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KAPITEL 1

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Es wurde aber auch Zeit! Leise vor sich hin schimpfend, bog Nina in die kleine Wohnstraße ein. Da hatte sie doch glatt fünf Stunden für die Fahrt von Sylt nach Hause gebraucht. Normalerweise dauerte es nie mehr als drei, aber heute war einfach der Wurm drin. Schon der Autozug war mit einer Stunde Verspätung in Westerland gestartet, und später hatte sie hinter Rendsburg eine halbe Stunde im Stau auf der Autobahn geschmort. Ein schwarzes Audicabrio war mit einem auberginefarbenen Porsche zusammengestoßen. Wahrscheinlich bei einem riskanten Überholmanöver. Jedenfalls lag das schwarze Cabrio quer über Seitenstreifen und rechter Fahrspur, wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken. Nina war es kalt den Rücken hinabgelaufen, und sie hatte ganz brav die Tachonadel ihres Kombis nicht über Hundertzehn klettern lassen. Lieber langsam leben als schnell sterben, dachte sie und ignorierte das ungeduldige Maunzen ihrer Katze aus dem Korb hinter ihr.

Aber nun war es fast schon sieben. Die Läden hatten geschlossen, und Nina war hungrig. Wie sie Oliver kannte, hatte der bestimmt nichts Eßbares im Haus. Wenn Nina nicht da war und für einen gefüllten Kühlschrank sorgte, ging er lieber zweimal täglich essen, bevor er einen Supermarkt betrat, um einzukaufen. Aber hatte sie nicht in diesen Tagen auf Sylt beschlossen, sich nicht mehr über solche Dinge zu ärgern, sondern einen Neuanfang mit Oliver zu probieren? Das wollte sie wirklich.

Sie parkte den Wagen an der Straße, griff sich die beiden kleinen Reisetaschen und ging auf ihr Haus zu. Der Plattenweg war peinlich sauber. Die Haushaltshilfe fegte gern die Wege ums Haus. An manchen Tagen schrubbte sie die Platten sogar mit Seifenlauge. Etwas, das Oliver gefiel, wie sie meinte: Sauberkeit und Ordnung.

Als Nina den Hausflur betrat, fiel ihr das Gepäck aus der Hand. Das durfte doch nicht wahr sein! So geschmacklos konnte Oliver nicht sein!

Aber kein Zweifel. Das war Miranda, die dort mit einem vollen Tablett aus Ninas Küche kam. Miranda – in ihrem Haus! »Was machen Sie hier? Was fällt Ihnen ein, in meinem Haus …« Ninas Stimme kippte vor Empörung, ein Hustenanfall nahm ihr den Atem.

»Na, der Überraschungsgast sind Sie doch wohl eher. Sie wollten doch frühestens in drei Tagen zurückkommen«, sagte Miranda ruhig, fast tadelnd.

Diese Hexe! »Ich hab’s mir eben anders überlegt. Und das war ja wohl gut so. Wo ist mein Mann?«

»Oliver? Oliver holt uns gerade Pizza. Er muß gleich kommen.«

Die beiden Frauen standen sich im Flur wie zwei Megären gegenüber. Nina zitterte innerlich vor Wut und Empörung, Miranda dagegen schien ganz gelassen. Ganz so, als wäre sie die Hausherrin und Ehefrau, ganz so, als wäre Nina die Geliebte und nicht umgekehrt.

Jetzt tauchte aus dem Wohnzimmer Vincent, Mirandas Sohn, auf. Er hielt es offenbar nicht für nötig, seinen Blick von dem Gameboy abzuwenden, der in seinen Händen piepende und flirrende Geräusche von sich gab. »Ist das Nina?« fragte er, sah kurz seine Mutter an und verschwand wieder im Wohnzimmer, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Das ist ja wohl das absolut letzte!« Nina rauschte an Miranda vorbei, wobei sie sie absichtlich anrempelte. Tablett, Teller und Gläser fielen klirrend zu Boden und zersprangen in tausend Teile.

»Das waren Ihre Sachen«, kommentierte Miranda trocken, schritt zierlich über den Scherbenhaufen und folgte ihrem Sohn ins Wohnzimmer.

Als ob es darauf noch ankäme, dachte Nina. Erst hast du dir meinen Mann gekrallt, dann meine Ehe zerstört und jetzt auch noch mein Geschirr.

Sie würde nicht anfangen zu heulen! Auch nicht vor Wut und schon gar nicht, solange dieser aufgedonnerte Pfau in der Nähe war.

Tränenblind stürzte Nina die Treppe hinauf. Im Badezimmer wusch sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser, danach ließ sie sich den kalten Strahl über den Puls am Handgelenk laufen. Das sollte angeblich beruhigen. Von wegen! Dann öffnete sie den Safe, den Oliver in einem Einbauschrank hinter der luxuriösen Badewanne hatte anbringen lassen. Sie riß sämtliches Bargeld, den Reisepaß, die Schmuckkassette und den Dokumentenordner heraus. Im Schlafzimmer griff sie sich einen von Olivers Aktenkoffern aus dem Kleiderschrank, leerte ihn auf dem Bett aus und verstaute darin den kompletten Safeinhalt. Als nächstes warf sie den größten Schalenkoffer, den sie in der Eile fand, auf den Fußboden, griff wahllos nach ihren Kleidern und stopfte alles hinein.

Als sie, mit Koffer und Aktentasche beladen, polternd die Treppe herunterkam, lugte Miranda aus der Wohnzimmertür. »Soll ich Oliver etwas ausrichten?« fragte sie lächelnd.

»Ich rate Ihnen, gehen Sie mir aus den Augen«, fauchte Nina. Sie schleppte ihr Gepäck zur Haustür, holte dort tief Luft, biß die Zähne zusammen und rauschte ins Wohnzimmer, Miranda und Vincent nicht eines Blickes würdigend. Wenn sie jetzt auch nur ein Wort mit diesem Weib sprach, konnte sie nicht mehr für ihre gute Erziehung garantieren. Sie haßte es, die Beherrschung zu verlieren. Nina Doss verlor nie die Beherrschung. Auch wenn es noch so weh tat, so war sie erzogen worden.

Nina zog den Metallkoffer mit all ihren Kameras und Objektiven aus dem Schrank. Im Vorbeigehen fegte sie noch Olivers Papiere und Zeichnungen, die auf dem Schreibtisch lagen, auf den Boden. Sein Briefbeschwerer, den sie schon immer gehaßt hatte, krachte auf den Parkettboden. Sekunden später krachte dann die Haustür hinter ihr ins Schloß. Schluß!

Miranda und Vincent sahen sich an. »Das gibt Ärger, oder? War aber ‚ne coole Show«, meinte er anerkennend. Dann schnüffelte er, hielt witternd wie ein kleines Nagetier die Nase in die Luft. »Das riecht hier so komisch.«

Miranda schrie auf. »Die Milch, ich hab ja die Milch für deinen Kakao ganz vergessen!« Aus der Küche drang beißend eine graublaue Wolke. Die Milch war natürlich längst übergekocht, und der vormals weiße Schaum hatte sich braunschwarz auf dem Herd eingebrannt, der Topf war am Boden durchgeschmort. Miranda riß die Fenster auf und goß aus dem Teekessel Wasser auf die Unglücksstelle.

Die Spuren am Herd ließen sich mühsam beseitigen, doch noch Tage später zog ein eigentümlich ätzender, beißender Geruch durchs Haus, der Miranda wie ein Abschiedsgruß Ninas vorkam.

Die Tränen liefen Nina übers Gesicht, während sie – deutlich über dem Tempolimit – aus ihrer Wohnstraße preschte. Sie wußte, der einzige Ort, an den sie sich jetzt flüchten konnte, war das Haus ihrer Großtante. Die Villa Krampe war schon ihr Leben lang ihr eigentliches Zuhause gewesen. Tante Elli würde ihr keine Fragen stellen. Sie hatte immer Zeit und ein offenes Ohr für die Sorgen der Großnichte.

Tante Elli würde sie nur in die Arme schließen, als wäre sie wieder das kleine, trostbedürftige Mädchen, das sie früher gewesen war. Nina schniefte laut, blickte kurz zu ihrer Katze auf dem Rücksitz und verfehlte den Bordstein nur um Haaresbreite.

Als Nina eine Dreiviertelstunde später vor dem Haus der Tante parkte, wurde die Haustür wie auf ein Stichwort hin geöffnet, und Tante Elli kam auf den Wagen zugelaufen.

»Oliver ist am Telefon. Er will dich unbedingt sprechen. Ich habe ihm gesagt, daß du nicht da wärst, aber er glaubte mir nicht. Schließlich habe ich gesagt, daß ich draußen nachschaue, und da sah ich dich vorfahren.«

»Oliver ist am Telefon? Woher weiß er, daß ich zu dir gefahren bin?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich wußte ja gar nicht, daß du kommen wolltest. Offensichtlich habt ihr euch wieder gestritten.« Nach einem Blick auf den Fond des Wagens griff die Tante sich eine Reisetasche. Während sie damit aufs Haus zuging, rief sie: »Das kannst du mir alles nachher erklären. Jetzt komm erst einmal rein und geh ans Telefon. Er hat eine Stinklaune, dein Mann.«

Nina holte tief Luft und ging ins Wohnzimmer. Tante Elli hatte wieder den Telefonhörer in der Hand. »Sie kommt jetzt, Oliver.« Sie rollte mit den Augen und übergab an Nina.

Die ließ ihren Mann gar nicht zu Wort kommen. Sie wußte, er würde irgendwelche Erklärungen parat haben und sie in Grund und Boden reden, bis sie nicht mehr wußte, ob sie Männchen oder Weibchen war. Am Ende würde sie sich schuldig fühlen. Und darauf hatte sie keine Lust mehr. Das Faß war übergelaufen. Daß er dieses Weibsstück in ihr gemeinsames Haus geholt hatte, während sie auf Sylt war, das war die Krönung.

»Oliver? Schön, daß du anrufst.« Ihre Stimme war pure Ironie. »So spare ich mir ein Telefonat.«

»Was hast du hier im Haus für eine Schau abgezogen? Ist dir nicht eine Minute der Gedanke gekommen, daß Miranda und Vincent bei uns zu Gast sind? Du mußt krank sein. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?« Oliver war voll rechtschaffener Empörung.

»Fällt dir wirklich nichts besseres ein? Das ist ja einfach beleidigend. Du hattest doch fast eine Stunde Zeit, dir eine gute Story auszudenken, und das soll das Ergebnis sein? Ich will dir mal eins sagen: Du bist ein Schwein, ein mieser, kleiner Pinscher. Ich rate Dir, mir in den nächsten Wochen nicht unter die Augen zu kommen. Ich habe nicht gedacht, daß du so wenig Anstand hast und nicht warten kannst, bis unsere Trennung offiziell ist. Ich dachte bisher, wir würden vorerst nur in Erwägung ziehen, uns zu trennen. Aber ganz offensichtlich bist du mit dem Thema unserer Ehe ja durch. Und ich bin’s jetzt auch!« Nina knallte wütend den Hörer auf, das grazile Tischchen, auf dem das Telefon stand, erzitterte bedenklich.

»Na, dann hol mal endlich die Katze und deine Sachen ins Haus, Kind. Ich glaube, ich hör die Katze noch hier drinnen schreien. Ich setze in der Zwischenzeit Teewasser auf. Es ist auch noch Topfkuchen da. Bei einer guten Tasse Tee kannst du mir alles erzählen, ja?« Tante Elli streichelte die Wange ihrer Nichte und das vertraute Lavendelwölkchen, das die Tante stets umgab, hüllte sie beide ein. Nina fühlte sich geborgen.

Als Kind hatte Nina die Ferien immer im Haus der Tante verbracht. Damals lebte auch noch Tante Lonnie, die Nina, seit sie denken konnte, ›Tante‹ rief, obwohl sie das natürlich gar nicht war. Sie stellte das absolute Gegenteil von Tante Elli dar. Die eine war so schmal und flachbrüstig wie die andere rund und vollbusig.

Die beiden Frauen waren ein wunderbares Paar, zwei ledige, ein bißchen schrullige Studienrätinnen – eine in dieser Form aussterbende Gattung –, die gemeinsam am gleichen Gymnasium unterrichteten: Tante Elli Deutsch und Geschichte und Tante Lonnie Mathematik und Biologie.

Vor vielen Jahren hatte Tante Elli aus einer spontanen Laune heraus ihre Kollegin aufgefordert, zu ihr in die Villa Krampe zu ziehen. Sie fühle sich in dem großen Haus sehr einsam, nachdem nun auch noch der alte Lorentz gestorben sei, der den Garten gepflegt hatte und für die Reparaturen im Haus zuständig gewesen war.

Tante Lonnie war kurz darauf in die Villa Krampe gezogen und hatte sich gleich im folgenden Frühjahr daran gemacht, den Garten umzugestalten, der sie bei einer kurzen Besichtigung des Krampeschen Anwesens sofort in seinen Bann gezogen hatte. Der alte Lorentz hatte einen pflegeleichten Garten angelegt, der seinem Rheuma nicht so zusetzte. Doch Lonnie wünschte sich einen Garten nach englischem Vorbild, voller blühender Stauden, Rosen und einem speziellen Kräutergemisch. Die von ihr spiralförmig angelegten Kräuterbeete hatten alle im Mittelpunkt Prismen oder Kristalle auf kleinen Sockeln, was ihnen etwas Geheimnisvolles gab. Nach ihrer Umgestaltung war der Krampesche Garten zu einem ganz besonderen Ort von eigentümlicher Kraft geworden, durch den manchmal Besucher schlenderten, merkwürdige Frauen zumeist, die sich telefonisch bei Tante Lonnie anmeldeten und die der kleinen Nina stets ein bißchen unheimlich vorkamen.

Nachdem das Gepäck im Haus war, ließ Nina endlich die Katze aus dem Korb und warf sich seufzend in einen Sessel. Tante Elli saß auf dem zierlichen Sofa in ihrem ›Salon‹ und goß für sie Tee ein. »Nun erzähl, mein Schatz«, sagte sie ermunternd und schob einen Teller mit Schokoladenkuchen zu Nina hinüber.

Nina schluckte den Kloß herunter, der ihr die Kehle zudrückte. Es fiel ihr schwer, die Coole zu spielen. Nur hatte sie einfach zuviel Angst, in Tränen auszubrechen. Geheult hatte sie schon genug. Tag und Nacht. Dort auf Sylt. In dem luxuriösen Haus mit Reetdach und Meerblick.

»Was soll ich sagen? Oliver glaubt, seine Traumfrau gefunden zu haben. Ich war offenbar nie seine Traumfrau, auch wenn ich das mal geglaubt habe.« Nina schluckte und blinzelte, bis die Tränen zurückgedrängt waren.

»Das mit ihm und Miranda geht schon eine ganze Weile. Er hat es mir aber erst nach unserem Urlaub gesagt. Das ist ja das Miese. Er fliegt mit mir in die Karibik, spielt den glücklichen Ehemann, und nach dem Urlaub eröffnet er mir, daß er sich wahrscheinlich scheiden lassen will, wahrscheinlich! Die Katze habe ihn schon immer genervt, ich koche nie sein Leibgericht, wäre ihm nie zärtlich genug, und außerdem hätte ich doch selber mehrfach gesagt, daß ich auch alleine leben könnte und ihn nicht brauchte. An seiner Art zu leben hätte ich ja nie recht Freude gefunden, und darum, meint er, sollten wir uns zumindest für eine Weile trennen. ›Nach zehn Jahren ist es an der Zeit, sein Leben zu verändern‹ sagt er. Vielleicht hat er ja recht. Niemand ist mehr so verliebt wie am Anfang. Ich auch nicht. Aber muß man deswegen gleich alles hinschmeißen?«

Tante Elli wiegte den Kopf hin und her, was Nina an eine weise Alte aus einem Märchen denken ließ.

»Oliver macht jetzt plötzlich auf Familie. Mit Miranda und ihrem Sohn. Und ich probe zwangsläufig das Singledasein. Singles sind stark im Kommen.« Nina lächelte ein wenig schief und schniefte erneut.

»Kind. Kind.« Tante Elli schüttelte energisch den Kopf. Eine silbergraue Strähne löste sich und fiel ihr ins Gesicht. Selbst jetzt, mit Mitte Siebzig, hatte sie noch immer dickes, widerspenstiges Haar. Lediglich die Farbe hatte sich im Lauf der Jahre verändert.

»Kind. Kind. Ich glaube, ihr jungen Leute macht es euch heute sehr einfach. Ihr zieht schnell in eine gemeinsame Wohnung, liebt euch, heiratet, und wenn euch der Alltagsärger einholt, gebt ihr dem Partner die Schuld und lauft auseinander. Das ist nicht gut. Man kann kein Problem lösen, indem man vor ihm davonläuft.«

Nina schüttelte den Kopf. Tante Elli war wirklich unnachahmlich, wenn es darum ging, Wichtiges mit ein paar Gemeinplätzen zu belegen. Sie lächelte etwas verunglückt.

»Du hast schon recht. Das Davonlaufen ist Olivers Beitrag zum Thema Midlifecrisis. Plötzlich sagt er mir, daß er mich nicht mehr liebt – und meine ganze kleine Welt bricht zusammen. Der Boden wurde mir unter den Füßen weggerissen. Kannst du dir vorstellen, daß ich manchmal das Gefühl habe, mir nur einen Film anzusehen? Das betrifft gar nicht wirklich mich, sondern eine Frau, die ich im Kino auf der Leinwand sehe und die nur zufällig genauso aussieht wie ich. Manchmal glaube ich, daß ich verrückt werde. Irgendwie durchdrehe. Dann bekomme ich Angst vor der Zukunft, weiß nicht, wie es weitergehen soll, fühle mich total unsicher. Ich habe das Gefühl, nie wieder am Leben Freude zu haben.«

»Na, irgend etwas mußt du ja tun. Warum bist du nicht schon früher zu mir gekommen?«

»Als er mir das mit Miranda gesagt hat, vor sechs Wochen, da wollte ich es gar nicht glauben. Ich muß ihn wie ein hypnotisiertes Kaninchen angesehen haben, und er dachte wohl, ich hätte ihn nicht verstanden. Also sagte er noch einmal lauter: ›Verstehst du mich? Ich will mit Miranda leben!‹

Ich glaube, ich habe alles nach ihm geworfen, was in meiner Nähe war. Oliver gab mir schließlich eine Ohrfeige, und ich schrie und heulte. Die Katze, meine sanfte Melanie, sprang ihm in dem Moment in den Nacken. Komisch, nicht? Sie hat ihm die Krallen durchs Hemd in die Schultern geschlagen. So als hätte ich sie auf ihn gehetzt. Oliver brüllte und rannte ins Badezimmer, kam umgezogen wieder und sagte: ›Ihr beide seid total verrückt.‹ Dann verschwand er türenknallend.

Zwei Tage später fuhr ich in unser Haus auf Sylt. Ich dachte, es würde mir guttun, Abstand zu bekommen. Vielleicht würde sich Oliver ja wieder beruhigen. Von wegen! Als ich heute, ein paar Tage früher als geplant, zurückkomme, finde ich diese Miranda mit ihrem Sohn vor. Völlig kaltschnäuzig tritt sie mir gegenüber. Stell dir das vor«, Nina schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die Teetassen klirrten, »und ich hatte noch gute Vorsätze für einen Neuanfang mit ihm. Wie kann man mit einem Menschen zusammenleben und nicht erkennen, wie geschmacklos er sein kann?«

Tante Elli hob ratlos die Schultern. »Was sagen denn deine Eltern dazu?« fragte sie.

»Die nerven. ›Kind, du bist doch bei Oliver gut versorgt. Du kannst doch fast immer tun und lassen, was du willst. Er ist doch so erfolgreiche Sie tun so, als wäre alles meine Schuld. Sie werden immer denken, daß ich alles verbocke. Paps könnte mir sicher ganz genau sagen, wie mein Leben in zehn Jahren aussehen wird. Trostlos, selbstverständlich. Denn eine wie ich, die keine Kinder will, lieber Bücher für Kinder schreibt, ihrer Katze krankhaft verfallen ist, die es haßt, nur zu kochen und zu putzen – was soll aus so einer schon werden? Ach, Tantchen, das ist alles echt zum Kotzen!«

Nina sah ihre Tante, während sie sprach, nicht an. Jetzt blickte sie auf, lachte und warf trotzig eine der vielen wilden rotlockigen Haarsträhnen in den Nacken.

»Was soll’s. Erstmal bin ich froh, bei dir zu sein. Ich will diesen ganzen Mist vergessen. Vielleicht schaffe ich es ja bei dir, Abstand zu bekommen. Ich brauche endlich einen klaren Kopf. Momentan fahren meine Gefühle Achterbahn: Wut, Trauer, Verzweiflung und wieder Wut. Manchmal bin ich wie gelähmt, dann ist es wieder so, daß ich mir genüßlich ausmale, wie ich diese dumme Pute vergiften oder zufällig überfahren könnte. Oder wie sich Oliver vor mir auf die Knie wirft. So kann das nicht weitergehen.«

Sie sah sich langsam im Zimmer um. Die Chippendalemöbel standen dort, wo sie schon immer gestanden hatten, die Zimmerlinde vor dem Fenster schien noch dieselbe zu sein wie vor fünfzehn Jahren. Vielleicht war der Teppich ein bißchen ausgeblichen.

Tante Elli folgte ihrem Blick. »Es hat sich nichts verändert. Nur draußen, rundherum, ist viel gebaut worden. Da vorne ist eine Reihenhaussiedlung entstanden. Manche Bewohner sind ein bißchen spießig. Sie haben Stiefmütterchen und Geranien in den Blumenkästen. Wie gut, daß Lonnie das nicht mehr sieht.« Sie goß die zweite Tasse Tee ein.

»Du kannst dich ja um den Garten kümmern. Er ist ziemlich verwildert und braucht dringend Pflege. Die frische Luft und die Anstrengung werden dir guttun. Der junge Mann, der sich in den vergangenen drei Jahren des Gartens angenommen hat, ist letzten Sommer zu seiner Freundin nach Stuttgart gezogen. Ich habe noch keinen Ersatz für ihn gefunden.« Sie zwinkerte ihrer Großnichte zu.

»Es inserieren ja immer wieder Rentner und bieten ihre Hilfe an. Aber seit Wolfgang bin ich verwöhnt. Wenn so ein junger gutaussehender Mann mit nacktem Oberkörper im Garten gräbt … Mmh, das ist ein schöner Anblick, der mich an griechische Statuen erinnert. Was will ich da jetzt mit einem Rentner?«

Ihr Blick fiel prüfend auf Nina. »Du machst doch den Garten, oder?«

Nina nickte und lachte. »Was führst du auf einmal für lockere Reden? Ich werde ganz bestimmt nicht mit nacktem Oberkörper im Garten arbeiten, Tantchen.«

Tatsächlich freute sie sich auf die Arbeit. Mit den Händen in Erde und Kraut würde sie ihre Sorgen bestimmt für eine Weile vergessen.

Nach dem Tee entschuldigte sich Tante Elli bei ihrer Nichte. Sie wollte zu ihrem Literaturzirkel, der sich alle vierzehn Tage traf.

Der Zirkel bestand ausschließlich aus pensionierten Studienräten. Die literarischen Diskussionen zwischen den angejahrten Teilnehmern konnten es an Vehemenz durchaus mit dem ›Literarischen Quartett‹ aufnehmen. Elli vermutete, daß Dr. Corbjuhn heimlich übte, das ›r‹ zu rollen, wenn er gegen moderne Literatur, wie Elli sie oft vorschlug, vom Leder zog. Elli galt als die ›Avantgardistin‹ und vertrat diese Position mit großer Energie. Sie machte sich mit einem Bücherstapel unterm Arm auf den Weg. Das hieß, sie verstaute die Bücher in den Satteltaschen und schwang sich für ihr Alter mit beachtlicher Grazie auf ihr Stahlroß. Das war immer noch das alte, dunkelblaue, schwere Ding. Elli Krampe liebte moderne Literatur. Aber von modernen Fahrrädern, womöglich sogar mit Gangschaltung, hielt sie gar nichts.

Im sanften Abendlicht schlenderte Nina durch den Garten. Es wurde wirklich Zeit, daß jemand dem Unkraut zu Leibe rückte und die Stauden teilte. Es war bereits Ende April und ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, so daß Nina am besten gleich morgen mit der Arbeit beginnen wollte. Was du heute kannst besorgen … ging Nina durch den Kopf. Auch so ein Spruch. Bauernregeln und Binsenweisheiten hatten keine Gültigkeit mehr, wie sie jetzt wußte: Jung gefreit, nie gereut. Blödsinn!

Sie setzte sich auf die alte Bank, auf der Tante Lonnie früher nach getaner Arbeit saß. Als Lonnie gestorben war, hatte Nina oft das Gefühl gehabt, sie sei nicht wirklich tot. Sie war immer noch hier in ihrem Garten und beobachtete wachsam, was darin geschah. Als Nina dies einmal Tante Elli erzählte, hatte die nur ein wenig geheimnisvoll gelächelt.

Nina atmete tief den typischen Geruch der Erde ein, der sie an glückliche Kindheitsstunden erinnerte.

Vielleicht war sie nicht ganz verloren, diese Zeit der Kindheit. Nina hatte in den letzten Wochen immer stärker das Gefühl, ihr auf eigentümliche Weise näher und näher zu kommen. In ihren Träumen ging sie beinahe jede Nacht in bunten Blumengärten spazieren, durch die sich Buchsbaumhecken wanden, die die Höhe sechsjähriger Mädchen hatten. Die Erde duftete in den Träumen wie nach einem raschen Sommerregen. Sie schmeckte den Duft von Phlox, Geißblatt, Nelken und Nachtkerzen noch auf der Zunge, wenn sie in der Morgendämmerung erwachte. Dann ließ sie sich noch einmal von den Gerüchen und dem Sirren der blauen Libellen zurück in die Großtantenlandschaft ihrer Kindheit locken, um darin Kraft zu schöpfen.

»Ich krieg das wieder hin«, sagte Nina leise, »wart’ nur, in vier Wochen ist der Garten so, wie du und ich ihn lieben. Vielleicht werde ich das eine oder andere neu pflanzen müssen. Aber wir haben noch Zeit. Bis zum Sommer ist die alte Pracht wiederhergestellt.« Sie sprach leise, wie zu sich selbst. Aber in Gedanken sah sie Tante Lonnie freudig zwischen den Rosenbäumchen hin und her tanzen. Und wenn sie die Augen schloß, konnte sie sogar die leise Stimme der Tante hören. ›Schön, daß du wieder hier bist. Wir haben dich vermißt. Junges Leben tut dem Haus und dem Garten gut. Aber wenn ich dich so anschaue … Als ich dich das letzte Mal sah, waren noch keine Fältchen um deinen Mund.‹ Nina öffnete kurz die Augen, und es hätte sie kein bißchen überrascht, Tante Lonnie wirklich zwischen den Rosenbäumchen stehen zu sehen. ›Ich mochte diesen Oliver nie. Er hat kein Gefühl für das Wesentliche. Er blickt nicht hinter die Dinge. Ich mochte ihn nie.‹

Es war schon etwas Besonderes an diesem Garten. Das hatte sie bereits als Kind gespürt. Er roch jetzt nach letzten Osterglocken und Tulpen, tulpen? Die mußte ›der junge Mann‹ gesteckt haben. Tante Lonnie fand Tulpen endlos spießig. Die hatten in ihrem Garten nichts verloren.

Später am Abend trug Nina die Katze und ihre Sachen in Tante Lonnies frühere Zimmer im ersten Stock. Sie meinte, im schweren Bauernschrank, den sie als Kleiderschrank nutzen wollte, noch Lonnies Parfüm zu riechen. Eigentlich war das nach fünfzehn Jahren nicht mehr möglich. Oder doch? In Tante Lonnies Wohnzimmer, genannt »der Gelbe Salon«, standen unverändert die kleinen Cocktailsesselchen mit den Rüschen, die schmale Holzbeinchen verbargen. Der gelbe Bezug mit den rosafarbenen Röschen war noch kein bißchen verschossen. Tante Lonnie legte stets Wert auf Qualität. »Wir sind nicht reich genug, uns billige Sachen leisten zu können«, meinte sie zu ihrer Freundin Elli, wenn die sich von Ausverkaufsware locken lassen wollte. »Und das hat schon mein Großvater gesagt.«

Im Badezimmer, das mit seinen altmodischen weißblauen Kacheln schon wieder die Trends im neuesten Baddesign eingeholt hatte, verteilte Nina Cremedosen und Flaschen, fand einen Platz für den Ladyshave und den geeigneten Ort für ihre Kristallpyramide, die sie sich so gewünscht und von Oliver vor zwei Jahren zum Geburtstag bekommen hatte. Die Pyramide würde die ersten Sonnenstrahlen einfangen, um ihr Kraft für den Tag zu geben.

Sie konnte wirklich jede Unterstützung brauchen. Sie war jetzt eine getrennt lebende Ehefrau, und so eine Trennung konnte womöglich schnell mit einer Scheidung enden. Zur Zeit sah es ganz danach aus.

Mit dem Zeigefinger fuhr sie die geschliffenen Kanten der Pyramide entlang. »Alle gute Energie zu mir«, flüsterte sie beschwörend ihrem Spiegelbild zu.

Ein Geräusch machte sie aufmerksam. Es hatte sich angehört, als würde jemand einen metallenen Gegenstand gegen die Hauswand lehnen. Doch durch das Fenster konnte sie nur noch etwas unter den Büschen forthuschen sehen.

Gegen Mitternacht kam Tante Elli nach Hause gestrampelt. Nina hörte, wie sie ihr Rad unter die Überdachung vor der Kellertreppe lehnte, und öffnete ihr die Tür, die von der Küche zum Garten hinausführte.

»Ich habe mir schon gedacht, daß du jeden Moment nach Hause kommst, und habe uns Kakao gekocht. Möchtest du deinen mit Schlagobers oder ohne?«

»Mit, selbstverständlich«, stöhnte Tante Elli und sank erschöpft auf einen Küchenstuhl. Aber gleich danach ließ sie sich mit Vehemenz über die bornierten, verknöcherten und verkalkten Lehrer ihres Zirkels aus, wobei sie deren Marotten gekonnt nachahmte. Vor Ninas innerem Auge tauchten wieder die alten Bilder auf. Den Dr. Corbjuhn hatte sie sich früher als untersetzten rotgesichtigen Mann mit Glatze und Schnauzer vorgestellt, nachdem die Tante einmal erwähnt hatte, daß er beim Reden immer schnaufte und prustete wie ein alter Seelöwe. Frau Dr. Elisabeth Knauf konnte in Ninas kindlicher Vorstellung nur eine spindeldürre bleiche Frau sein, die Bernsteinketten und Twinsets trug. Mit den Namen tauchten die alten Gestalten wieder auf und setzten sich um den Küchentisch.

Nina genoß lächelnd die Vorstellung. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sehr ihr so was in den letzten Jahren gefehlt hatte. Oliver hatte an derartigen Spielchen nie Gefallen gefunden! Tante Elli hielt er für überspannt. Tante Lonnie hatte er nur flüchtig kennengelernt. Trotzdem warf er sie mit Elli Krampe in einen Topf.

Nina erinnerte sich noch lebhaft daran, wie sie vor langem bei einem offiziellen Essen einem von Olivers Geschäftspartnern von den beiden Tanten erzählte. Dem Mann machte es ganz offensichtlich Freude, einmal nicht über Baupläne, Genehmigungen oder Schmiergelder zu reden. Doch Oliver unterbrach ihr Gespräch, indem er sagte: »Schatz, erzähl doch, welchen Coup dein Vater letzte Woche gelandet hat.« Was Nina dann brav getan hatte.

»Hast du schon Pläne für morgen?« riß Tante Elli sie unvermittelt aus ihren Gedanken und hielt sich verstohlen die Hand vor den Mund, um ihr Gähnen zu verstecken.

»Ich denke, daß du vielleicht die eine oder andere Freundin von früher besuchen möchtest. Ein paar gibt es ja noch. Vera zum Beispiel. Und Chantal. Vera ist auch geschieden und hat jetzt beim neuen Rathaus einen Laden.«

»Vera? Was heißt, die ist auch geschieden? Ich bin nicht geschieden, verdammt! Ich lebe getrennt. Können wir nicht mal von etwas anderem reden?«

Nina stiegen die Tränen in die Augen, und das machte sie wieder wütend. Heulen wollte sie wirklich nicht mehr.

»Tut mir leid, Kind«, lenkte Elli ein, »du hast es nicht leicht. Und außerdem sind wir beide müde und gereizt. Wir gehen jetzt besser schlafen.«

Vom Flur rief sie: »Mach bitte die Lichter aus und sieh noch einmal nach, ob alle Türen abgeschlossen sind.«

Ninas Blick fiel auf den hölzernen Messerblock, der neben dem Herd stand. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Tante Lonnie die großen Brot- und Fleischmesser immer ganz unten in der Besteckschublade versteckte. Sie wollte es einem möglichen Einbrecher nicht so leicht machen, eine Waffe zu finden. Den Messerblock hatte Tante Elli bestimmt erst nach Tante Lonnies Tod angeschafft, dachte Nina. Dann warf sie einen letzten Blick in die dunkle Nacht. Nichts war zu sehen. Obwohl Katze Melanie gespannt hinauslugte. Vielleicht wußte Tante Lonnie von dem Messerblock und patrouillierte deswegen draußen im Garten? Nina, sagte sie streng zu sich selbst, du bist keine alte Jungfer und hast keinen Grund herumzuspinnen. Tante Lonnie ist tot. Basta. Doch dann ging sie zurück in die Küche, versteckte den Messerblock im Besenschrank, lachte kurz über sich und schaute ein letztes Mal in den dunklen Garten hinaus. »Alles in Ordnung, Tantchen«, sagte sie, »kannst schlafen gehen.« Leise schlich sie die Treppe hinauf, wobei sie die vierte und siebte Stufe übersprang, weil die laut knarrten, solange Nina zurückdenken konnte.

Elli Krampe lag im Bett und lauschte auf den nächtlichen Atem des Hauses. Sie hörte die Dielen im Flur noch knacken, als Nina schon längst zu Bett gegangen war. Energisch warf sie die Bettdecke zurück und ging ans Fenster. Am Ende des Gartens verschwand eine vertraute Schattengestalt hinter den Rhododendren.

»Wir müssen uns um sie kümmern.« Elli lehnte die Stirn gegen das kühle Glas der Fensterscheibe. »Hörst du? Ich werde deine Hilfe brauchen.«

In den Rhododendren raschelte es.

Hexen fliegen nicht alleine

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