es nur noch. Javid entpuppte sich als Kavalier und trug die Tüte mit meinen Einkäufen bis zum Motel. Auf der Treppe zu den oberen Zimmern verabschiedete ich mich von ihm.

»Danke für die Nudeln und fürs Tragen«, sagte ich und streckte die Hände nach meiner Einkaufstüte aus. Aber Javid machte keine Anstalten, sie mir zu geben. Mit einer Kopfbewegung zur Tür neben dem Treppenaufgang, die – wie ich annahm – in sein Zimmer führte, fragte er: »Hast du Lust, noch einen Augenblick mit reinzukommen?«

Ich schüttelte brüsk den Kopf. Diese Einladung kam dann doch ein bisschen überraschend und ich blockte erst einmal ab. »Mein Vater hatte vorhin mächtige Zahnschmerzen und ich will erst einmal sehen, wie es ihm geht. Außerdem muss ich mich umziehen. Ich bin ganz nass und langsam wird mir kalt.«

Javid akzeptierte meine lange Ausrede und reichte mir die braune Papiertüte. »Okay. Solltest du es dir anders überlegen, brauchst du nur zu klopfen. Ich bin da.«

Zuerst einmal klopfte ich an der Zimmertür meines Vaters und fand ihn lesend auf seinem Bett. Seine rechte Gesichtshälfte war geschwollen und er lächelte schief. Mitleidig sah ich ihn an. »Sieht gar nicht gut aus«, sagte ich, zog meine Regenjacke aus und setzte mich zu ihm aufs Bett.

Er legte das Buch zur Seite. »Ich war schon bei Freda, aber sie hat mir abgeraten in Neah Bay zum Zahnarzt zu gehen, wenn es etwas Ernstes ist. Also werde ich morgen Vormittag nach Port Angeles fahren, einen Termin habe ich schon. Du kannst mitkommen, wenn du willst, und dir die Stadt ansehen.«

Ich nickte. »Werde es mir überlegen. Hast du Hunger?«

»Was hast du denn mitgebracht?«

Ich kippte meine Einkäufe auf den Tisch und sagte resigniert: »Wahrscheinlich nichts für jemanden, der so aussieht wie du.«

Papa erhob sich vom Bett, begutachtete meinen Einkauf und lächelte kopfschüttelnd. »Du hast Recht. Aber Hunger habe ich trotzdem.« Er ging zum Fenster, die rechte Hand auf seiner geschwollenen Wange. »Ich glaube, das Wetter hat sich ein bisschen gebessert. Hast du Lust, noch etwas herumzufahren und die Gegend zu erkunden?«

»Heute nicht mehr«, antwortete ich seufzend. »Ich bin ganz nass und will erst einmal duschen. Mir ist kalt.«

Er sah mich an. »Siehst wirklich ein bisschen erfroren aus. Werde nur nicht krank.«

»Hab ich nicht vor.«

»Okay«, meinte Papa kurz entschlossen. »Dann fahre ich noch mal alleine los.« Er sah wieder aus dem Fenster. »Die Stimmung ist verrückt, sieh dir die Farben an. Vielleicht kann ich ein paar gute Fotos machen. Und vielleicht bekomme ich ja irgendwo eine Mahlzeit, die nicht gekaut werden muss.«

»Im Supermarkt gibt es prima Muschelsuppe«, sagte ich. »Die kann ich dir empfehlen.«

»Erzähl mir nicht, dass du Muscheln gegessen hast?« Papa runzelte verwundert die Stirn.

Immerhin, er wusste also doch etwas über mich. »Ja«, sagte ich, »stell dir vor.« Ich schnappte mir einen Apfel und ein, zwei Müsliriegel, wünschte ihm viel Spaß und verschwand in meinem Zimmer.

Ich war froh endlich die Regenjacke und meine nasse Hose loszuwerden, die beide nach Fisch rochen. Diesen Fischgeruch würde ich vermutlich so lange nicht loswerden, wie wir hier in Neah Bay waren. Fischindianer, hatte mein Vater die Makah genannt. Auch Javid war ein Fischindianer.

Ich duschte ausgiebig und zog frische Sachen an: meine weiten graugrünen Hosen mit den vielen Reißverschlüssen und Taschen und das einzige enge T-Shirt, das ich besaß. Eswar schwarz und langärmlig und ich hatte es noch nicht oft getragen.

Mit kritischem Blick befragte ich den großen Spiegel in meinem Zimmer. Er war dunkel angelaufen und hatte schwarze Flecken und Risse dort, wo die Silberbeschichtung abgeblättert war. Aber das Spiegelbild schmeichelte mir. Während ich mein Haar bürstete, dachte ich daran, was Javid mir von der Kupferfrau erzählt hatte. Ich fragte mich, ob er an solche Geschichten glaubte. Er machte auf mich einen ziemlich pfiffigen Eindruck und möglicherweise kannte er ja viele derartige Geschichten – jeweils eine passend zu jeder Gelegenheit. Aber vielleicht ließen sich Makah-Mädchen von Makah-Geschichten auch nicht so schnell beeindrucken, wie ich es heute getan hatte.

Natürlich war ich neugierig auf Javids Zimmer und hätte gern gewusst, ob er noch an seine Einladung dachte. Nachdem Papa losgefahren war, ging ich nach unten, nahm all meinen Mut zusammen und klopfte.

Der Gesang der Orcas

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