Читать книгу Der Gesang der Orcas - Antje Babendererde - Страница 9

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3. Kapitel

In Neah Bay gab es nur zwei Motels und wir entschieden uns für das kleinere mit einem bunten Totempfahl davor. Seine einst kräftigen Farben waren verblichen, trotzdem machte er Eindruck auf mich. Die riesigen schwarzen Augen und vor allem das breite Maul des seltsamen Wesens, das er darstellen sollte, sahen Furcht erregend aus. Große weiße Zähne, wie die Tasten eines Klaviers. Eine lang heraushängende rote Zunge. Ein Wolf vielleicht, dachte ich, oder ein Bär.

Das Motel stand direkt an der Hauptstraße, aber die Zimmer gingen nach hinten auf eine umzäunte Wiese hinaus. Ein paar Nadelbäume standen dort und eine überdimensionale schwarze Satellitenschüssel. Das einstöckige, mit wetterverblichenen Holzschindeln verkleidete Gebäude hatte die Form eines Winkels und sah einladend aus, was man von vielen anderen Gebäuden in Neah Bay nicht behaupten konnte. Den meisten Häusern hätten ein bisschen frische Farbe und ein paar Reparaturen gut getan. Vielleicht gab es hier niemanden, der handwerklich geschickt war, dachte ich. Aber die Trostlosigkeit des Ortes störte mich kaum. Im Gegenteil, genauso wie das Wetter passte dieses graue Indianerdorf zu meinen Gefühlen. Schon hatte ich Sorge, dass mir in den nächsten Tagen die dunklen Farben in meinem Farbkasten ausgehen könnten.

Die Motelbesitzerin hieß Freda Ahdunko. Ich schätzte sie auf Mitte dreißig und fand sie ausgesprochen hübsch. Dunkle Haut, schwarz glänzende lange Haare, schräge dunkle Augen. Als wir nach den Zimmerpreisen fragten,machte sie uns ein Angebot: Wir konnten zwei frisch renovierte Zimmer im Erdgeschoss haben, mit holzverkleideten hellen Wänden, bedruckten Vorhängen, einem Fernseher und neuem Mobiliar. Diese Zimmer waren allerdings erheblich teurer als die anderen im ersten Stock, die sie uns danach zeigte: Sie waren abgewohnt, das Holz an den Wänden war stark gedunkelt und es roch nach abgestandener Luft. Dafür waren sie bezahlbar und der Ausblick war besser. Vom breiten Treppenaufgang aus, der sich wie eine Veranda um die obere Etage zog, hatte man einen Blick auf die Wälder hinter dem Ort und konnte gleichzeitig den Hafen sehen.

Die Indianerin erklärte uns, dass sie das Motel erst vor anderthalb Jahren gekauft hatte und es nun nach und nach renovieren ließ. »In Ordnung sind die oberen Zimmer trotzdem«, sagte sie ein wenig brüskiert, als sie Papas Zögern bemerkte.

Mein Vater nickte. »Wir nehmen diese beiden«, sagte er. »Für drei Wochen.«

Freda Ahdunko riss überrascht die schwarzen Augen auf. »Das ist ziemlich lange für einen Ort wie Neah Bay!«, sagte sie. Ich merkte, dass sie gerne gewusst hätte, was wir vorhatten, aber sie hütete sich davor, neugierige Fragen zu stellen.

Mein Vater war guter Laune und beantwortete ihr die unausgesprochene Frage. »Ich bin Fotograf und soll für einen Bildband Aufnahmen vom Makah-Stammesfest machen.«

»So, so.« Ein kurzes Zögern. »Und da kommen Sie schon jetzt?«

»Warum nicht?« Papa schien dieses Gespräch irgendwie zu amüsieren. »Es wird in diesem Buch auch Bilder vom Regenwald und von der Küste geben. Meine Tochter und ich werden unsere Ausflüge eben von hier aus machen. Ich wollte nur sichergehen, dass wir auch eine ordentliche Unterkunft finden. Zu den Festtagen soll hier ja alles ausgebucht sein.« Er schmunzelte in sich hinein.

Freda sah ihn schräg von der Seite an, und als sie merkte, dass er scherzte, sagte sie: »Na, die ordentliche Unterkunft ist Ihnen auf jeden Fall sicher.« Sie lächelte versöhnlich und ich sah, dass sie nicht nur hübsch, sondern schön war. Das warme Leuchten in ihren dunklen Augen erinnerte mich an meine Mutter.

»Aber Sonnenschein kann ich nicht garantieren«, meinte sie spöttisch. »Ich hoffe, Sie wissen, worauf Sie sich da eingelassen haben.Man nennt diesen Landstrich auch >die Regenküste<.«

»Hab schon davon gehört«, sagte mein Vater. »Wir werden versuchen damit zurechtzukommen.«

Papa und Freda gingen in das kleine Büro des Motels zurück, um die Formalitäten zu erledigen, und ich bezog mein Zimmer. Es war klein und die Holzvertäfelung war so dunkel, dass ich auch am Tag Licht anmachen musste, um etwas zu sehen. Das waren keine guten Voraussetzungen zum Malen, aber ich musste damit zufrieden sein. Wenn es nicht regnete, konnte ich mich auch unten auf die Wiese oder vor mein Zimmer setzen. Der Aufgang aus Zedernplanken war breit genug und es sah so aus, als ob im Augenblick außer uns niemand weiter im Motel wohnte.

Ich packte meine Sachen in den Kleiderschrank, dessen Türen beim Öffnen unangenehm quietschten. Im Inneren des Schrankes roch es überraschend gut und ich entdeckte, dass ein kleines Stoffbeutelchen darin lag. Ich nahm es in die Hand, fühlte und roch daran. Was ich ertastete, waren aromatische Holzspäne – ausgelegt wie ein kleiner Willkommensgruß!

Die übrige Einrichtung des Zimmers war einfach, aber gemütlich. An der einen Wand stand ein kleiner Schreibtisch, davor ein gepolsterter Stuhl, dessen Stoffbezug fadenscheinig und an einigen Stellen geflickt war. Aber die Matratze des breiten Bettes war in Ordnung und die Bettwäsche roch frisch nach Waschpulver.

Das kleine Bad mit Waschbecken, Toilette und Duschkabine hätte dringend neue Fliesen gebraucht und einen Spiegel, in dem man sich auch sehen konnte, aber es war sauber und frische Handtücher lagen auch bereit. Ich war nicht verwöhnt und hatte keine Schwierigkeiten, mich anderen Gegebenheiten anzupassen, wenn ich irgendwo Gast war. Hauptsache, ich hatte meine Ruhe.

Mit einigem Kraftaufwand öffnete ich das große Fenster, das mit einem Fliegengitter gesichert war. Die Tür stand noch offen und gleich durchzog warmfeuchte Luft mein Zimmer. Ich ging nach draußen und betrachtete die Umgebung des Motels. Auf dem angrenzenden Grundstück hinter der Wiese türmten sich ausrangierte Boote übereinander. Es war ein rostiger bunter Blechhaufen und ich dachte daran, ihn irgendwann zu malen.

Ganz in Gedanken versunken, hörte ich plötzlich eine Tür zuschlagen und zuckte erschrocken zusammen. Ein Junge mit einem langen, geflochtenen Zopf war aus dem Haus gekommen und leerte seinen überquellenden Abfalleimer in eine der Mülltonnen. Er trug Jeans und ein dunkelrotes T-Shirt mit einem Aufdruck, den ich nicht erkennen konnte. Ich schätzte, dass er ein oder zwei Jahre älter war als ich. Und obwohl ich mich nicht rührte, bemerkte er mich sofort und sah zu mir hoch. Er musterte mich kurz, mit einem seltsamen, intensiven Ausdruck in den Augen. Dann grüßte er mich mit einem leichten Kopfnicken.

Reflexartig trat ich vom Geländer zurück, weil ich nicht erwartet hatte, dass es jemanden wie ihn in diesem Motel gab. Der schwarze Blick des fremden Jungen hatte mich getroffen wie ein Blitz – ich wusste selbst nicht, warum ich darüber so erschrocken war.

Verwirrt ging ich ins Zimmer zurück und setzte mich auf mein Bett, wo mich kurze Zeit später mein Vater fand.

»Was ist denn los?«, fragte er. »Geht es dir nicht gut?«

»Doch«, log ich. »Alles okay, ich habe nur gerade das Bett getestet.«

Mein Vater nickte. »Die Zimmer sind ganz in Ordnung und Freda ist nett.«

»Ja, sehr nett«, bemerkte ich. »Und sie ist schön.«

»Stimmt«, sagte Papa, als würde ihm das jetzt erst bewusst werden. »Vielleicht frage ich sie irgendwann, ob ich sie fotografieren darf.« Er nahm sein Gepäck auf, das noch in meinem Zimmer stand. »Ich packe jetzt auch aus und ziehe mich um. Dann sehen wir mal, ob wir irgendwo etwas zum Abendbrot bekommen. Freda hat mir einen Tipp gegeben. In einem der beiden Restaurants im Ort soll das Essen sehr gut schmecken.«

Gerade wollten wir losgehen, da fing es wieder an zu regnen. Deshalb stiegen wir in unseren roten Chevy und fuhren das kleine Stück bis zum »The Cedars« mit dem Auto. Besonders gemütlich war das kleine Restaurant nicht. Mit Kunstleder bezogene Polsterbänke und Resopaltische in abgegrenzten Nischen – wie in einem Zugabteil. Es gab keine Tischdecken, dafür aber indianische Kunst an den Wänden: bunte Bilder und Schnitzereien. Außer einem indianischen Paar und zwei weißen Männern mit Baseballkappen auf den Köpfen waren wir die einzigen Gäste.

Obwohl mein Magen knurrte – wir hatten mal wieder auf das Mittagessen verzichtet – hatte ich keinen Appetit. Dieser Junge ging mir nicht aus dem Kopf. Der Gedanke, dass ich ihm irgendwann gegenüberstehen würde, schnürte mir die Kehle zu. Ich glaubte nicht an Liebe auf den ersten Blick und doch flatterte es merkwürdig in meinem Magen, wenn ich an seinen Blick dachte.

»Neah Bay ist ein seltsamer Ort, um seinen Urlaub zu verbringen, nicht wahr?«, fragte mein Vater.

Ich zuckte die Achseln. Mit meinen Gedanken war ich ganz woanders.

Als wir später zum Motel zurückkamen, brannte Licht in Fredas kleinem Büro und wir gingen hinein, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Sie trug eine goldene, runde Brille auf der Nase, die ihrem hübschen Gesicht einen schönen Rahmen verlieh. Freda schrieb etwas in ein großes Buch, und als sie über den Rand ihrer Brille zu uns aufsah, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

»Gut, dass Sie noch einmal hereinschauen«, sagte sie mit ihrer herzlichen, warmen Stimme. »Vorhin hat sich ein älteres Ehepaar aus Arizona bei mir eingemietet, das morgen gerne eine Walbeobachtungstour machen würde. Zurzeit hält sich eine kleine Gruppe Orcas draußen vor unserer Küste auf. Mein Bruder Henry fährt solche Touren, aber nur wenn mindestens vier Leute mitkommen. Hätten Sie vielleicht Lust?«

Hatte sie eben Orcas gesagt? Mein Herz klopfte auf einmal bis zum Hals.

Papa dagegen runzelte die Stirn. »Bei dem Wetter?« Er zeigte vorwurfsvoll nach draußen, wo es immer noch schwarze Bindfäden regnete.

Freda zuckte die Achseln. »Den Walen ist das Wetter egal, sie sind sowieso immer nass.«

»Morgen regnet es nicht«, kam plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund. Der rot-schwarz gemusterte Vorhang in dem Durchgang, der das Büro mit dem übrigen Gebäude verband, teilte sich und der Junge mit dem Zopf tauchte auf. Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn so schnell wieder zu sehen, und mir blieb beinahe die Luft weg. Lässig gegen die Holzverkleidung des Durchganges gelehnt, stand er da und sah überhaupt nicht aus wie ein Wetterfrosch, eher wie ein richtiger Prinz. Sesam öffne dich, wünschte ich inständig, um durch einen Zauber in der Wand verschwinden zu können, aber es funktionierte nicht. Ich war immer noch da.

»Mein Sohn Javid«, sagte Freda, mit einem deutlichen Anflug von Stolz in der Stimme.

Auch das noch, dachte ich. Aber meine Starre löste sich langsam und ich konnte auch wieder atmen. Javid hatte beeindruckend schwarze Augen und dunkle Haut wie seine Mutter. Sein Zopf, der ihm schwarz und glänzend auf der Brust lag, war unglaublich lang. Er musterte mich erneut mit diesem rätselhaften Blick, sehr viel länger, als die Höflichkeit es zuließ.Ich wurde rot, hoffte aber, dass man das bei der miserablen Beleuchtung nicht sah.

»Hi, Javid«, sagte mein Vater. »Du bist wohl der Wetterexperte von Neah Bay?«

Der Junge zuckte die Achseln. »Hab eben im Radio den Wetterbericht gehört.«

»Was kostet denn so eine Tour?«, wandte sich mein Vater an Freda.

»Bei vier Leuten macht es 50 Dollar pro Person«, antwortete Javid an ihrer Stelle. »Manchmal lohnt es sich nicht, aber zurzeit sind fünf Orcas draußen.«

»Wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie auch sehen?«, wollte Papa wissen.

Javid verschränkte die Arme vor der Brust. »Mein Onkel versteht sein Geschäft. Aber eine Garantie gibt es natürlich nicht. Die Orcas jagen dort, wo sie die meiste Beute finden, und wir müssen sie dabei finden.«

Ich wusste genau, was mein Vater jetzt dachte. Fünfzig Dollar war eine Menge Geld für einen Bootsausflug ohne die Garantie, dabei auch Wale zu sehen. »Was denkst du?«, wandte er sich an mich.

Wollte er die Entscheidung tatsächlich mir überlassen? Hatte ich auch mal was zu sagen? Was glaubte er denn? Natürlich wollte ich die Orcas unbedingt sehen! Außerdem spürte ich, dass wir Javid und Freda einen Gefallen tun konnten, und das wollte ich gern.

»Ich möchte mitfahren«, sagte ich. »Es macht mir nichts aus, wenn es regnet.«

Zum ersten Mal kam richtig Bewegung in Javids Gesicht. Er lächelte mir zu, als hätte ich eine weise Entscheidung getroffen. »Na, dann halb zehn am kleinen Hafen. Das Boot meines Onkels heißt Victoria und liegt am letzten Steg.« So unvermittelt, wie er gekommen war, verschwand er hinter dem Vorhang und Freda griff zum Telefonhörer, um dem Ehepaar aus Arizona und ihrem Bruder Henry Bescheid zu geben.

Mein Vater blieb noch kurz vor meinem Zimmer stehen. »Ich dachte, das Kapitel Wale hättest du längst abgeschlossen«, sagte er.

Ich zuckte die Achseln. »Sie im Meer zu beobachten ist was anderes, als sie im Fernsehen zu sehen.«

»Na ja, hoffentlich klappt es auch. Mir scheint, dass das Geschäft mit den Walbeobachtungstouren hier nicht gerade boomt, wenn sie nur mit Mühe und Not vier Leute zusammenkriegen.«

»Vielleicht kommen nur wenige Touristen nach Neah Bay.«

»Da könntest du Recht haben«, sagte er. »Es ist ein merkwürdiger Ort. Und die Makah sind seltsame Menschen.«

Ich fand Javid und seine Mutter überhaupt nicht seltsam. Im Gegenteil, ihre zurückhaltende und doch freundliche Art gefiel mir.

»Wir haben ja noch nicht viele kennen gelernt«, bemerkte ich.

»Stimmt.« Er lächelte. »Die beiden sind ganz okay. Und vielleicht regnet es morgen tatsächlich nicht, dann sieht die Welt schon ganz anders aus. Schlaf gut!«, sagte er.

»Du auch, Papa.«

Natürlich hätten wir auch diesmal ein gemeinsames Zimmer nehmen können. Dann hätte mein Vater eine Menge Geld gespart, weil er vom VARGAS-Verlag nur die Kosten für ein Motelzimmer erstattet bekam und nicht für zwei. Aber irgendwie hatte das nie zur Debatte gestanden. Ich wusste, dass mein Vater schlecht schlief, seit Mama nicht mehr da war, und er nachts noch lange arbeitete oder las. Außerdem respektierte jeder von uns, dass der andere einen Ort brauchte, an den er sich zurückziehen konnte. Ich war jedenfalls sehr froh mein eigenes Zimmer zu haben.

Obwohl Papa und ich die einzigen Gäste in der oberen Etage waren, schloss ich meine Zimmertür ab und zog die Vorhänge zu. Dann nahm ich eine heiße Dusche. In der feucht-warmen Enge des winzigen Badezimmers kringelten sich meine Haare wie wild gewordene Angelwürmer und ich brauchte hinterher lange,bis sie sich mit der Bürste durchkämmen ließen.

Missmutig blickte ich in den großen Spiegel an der Wand hinter dem Schreibtisch. Früher einmal, da hatte ich mich gemocht, so wie ich war. Seit Mama nicht mehr da war, kam ich mir wie zerbrochen vor. Ich hatte das Gefühl, nur noch aus Einzelteilen zu bestehen, und keines davon erschien mir liebenswert.

Ich zog mein Nachthemd an, ein großes T-Shirt, das einmal meiner Mutter gehört hatte, und legte mich ins Bett. Javid, dachte ich plötzlich wieder und sprach leise seinen Namen vor mich hin. »Javid, Javid, Javid.«

Der Gesang der Orcas

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