Читать книгу Spur ins andere Kontinuum: Weg in die Galaxis - Antje Ippensen - Страница 7
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ОглавлениеMittwoch, 28. Januar 2093
Oberleutnant Ewald Martell blickte auf den Hauptbildschirm des spindelförmigen Prospektorenraumers CARMEN DIAZ. Das Prospektoren- und Forschungsraumschiff der Harry F. Lorre-Corporation war auf einer besonderen Mission; es brachte Menschen und Material nach Katta, den dritten Planeten der Sonne Ral, 12 367 Lichtjahre von der Erde entfernt. Anfang September 2092, vor etwas mehr als vier Monaten hatte die PLUTO II diesen Planeten entdeckt, als sie unbekannten Signalen aus den Tiefen der Galaxis folgte. Damals befand sich der jetzige Oberleutnant und Leiter des Astrolabs an Bord der PLUTO II. Im November 2092 dann war er zur CARMEN DIAZ gewechselt; hier hatte er eine Aufgabe gefunden, die ihn wirklich reizte.
Der spindelförmige Prospektorenraumer der HFL-Corporation besaß eine Länge von 200 Metern und maximalen Durchmesser von 42 Metern. Im ersten Drittel befand sich das Bord-Observatorium in Form einer Kugelausbuchtung. Das schlank auslaufende Heck des Raumers wurde von einem metallenen Ring mit einem Strahlenkranz umgeben. Achtundvierzig Teleskop-Landestützen konnten einen Bodenunterschied bis zu drei Meter ausgleichen. Im Ringwulst des Heckbereiches waren 5 DaCern- und 3 Transitions-Triebwerke untergebracht. Zusätzlich verfügte die CARMEN DIAZ über sechs ausfahrbare Düsentriebwerke für Flüge in explosiver Atmosphäre, die sich im Rumpfbereich Ende des ersten, Anfang des zweiten Drittels befanden.
Ganz bestimmt war es interessant und aufregend an Bord der PLUTO II, doch dem stillen zuverlässigen Mann lag es nicht so sehr, ständig in Alarmbereitschaft zu leben. Abenteuer musste er nicht ständig haben, es gefiel ihm wesentlich besser, sich auf ein Ziel zu konzentrieren und in relativer Ruhe zu arbeiten. Aber der Ruf des Weltraums ließ ihn nicht mehr los – wie bei fast allen, die jemals die Erde verlassen hatten, um im All festzustellen, dass es so unendlich viel Neues zu entdecken gab.
So hatte sich Ewald Martell für das relativ ruhige Leben an Bord eines Prospektoren- und Forschungsschiffes entschieden, vor allem auch, als er hörte, dass die CARMEN DIAZ den Auftrag hatte, Katta erneut aufzusuchen. Der Oberleutnant konnte sich noch an seine erste Reise dorthin erinnern, und er wusste, dass er jetzt hier war, um die Hinterlassenschaften der verschwundenen Bewohner dieses Planeten zu untersuchen. Und nach aller menschlichen Voraussicht bestand keine Gefahr mehr, dass es noch einmal zu solch ungeklärten Vorfällen kommen würde, wie er sie an Bord der PLUTO II erlebt hatte.
Martell blickte auf den Bildschirm und war wieder einmal beeindruckt von den ungeheuren Ausmaßen dieser Stadt. Eine Unzahl an Gebäuden reihte sich aneinander, jedes von ihnen riesig – und doch so ungeheuer klein, wenn man die Türme betrachtete, die wie schlanke Stiele in den Himmel ragten.
Bei der Ausdehnung der planetengroßen Stadt musste es sich um ein vielköpfiges Volk gehandelt haben, dessen Verschwinden praktisch von heute auf morgen mehr als nur ein Rätsel aufgab.
Martell freute sich auf die vor ihm liegenden Aufgaben; er besaß die Ruhe und Zielstrebigkeit, sich in ein Problem zu verbeißen und daran zu arbeiten, bis sich eine Lösung ergab. Aufgeben kam für ihn auf keinen Fall in Frage.
Und so glaubte er, dass ihn hier vielleicht die Herausforderung seines Lebens erwartete.
Die CARMEN DIAZ hatte den Auftrag, eine Forschungsstation einzurichten, einen Außenposten, in dem Menschen für eine bestimmte Zeit leben würden, während ein regelmäßiger Pendelverkehr zwischen Erde und Katta stattfinden sollte. Aufgrund der enormen Kosten jedoch musste eine solche Station effizient geführt werden. Nur die besten Leute sollten hierher fliegen, damit gewährleistet war, dass sie auch keine Zeit und kein wertvolles Material verschwenden würden.
Die größte Stadt der bekannten Milchstraße bot natürlich selbst noch eine Menge Ressourcen, aber wohnen mochte dort niemand, der von der Erde kam. Dabei bot Katta mit einem Durchmesser von 9 994 Kilometern und einer Schwerkraft von 0,95 fast ideale Zustände für Menschen.
Aus dem mitgebrachten Material wurde ein Camp errichtet, das bald einer eigenen kleinen Stadt glich, deren Zentrale der Landepunkt des Raumschiffes am Rande der gigantischen Stadt war. Vor Tausenden von Jahren hatte dieser Ort als Raumhafen gedient.
Martell meldete sich freiwillig zu dem Team, das die ersten Vorstöße in die Stadt unternehmen sollte. Er hatte noch gut in Erinnerung, dass es damals von Robotern regelrecht gewimmelt hatte – und jetzt blieb alles ruhig, sehr zu seiner Verwunderung. Eine Ruhe, die dem Oberleutnant nicht so recht behagte. Doch als er daran dachte, dass Khuur, der damals letzte Bewohner, regelrecht in den Freitod gegangen war, verstand er irgendwie, dass die Maschinen, die auf eine seltsame Art und Weise mit ihm verbunden gewesen waren, ihren Sinn verloren hatten.
Das jedenfalls war die erste Spekulation, als das Team mit Martell in die Stadt eindrang und überall nur zerstörte und deaktivierte Roboter vorfand.
*
LÄNGST HATTE MARTELL, der als Erster Offizier das Kommando leitete, Anweisung gegeben, die Waffen wieder einzustecken. Die Menschen waren unter Beachtung aller möglichen Vorsichtsmaßnahmen in die riesige Stadt eingedrungen. Die Aufregung über die Ausmaße und das seltsame Aussehen hatten sich längst wieder etwas gelegt. Die Bauten hier waren unvorstellbar hoch, selbst für Menschen, die in Ballungsräumen aufgewachsen waren und für die ein Wolkenkratzer nicht ungewöhnlich war.
Über diesen gigantischen Gebäuden jedoch erhoben sich Türme, die wie Stiele wirkten, so schlank und zerbrechlich. Die wiederum wurden an ihren spitzen Enden von Kugeln gekrönt, deren Bedeutung bis heute noch niemandem vollständig klargeworden war. Dass es sich um Sendeanlagen handelte, war eine ebenso unhaltbare Spekulation wie die Annahme, es könnte sich um eine Art Stromversorgung handeln. Eine ganz mutige Theorie warf sogar den Gedanken auf, es könnte sich dabei um eine ständige mentale Beeinflussung der Bevölkerung handeln – beziehungsweise gehandelt haben, denn von einer permanenten Strahlung war weder etwas zu spüren, noch zeigten die Instrumente eine solche an.
Doch wer einmal die Silhouette dieser Stadt im Licht der Sonne Ral gesehen hatte, vorzugsweise wenn die Palette der Rottöne durch die langwellige Strahlung bei Sonnenuntergang noch verstärkt wurde, vergaß sie nie wieder. Dieses Feuerwerk schmerzte in den Augen, doch es brannte sich förmlich in die Seele, selbst bei den hartgesottenen Raumfahrern, die von sich behaupteten, dass es im Universum nichts mehr gäbe, was sie noch beeindrucken könne.
Die Menschen im Team um Martell kamen sich angesichts der riesigen Bauten schon fast wie Ameisen vor. Mittlerweile vermieden sie es, den Blick an den Wänden hochschweifen zu lassen. Es war einfach zu deprimierend. Stattdessen lugten sie um die Ecken oder in Öffnungen, deren Sinn nicht immer ganz klar war.
»Da liegt etwas, Sir«, rief plötzlich Sergeant Gus Baker, einer der Altgedienten der Besatzung. Er hatte längst seinen Blaster auf dieses Ding gerichtet, aber Martell winkte ab.
»Das scheint mir einer der Roboter zu sein, die wir beim ersten Anflug gesehen haben. Arbeits- und Reparaturmaschinen. Damals auf der PLUTO haben wir festgestellt, dass diese nicht gefährlich sind.«
Es handelte sich um große unförmige Kästen, wie alles in und an dieser Stadt klobig war. Aus den eckigen Körpern ragten überall Stacheln, bei denen es sich um Antennen und vermutlich auch Tentakel handelte, mit denen gearbeitet und hantiert worden war. Der Roboter war jedoch energetisch tot.
»Mann, fünf Tonnen Schrott auf einem Haufen, mindestens«, murmelte der Sergeant, jetzt jedoch gebührend beeindruckt.
»Ja, und dann stellen Sie sich mal vor, dass wir damals von rund dreihundert dieser Dinger angeflogen wurden, die ganz begierig darauf waren, ihre Tentakel in unser Raumschiff zu bohren. Die wollten uns helfen, aber das wussten wir natürlich nicht«, merkte Martell trocken an. »Keiner von uns hat sich damals besonders wohlgefühlt.«
Der Sergeant schluckte, als er sich die Situation bildlich vorstellte.
»Los, weiter, ich glaube nicht, dass dieses Ding uns irgendwelche Fragen beantworten wird«, ordnete der Oberleutnant an. »Wir sollten jetzt auch einfach mal in ein Gebäude hineingehen, hier draußen auf den Straßen werden wir vermutlich nichts weiter finden als noch mehr von diesen Maschinen. Es hat ganz den Anschein, als wären die Maschinen einfach abgeschaltet worden, ohne Rücksicht darauf, wo sie sich gerade befanden.«
Ein riesiges Tor bot sich förmlich für eine Erkundung an, es stand weit offen und erinnerte auf den ersten Blick an einen Hangar. Doch bei der Überdimensionierung der ganzen Stadt war dies vermutlich nicht mehr als ein ganz normaler Eingang.
Dahinter herrschte Dunkelheit. Das Licht der Sonne reichte nicht bis hierher, und Fenster gab es keine. Die Scheinwerfer in den Raumanzügen der insgesamt acht Männer flammten auf und beleuchten eine bizarre Szene. Wild durcheinander lagen hier wieder die großen Roboter, aber auch etwas kleinere Maschinen, die aus zusammengesetzten Kugeln bestanden und mehrere Greifarme besaßen. Die Lichter wanderten weiter bis zu einem etwas erhöhten Podest, auf dem sich eine Schaltanlage befand. Zwei der Männer kletterten hoch, drückten einige Hebel, drehten an irgendwelchen Köpfen und machten einen ratlosen Eindruck. Während dieser Zeit standen die anderen unten und sicherten nach allen Seiten – immerhin bestand doch noch die Möglichkeit, dass mit einem Knopfdruck ein Ereignis ausgelöst werden konnte. Aber nichts geschah.
»Keine Energie«, stellte einer von ihnen trocken fest.
»Das hätte ich mir jetzt fast gedacht«, erklärte Martell ironisch. »Sonst wäre vielleicht auch als erstes die Beleuchtung angegangen.«
Hier gab es nichts weiter. Soweit die Männer sehen konnten, erstreckte sich wie eine riesige Lagerhalle der Raum weiter, angefüllt mit unzähligen Wracks der abgestürzten Roboter. Ein gigantischer Schrottplatz, und ein riesiges Vorratslager an Rohstoffen. Doch solange die Verbindung zur Erde bestand, wollte niemand einfach hergehen und diese Rohstoffe weiter verwerten. Irgendwie wäre es zumindest Martell wie Leichenfledderei vorgekommen.
In den nächsten Tagen, die sich rasch zu Wochen und dann zu einem Monat dehnten, fanden sie noch weitere solcher Hallen.
Die große Entdeckung geschah dann eher durch einen Zufall, aber wer glaubte in dieser Galaxis noch an Zufälle?
Ewald Martell hatte von der CARMEN DIAZ aus immer wieder vereinzelte auftretende Impulse geortet, die niemand so recht deuten konnte. Der Funker hielt sie für atmosphärische Störungen, hervorgerufen durch die Türme, von denen noch immer nichts Eindeutiges angemessen werden konnte. Aber allein durch ihre Höhe und die unglaubliche Menge an Material musste es zu solchen Störungen kommen. Vielleicht handelte es sich aber auch um eine Art Restenergie, die sich noch irgendwo auf dem Gelände, in einigen der Gebäuden, befand. Denn die Stadt selbst galt als tot.
Doch Martell glaubte nicht daran, dass dieses Riesengebilde wirklich tot war. Im Astrolab versuchte er selbst die Spitzen der Amplituden auszuwerten und auch zu orten, doch das Auftreten war nur unregelmäßig und zu kurz, um zu einem rechten Ergebnis führen können. Nicht einmal die Entfernung war genau zu bestimmen, weshalb der Funker auch behauptete, es könnte sich um verirrte Signale aus dem Weltraum handeln – Irrläufer eben.
Aber der Oberleutnant hatte ein Gefühl, das ihm etwas anderes sagte. Und schließlich fand er wenigstens die annähernde Richtung heraus. Als er einen weiteren Freiwilligen suchte, der mit ihm den Ursprungsort dieser Impulse untersuchen wollte, meldete sich Alanna Waycroft spontan.
Die 34-jährige Frau war ein vielseitiges Talent, galt aber als schwierig, weil sie aufgrund ihres Wissens niemals einfach bereit war, Anweisungen oder scheinbare Tatsachen kommentarlos hinzunehmen. Sie hatte ursprünglich eine Ausbildung als Galakto-Historikerin gemacht, nebenbei den Pilotenschein und schließlich auch noch ein Studium in Fremdrassen-Psychologie abgeschlossen, ein Berufsstand, der von vielen belächelt wurde, weil sich die meisten Grundlagen noch in der Theorie befanden und nur langsam durch Forschungen und weitere Kontakte mit nicht-irdischen Lebewesen belegen ließen. Aber Alanna besaß eine ungeheuer rasche Auffassungsgabe, gesunde Neugier und war stets bereit, neue Theorien aufzugreifen und Spekulationen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu untersuchen.
Martell war nicht sicher, ob er ausgerechnet sie dabei haben wollte, doch niemand sonst meldete sich, als bekannt wurde, dass Waycroft mitgehen wollte.
Mit einem Gleiter flogen die beiden Menschen durch die riesige Stadt. Das Navigationssystem hatte der Oberleutnant mit den Daten gefüttert, es würde sie in die Nähe der Impulse bringen – wenn sie wirklich dort zu finden waren. Er machte sich nichts vor, es konnte genauso gut ein Fehlschlag werden.
»Sie wollten mich nicht als Begleitung haben?«, erkundigte sich Alanna unterwegs.
Martell blickte nicht einmal von seinen Instrumenten auf. »Bei der Arbeit kenne ich keine Antipathien«, erwiderte er diplomatisch.
Sie lachte auf. Es war ein sympathisches freundliches Lachen, das ihn irritierte und gleichzeitig erfreute. »Das ist nicht die ganze Wahrheit. Ich kenne meinen Ruf, glauben Sie mir. Aber nur, weil ich nicht bereit bin, einfach alles so hinzunehmen und zu glauben, muss ich doch nicht gleich wie eine Aussätzige behandelt werden.«
Jetzt schaute Martell doch auf. Nein, wie eine Aussätzige sah diese Frau wahrhaftig nicht aus. Brandrotes leuchtendes Haar, durch ein einfaches Band im Nacken kaum gebändigt, umrahmte ein schmales Gesicht mit lustigen Sommersprossen und hellwachen wasserblauen Augen. Ihre Gestalt war zierlich, mit den richtigen Proportionen, und doch wirkte Alanna nicht zerbrechlich. Dazu kamen ihr rascher Verstand und ihre manchmal recht bissige Ausdrucksweise. Nein, sie war nicht unbedingt jemand, mit dem er auf Entdeckung gehen wollte, aber als Frau an sich gefiel sie ihm außerordentlich gut.
Es war, als hätte sie seine Gedanken gelesen, denn ihre Miene verdüsterte sich.
»Ebenso wenig schätze ich es, auf mein Geschlecht reduziert zu werden. Eigentlich dachte ich, dass jemand wie Sie zum Beispiel die veralteten Vorurteile überwunden haben sollte. Eine Frau ist doch nicht mehr oder weniger als ein vollwertiges Mitglied einer Gruppe.«
»Aber ein wesentlich erfreulicherer Anblick«, konterte Martell trocken. »Und Sie sollten mir zugestehen, dass ich wenigstens den optischen Vorteil daraus ziehe. Im Übrigen habe ich mir sagen lassen, dass Ihre geistigen Fähigkeiten nicht hinter Ihrer Schönheit zurückstehen. Und ich bitte diese Bemerkung nicht als Chauvinismus oder Diskriminierung aufzufassen. Ich erfreue mich ganz einfach an Ihnen.«
Irgendwie schien diese Bemerkung das erste Eis zwischen den beiden so unterschiedlichen Menschen zu brechen. Der Oberleutnant dachte einen Augenblick darüber nach, dass ihre ganze abweisende Haltung gegenüber gewissen Leuten vermutlich nichts anderes war als reiner Selbstschutz. Er beschloss, sein eigenes Verhalten daraufhin zu überprüfen, ob er nicht einfach eine Meinung von anderen übernommen hatte. Eine Frau, die über derart geballtes Fachwissen verfügte, konnte es sich wohl leisten, nicht alles einfach hinzunehmen und sich vor allen Dingen nicht blind unterzuordnen.
Aber Alanna schaute nicht einmal auf andere herab. Sie hatte nur einige Male eindeutige Annäherungsversuche abgelehnt und einige ihrer männlichen Kollegen mit ihrem Wissen übertrumpft. Das hatte durch viel unnützes Gerede einen Ruf begründet, der durch nichts gerechtfertigt war.
Alanna spürte, dass Martell nicht zu dieser Sorte Männer gehörte, und sie wollte es ihm leicht machen, seine Meinung über sie selbst zu bilden.
»Da, könnte das der Ursprung der Signale sein?«, fragte sie plötzlich.
Martell studierte die elektronische Karte und den plötzlichen Energieausstoß, der Alannas aufmerksamen Augen nicht entgangen war.
»Wir werden es wissen, wenn wir nachgesehen haben«, meinte er.
Alanna ließ sich nicht lange bitten und steuerte den Gleiter in die tiefen Straßenschluchten hinein. Gefahr befürchteten die beiden Menschen nicht, bisher gab es auf Katta nichts, was sich als schlimmer erwiesen hatte als Insektenstiche oder Sonnenbrand. Und doch blieben Martell und Waycroft wachsam. Auch wenn die Roboter nicht mehr funktionierten, musste das nicht heißen, dass es nicht vielleicht doch noch irgendwo automatische Abwehreinheiten gab – allerdings würden die auch ohne Strom nicht funktionieren.
Deshalb war es ja so merkwürdig, Impulse anzumessen, die eindeutig aus der energetisch toten Stadt stammten.
Die Amplitude auf den Geräten war wieder verschwunden. Handelte es sich vielleicht doch um einen Irrläufer?
Etwas ratlos blieben die Terraner stehen und blickten in die Runde. Wo in all dieser Gigantomanie sollten sie anfangen zu suchen?
Alanna schritt plötzlich zielsicher auf ein Gebäude zu. Es mochte nur ein Gefühl sein, eine Ahnung, der sie folgte, doch Martell beeilte sich, an ihre Seite zu kommen. Es war außerdem schließlich völlig egal, wo sie mit der Suche begannen. Und wenn sich Alanna für eines der Gebäude entschieden hatte, dann konnten sie gemeinsam systematisch die Suche aufnehmen. Zunächst verlief das noch etwas planlos und nicht sehr erfolgreich. Die beiden rätselten kurz über den Sinn und Zweck dieses Hauses, das sich jedenfalls wie eine Lagerhalle präsentierte. Und doch gab es hier eine Art stationäre Maschinen, die vermutlich einmal etwas produziert hatten. Bisher hatte sich noch nirgends ein Weg gefunden die oberen Stockwerke zu erreichen. Sie hatten mit den Gleitern versucht, eine Öffnung zu finden, aber das war nicht gelungen. Vermutlich gab es eine Art Antigrav, der jedoch mangels Energie nicht funktionierte. Durch die Fenster, wenn man sie denn als solche bezeichnen wollte, war es von außen nicht einmal gelungen, in die Gebäude hineinzusehen. Also tappten sie noch im Dunkeln.
Und auch hier in diesem Gebäude sahen sie nichts, was ihnen einen Weg in die oberen Etagen ermöglichen würde.
»Da ist es wieder.« Alanna streckte Ewald Martell das tragbare Messinstrument entgegen. Und dieses Mal konnten beide sehen, dass sich der Ausschlag in ihrer unmittelbaren Nähe befand. Vielleicht im Nachbargebäude.
Einmütig schlugen sie den Weg dorthin ein. Nachdem sie wieder eines der großen Tore passiert hatten, befanden sie sich in einer anderen Welt. Es summte um sie herum, Energie floss, kleine blaue Blitze entstanden irgendwo, dann wurde das Summen lauter, und Helligkeit flammte für einen Moment auf. Das war der Augenblick, in dem erneut die Messinstrumente den Ausschlag registrierten. Die beiden Wissenschaftler grinsten sich zufrieden an. Ewald Martell hatte recht gehabt mit seiner Ahnung, und Alanna mit ihrem Gefühl für die Richtung. Denn hier befanden sie sich in einer Art Schaltzentrale, in der die automatischen Anlagen seit langer Zeit versuchten, die Energieversorgung wieder herzustellen. Das konnte ihnen aber nicht gelingen, weil sich der Torso eines Roboters mitten im Weg befand. Vielleicht war er damals auf dem Weg zu einer Reparatur gewesen, als alle Maschinen deaktiviert wurden. Durch einen unglücklichen Zufall war der Robot genau auf den Abstrahlpol der Energieversorgung gestürzt und blockierte auf diese Weise die drahtlose Stromübertragung, die zumindest für eine Notstromversorgung in der Station gesorgt hätte.
»Besser konnten wir es nicht treffen«, freute sich Alanna. »Dies sieht mir ganz danach aus, als wäre die Zentrale noch funktionsfähig, das könnte uns weiterhelfen.«
»Das könnte sogar der Durchbruch sein«, stimmte Ewald Martell zu. »Bis jetzt wissen wir schließlich fast gar nichts. Es interessiert mich wirklich brennend, was für Lebewesen das waren, die so überdimensioniert dachten.«
»Das kommt uns vielleicht nur so vor. Ein Volk, das in kosmischen Maßstäben denkt und rechnet, empfindet diese Stadt und seine Gebäude vielleicht als völlig normal«, widersprach Alanna. »Nein, ich glaube nicht, dass dieses Volk ein so eingeschränktes Verständnis besaß wie wir Menschen. Wir haben gerade mal gelernt, wie man ein Raumschiff bewegt. Aber wir empfinden alles, was nicht unseren Normen entspricht, als anders, fremd oder sogar gefährlich. Wir müssen lernen, offen und ohne Vorurteile auf andere zuzugehen. Doch auf der Erde, herrscht ja immer noch ein gewisses Klassendenken. Und das haben wir mit in den Weltraum genommen. Wir stecken alles in eine Schublade – und wehe uns, es passt nicht.«
»So wie Sie«, stellte er lächelnd fest.
»So wie ich«, kam die amüsierte Bestätigung.
»Dann lassen Sie uns die nächste Schublade für unsere Kollegen und Mitstreiter öffnen«, grinste Ewald Martell. »Allein werden wir diesen Roboter nicht aus dem Weg schaffen können. Also sollten wir die anderen verständigen und um Hilfe bitten.«
»Sie nehmen meine Worte nicht sehr ernst«, warf sie ihm vor. Doch der hochgewachsene Mann hielt Alanna fest und schaute ihr offen ins Gesicht. »Sie werden das Schubladendenken nicht dadurch abschaffen, indem Sie selbst eine eigene Schublade erschaffen, aus der heraus Sie andere angreifen«, sagte er leise. »Ich will gerne mit Ihnen zusammen versuchen, einigen Leuten die Augen öffnen. Aber haben Sie jemals daran gedacht, dass es für einige Menschen einfacher ist, kosmisch zu denken, gerade indem sie Schubladen benutzen? Von da aus kann man nämlich versuchen Brücken zu schlagen.«
Sie überlegte nur kurz. »Da könnte was dran sein«, gab sie dann zu. Gleich darauf aktivierten sie eine Funkverbindung zur CARMEN DIAZ. Dort löste ihre Entdeckung zunächst große Verblüffung, dann aber auch eine hektische Aktivität aus.
*
EIN HALBES JAHR SPÄTER hatten sich die Terraner auf Katta schon fast häuslich niedergelassen. Neben der Zentrale, die Alanna Waycroft und Ewald Martell gefunden hatten, gab es noch zwei weitere Nebenschaltzentralen, die ebenfalls wieder in Betrieb genommen werden konnten. Die Ergebnisse, die sich aus den ersten Auswertungen der gespeicherten Daten ergaben, waren teilweise sensationell. Die Tronic-Spezialisten hatten Tag und Nacht in Schichten gearbeitet, und auch wenn es bisher noch nicht viel mehr als Bruchstücke waren, die entschlüsselt werden konnten, so gab es doch erste Erkenntnisse über das Volk, das auf Katta beheimatet gewesen war. Diese Wesen mussten annähernd humanoid gewesen sein, Bildaufzeichnungen waren jedoch nicht vorhanden. Aber aus der Anordnung gewisser Anlagen konnte man darauf schließen, dass es sich um menschenähnliche Wesen gehandelt hatte. Und dieses Volk benutzte als Sprache Speranto, eine Tatsache, die zunächst wie eine Bombe eingeschlagen hatte. Demnach mussten sie doch auch anderen Völkern bekannt gewesen sein, denn Speranto war die Kunstsprache, die in diesem Seitenarm der Milchstraße benutzt wurde. Warum also hatte man noch nie etwas von ihnen gehört?
Und schließlich gab es noch den Hinweis, dass hier eine verheerende Seuche getobt haben musste. Scheinbar hatte es kein Heilmittel dagegen gegeben. Zur Verwunderung der Menschen schien dieses Volk so edel gedacht zu haben, dass niemand es gewagt hatte, den Planeten zu verlassen, um diese absolut tödliche Seuche nicht auf anderen Planeten zu verbreiten.
Soweit die ersten groben Erkenntnisse, von denen einige natürlich in gewagten Spekulationen weitergeführt wurden. Oder hatte es andere Gründe gegeben, die verhinderten, dass jemand den Planeten verließ? War dieses Volk vielleicht sogar von einem Völkerverbund in eine Art Quarantäne gestellt worden? Hatte man diesen Planeten gar nicht verlassen können? Auch das war nur eine von vielen gewagten Spekulationen, diese allerdings würde voraussetzen, dass es eine galaxisweite Zivilisation gab, die ein Interesse daran hatte, sich selbst zu schützen. Das war ebenso weit hergeholt wie die Theorie, dass das Volk innerhalb nur weniger Stunden ausgerottet worden war. Praktisch jeder, der hier lebte, hatte seine eigene Idee – und natürlich keinen Beweis dafür.
Maßgeblichen Anteil hatten Alanna Waycroft und Ewald Martell, die nicht locker ließen und ihre Kollegen aller Fachrichtungen förmlich zu Höchstleistungen anspornten. Die beiden waren mittlerweile fast unzertrennlich geworden, was allerdings nicht bedeutete, dass sie nicht auch gegensätzliche Meinungen vertraten und sich mitunter erbitterte Diskussionen lieferten. Da Ewald Martell mit Alanna so gut auskam, wurde sie mittlerweile auch vom Rest der Crew weitestgehend akzeptiert, obwohl es ihr noch immer ziemlich egal war, wie andere Leute von ihr dachten.
Die Verpflichtung für Wissenschaftler und Mitarbeiter für den Planeten Katta war auf mindestens zwei Jahre festgelegt worden. Damit wurde zum einen hohe Fluktuation verhindert, zum anderen konnten die Leute dann intensiv an einer Aufgabe arbeiten, ohne dass durch einen Wechsel wieder neu angefangen werden musste.
Die CARMEN DIAZ war mittlerweile wieder zur Erde gestartet und sollte in den nächsten Tagen mit weiteren Forschern und Material zurückkehren. Aus dem kleinen Camp war schon eine ansehnliche und doch immer noch provisorische Stadt geworden. Aber noch immer weigerten sich die Menschen, auch nur ein Gebäude in der Stadt selbst zu beziehen, obwohl es kein Problem gewesen wäre, ein oder auch mehrere Gebäude für die Bedürfnisse der Terraner umzurüsten.
Im Camp fanden sich Wissenschaftler jeder Fachrichtung, und besonders während der Mahlzeiten gab es mitunter wilde Diskussionen. Jeder noch so kleine Fortschritt wurde mehrfach gewissenhaft untersucht, auch von Kollegen, die eigentlich gar nichts damit zu tun hatten. Aber irgendwie fühlten sich alle wie eine große Gemeinschaft, was den einen anging, konnte den anderen nicht unberührt lassen.
Als sich die CARMEN DIAZ im Orbit befand und zur Landung ansetzen wollte, schrillte plötzlich der Alarm durch das Schiff. In Windeseile verbreitete sich dann auch der Grund für den Alarm.
Vom Planeten aus, von irgendwo in der Stadt, waren seltsame Impulse abgestrahlt worden. Intensität und Eigenart dieser Impulse waren allerdings schon bekannt, wie wenig später festgestellt wurde. Die gleiche Art von Sendung hatte damals die PLUTO II angelockt. Und es war auch nicht das erste Mal, dass diese Impulse aufgefangen wurden. In der Zentrale der HFL waren schon damals alle diese Daten gesammelt worden, und dort hatte man auch den passenden Begriff dafür: Stellare Impulse.
Für das landende Schiff waren sie nicht von Bedeutung, der Alarm im Schiff und im Camp wurde ausgeschaltet. Doch Ewald Martell untersuchte die Auswertungen im Astrolab, nachdem die CARMEN DIAZ gelandet war. Nicht nur von Katta her war das Auftreten der stellaren Impulse bekannt, wie er nun herausfand. Mittlerweile hatten auch andere Schiffe verschiedene Planeten angeflogen, auf denen diese Art von Signale geortet worden waren, doch ein Sinn darin oder überhaupt eine Sendestation waren niemals gefunden worden. Ein Rätsel reihte sich nahtlos an das nächste, und die Liste der offenen Fragen, die sich hier auf Katta stellten, wurde immer länger.