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4.Einweihungsparty in Mirdif

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Nadja schlendert mit verkniffenem Blick durchs Haus. Es ist keine große und stattliche Villa, wie vorher in den Arabian Ranches, aber es reicht für uns Vier. Und wir sind die ersten Mieter. Das Haus bildet zusammen mit fünf weiteren eine Reihe. Ein Townhouse. Klingt eigentlich ganz gut. Ein unspektakuläres Reihenhaus. Klingt nicht so gut. Aber das ist es. Versetzt zu dieser Reihe steht jeweils seitlich ein alleinstehendes Haus, das vom Makler als Villa angeboten wird. Diese unterbrochene Hufeisen-Formation umgibt einen Gemeinschaftspool. Eine hohe eingrenzende Mauer zur anderen Seite des Pools schließt das kleine Compound hermetisch. Blicke und Schritte nicht autorisierter Lebewesen sind hier drin unmöglich, in dem zubetonierten Hinterhof. Ein Hinterhof mit Pool, erreichbar über die Terrassen der Häuser. Hier muss man sich verstehen, wenn man ein entspanntes Leben führen will, war der erste Gedanke gewesen, der Nadja bei der Besichtigung durch den Kopf ging. Henny hatte es so gewollt: raus aus der Expatriate-Enklave. „Wenn Vereinigte Arabische Emirate, dann auch authentisch.“ Diese Worte klingen noch in ihrem Ohr, als er in der Nachbarschaft den bevorstehenden Umzug rechtfertigte. Auch wenn sich ein Gefühl von Tausend und einer Nacht hier nicht einstellen will. Es war nicht die einzige Motivation gewesen, in den einheimisch besiedelten Stadtteil zu wechseln.

Nicht alle Häuser sind bewohnt. Einige Nachbarn hatte Nadja am Pool kennengelernt und gleich zur Einweihungsfeier eingeladen: eine kanadische Familie mit zwei Töchtern im Teenageralter, Zwillinge offensichtlich, und eine schwedische Familie mit Kleinkind in Freds Alter. Mit dem alleinlebenden Schotten aus dem mittleren Haus hatte Henny auf der Straße Bekanntschaft geschlossen.

Wie Nadja dem Haus etwas Wohnliches verpassen sollte, ist ihr bis heute ein Rätsel geblieben. Und bisher gab es jeden Tag Besseres zu tun, als sich damit abzuquälen und so hatte sie die alten Vorhänge aufgehängt, die nun mit einem halben Meter Überlänge über den Boden wischen. Die zu großen, massiven Möbel stehen dicht gedrängt wie in der Lagerhalle eines orientalischen Möbelgeschäftes. Der Marmorboden ist kalt, das Plastikfurnier der Einbauschränke dunkel und die größte Herausforderung: die Beleuchtung. Insofern ein Problem, da die getönten Scheiben auch tagsüber künstliches Licht erfordern. Ein indirektes Neonlicht aus Leuchtstoffröhren, versteckt hinter der abgehängten Decke, leuchtet den gesamten Raum grell aus. So eine Atmosphäre hatte sie zuletzt in einer Garküche in Bangkok erlebt. Heute passt es. Sie haben Essen bei einem thailändischen Caterer in Jumeirah bestellt. Pünktlich um sieben Uhr wurde es geliefert und wartet seit dem, fachgerecht auf Gaskochern in der Küche aufgebaut, auf einen Ansturm.

Vor der Haustür begutachtet Nadja noch schnell den ummauerten Hof in der Breite ihres Hauses, von der Hauswand bis zur Straße. Die einzige Privatsphäre im Außenbereich. Eine achteckige, arabische Laterne mit bunten Glasscheiben hängt an den Streben für eine mögliche, nachträglich zu befestigende Überdachung. Eine Überdachung aus weißem gewölbtem Plastik, den beduinischen Zeltplanen einer Oase nachempfunden. Die Lampe hat Nadja bei Lucky’s, einem Möbelgeschäft für importierte indische Möbel im Nachbaremirat Sharjah erstanden, zusammen mit dem lebensgroßen, hölzernen Maharadscha, der jetzt auf der oberen Stufe den Eingang bewacht. Später entdeckte sie für östliche Deko-Gegenstände das Antique-Museum, in das sie Nina nur einmal hineinschleppen konnte. In brütender Hitze bei schummrigem Licht fiel es beiden schwer, verstaubte Gegenstände zu identifizieren. Dafür ließ sich handeln, wie auf einem Bazar, und das hatte zweifelsohne einen exotischen Reiz.

Henny telefoniert. Energisch schließt Nadja die Tür des Arbeitszimmers und hastet die Treppe hinunter. Fred und Alexander hocken nebeneinander auf dem Sofa und schauen gebannt in den Fernseher. Der flüchtige Blick über das Treppengeländer bestätigt Nadjas Vorahnung: Tom und Jerry. „Habt ihr gegessen?“ Die Jungs reagieren nicht. Ist okay. Ich bin gar nicht da. Ignoriert mich. Lasst mich ruhig alle im Stich – kurz vor der Feier. Nadja inspiziert die Küche, bewahrt durch schnelles Umrühren das thailändische Essen in den Edelstahlwannen vor dem Anbrennen, öffnet schließlich den Kühlschrank und greift nach einer Flasche Prosecco. Es ploppt. Sie schenkt sich ein Glas ein, schaut zwischen den Holzlamellen am Küchenfenster auf die bunt leuchtende Lampe im zubetonierten Vorgarten, hebt das Glas und prostet der Laterne zu: „Auf eine gelungene Feier!“ Langsam und genussvoll lässt sie den perlenden Wein die Speiseröhre hinunterlaufen, setzt ab und wieder an. Sie stellt das leere Glas auf die dunkle Granit-Arbeitsfläche und geht ins Wohnzimmer zurück. „Wenn die Gäste kommen, macht ihr die Glotze aus.“ Prompt klingelt es an der Tür.

Abigail und Jack stehen vor ihr. Beim Einkaufen hätte ich sie ohne ihren riesigen Sonnenhut nicht wiedererkannt, denkt Nadja. „Schön, dass ihr da seid.“

Abigail lächelt. „Vielen Dank für die Einladung.“ Und hält Nadja zwei Schalen entgegen.

„Hmmm…das sieht lecker aus und duftet herrlich, vielen Dank.“ Rückwärts geht sie den engen Flur entlang bis zur Küche.

„Das ist ja lustig. Ich dachte, die Häuser hätten alle den gleichen Grundriss. Bei uns kommt man durch die Haustür sofort ins Wohnzimmer. Direkt und unmittelbar.“

„Na, da fällt man dann wohl mit der Tür ins Haus.“ Nadja schließt kurz die Augen, was rede ich, wo bleibt Henny, ich hasse Small-Talk und ich will und kann das jetzt auch nicht. Sportlich-dynamisch tänzelt Henny die Treppe herunter. „Habt ihr auch so eine schlechte Internet-Verbindung?“ Er reicht erst Abigail, dann Jack die Hand. „Hallo überhaupt erst mal.“ Er lächelt und erklärt übergangslos, „seit einer Woche telefoniere ich jeden Tag mit Etisalat aber es passiert… nichts.“

„Willkommen in Dubai.“ Jack grinst. „Ein wochenlanges Unterfangen!“

Henny runzelt die Stirn. „Läuft das Internet bei euch denn jetzt?“

Jack nickt. „Nahezu einwandfrei.“

„Das lässt mich hoffen!“ Henny lacht. „Was mögt ihr trinken?“

Alle vier haben sich in die Küche vorgearbeitet. Aus dem Wohnzimmer klingen weiterhin die typischen Cartoon-Geräusche. Nadja stellt die Schüsseln auf die noch freien Flächen der Arbeitsplatte. Henny öffnet den Kühlschrank, schaut auf den Verschluss der Prosecco-Flasche, sucht mit den Augen die Anrichte ab und stolpert über ein benutztes Glas. Nadjas und sein Blick treffen sich. Er nimmt ein Sektglas vom vorbereiteten Gläsertablett und füllt es für Abigail. Nadja nimmt ihm die Flasche aus der Hand und schenkt sich nach. Mit routiniertem Handgriff greift Henny zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und streckt Jack eines entgegen. „Auf gute Nachbarschaft!“

Ein harmonisch, warmes Klingeln unterbricht die lebendiger werdende Unterhaltung in der Küche. Der Klingelton passt nicht zur Beleuchtung, denkt Nadja während sie zur Haustür geht und öffnet. Das Paar aus dem alleinstehenden Haus ist da. Am späten Nachmittag hatte Nadja das Bobby-Car-Rennen zwischen deren Sohn und Fred im Hinterhof beobachtet. Fred sauste vergnügt und für ein Bobby-Car in beachtlicher Geschwindigkeit vor der Umzäunung des Pools entlang. Dem anderen Jungen war das nicht geheuer gewesen. Er hatte immer wieder zu weinen angefangen und war schließlich zu seiner Mutter gelaufen. Nadja hatte gesehen, wie seine Mutter in die Hocke ging, ihren Sohn in den Arm nahm und mit ausgestrecktem Finger auf Fred zeigte. Dann erhob sie sich und ging mit ihrem Kind an der Hand zu Fred, baute sich vor ihm auf und redete auf ihn ein, was Nadja leider nicht verstehen konnte. Sie sah nur, wie Fred nickte. Und diese sich Kinderspiele einmischende Frau steht jetzt mit ihrem Mann vor mir, denkt Nadja, vor uns. Nadja weicht ein wenig zur Seite, soweit es der Flur zulässt. Henny eilt aus der Küche hinzu.

„Hallo, ich bin Inja.“

„Hi Inja.“

„Carl und Fred haben sich ja schon kennengelernt, nicht wahr. Wie geht es euch? Schon eingelebt?“

„Nadja, ich heiße Nadja, das ist mein Mann Henny.“ Nadja zeigt auf Henny, der bereits mit Injas Mann in ein Gespräch vertieft ist.

Inja deutet mit einer Handbewegung auf den Mann an ihrer Seite. „Jasper, mein Mann.“

In jetzt neu formatierten Zweierreihen schieben sie sich durch den Flur und Inja ruft in die Küche, „Abigail, begeisterst Du mal wieder mit kulinarischen Köstlichkeiten?“

Nadja steht, sich etwas überflüssig fühlend, in der Küchentür und eilt zur Haustür als es erneut klingelt. Niemand da. Sie durchquert den kleinen Hof und öffnet die Tür zur Straße mit blickdichter, gelber Plastikscheibe, die bei jeder Bewegung in ihrer schmiedeeisernen Einfassung scheppert.

Auf dem Sandstreifen zwischen Straße und Mauer steht eine kleine blondierte Frau im Stil der ausklingenden 80er gekleidet, obwohl sie dafür zu jung wirkt. Sie versteckt sich hinter einem gewaltigen Blumenbouquet. „Eileen, bist Du es?“ Nadja kann sich das Lachen nicht verkneifen. Der Prosecco wirkt langsam. „Schön, dass es geklappt hat!“

„Ist ja nur einmal über die Straße.“ Eileen lächelt gewinnend, ungekünstelt, herzlich. Sie wirkt trotz dieser ganzen russischen Aufmachung erstaunlich natürlich, fast kindlich, denkt Nadja.

„Dein Mann ist bei Konstantin geblieben?“

„Nein, der ist gerade in Deutschland. Aber wir haben seit zwei Wochen eine Maid.“

„Ehrlich?“ Nadja zieht die Stirn hoch. „Bei euch im Haus?“

„Ja, ganz klassisch. Sie stammt aus Manila.“ Eileen streckt Nadja nun lächelnd die Blumen entgegen.

„Wow, welch‘ üppiger Strauß. Kennst Du die anderen aus unserem Compound schon?“

„Inja treffe ich manchmal auf der Straße. Sie ist dann eigentlich immer gerade auf dem Sprung und unter Zeitdruck. Wirkt zumindest jedes Mal so gehetzt, dass ich ihr kein Gespräch aufdrängen mag.“

Nadja nickt, passt.

Während sie sich den Flur entlang arbeiten, dreht sich Eileen zu Nadja um. „Arbeitest Du auch?“

„Housewife – not allowed to work. So steht es in meinem Pass.“ Nadja grinst.

Inja steht in der Türöffnung zur Küche und zieht die Augenbrauen hoch. „Also, mir würde die Decke auf den Kopf fallen. A propos Decke, das ist ja mutig, wie Du das Haus eingerichtet hast. So orientalisch. Sehr gewagt. Gefällt mir.“

„Das hat mir wirklich auch sehr viel Spaß gemacht. Ich mein das Einrichten. Alles wohnlich zu gestalten – damit sich alle wohl und zu Hause fühlen.“

Injas Blick verfängt sich in dem halben Meter überschüssigen Vorhang im Ornamentmuster, der auf den kalten Bodenfließen Wellen schlägt und schaut dann auf gestapelte Umzugskartons in der Wohnzimmerecke. „Du musst mal zu uns kommen, wir haben es ganz puristisch gehalten. Allein dieser Kontrast bringt eine arabische Villa ganz besonders zur Geltung.“

Nadja mustert Inja von Kopf bis Fuß. Und wartet ab. Lässt sacken. „Machst Du beruflich etwas mit Design?“

„Ich mache ganz viel Verschiedenes. Was mach‘ ich eigentlich nicht?“ Sie lacht gekünstelt. „Momentan kaufe ich Stoffe für Kinderkollektionen ein. Der Job flog mir zu, die brauchten eine Europäerin, die weiß, wo und wie der Hase läuft.“

Na, guck mal, jetzt hast Du es endlich ausspucken können. „Wie schön, dass sie scheinbar die Richtige gefunden haben.“ Sie erinnert mich an Bobby Brown und ist wahrscheinlich auch ähnlich erfolgreich. Augenblicklich fühlt sich Nadja klein und unbedeutend. Sie hält Ausschau nach Jasper. Wie hält es so ein stiller Mann neben dieser lauten, präsenten Frau aus? Oder braucht ein Stiller den lauten Gegenspieler? Brauche ich nicht auch Henny? Vermutlich bringt Jasper den wahren Erfolg nach Hause. So wird es sein. Nadja lächelt zufrieden und stellt sich neben Henny, um dem Gespräch zwischen Jasper und ihm zuzuhören.

Das Wohnzimmer füllt sich. Nina ist mit ihrem Mann Jochen aus den Arabian Ranches ‚angereist‘ und schleppt jetzt eine große Sporttasche ins Haus. Fin flitzt nach oben. „Halt. Nimm deine Schlafsachen gleich mit!“ Fin kehrt auf der Treppe um und lässt sich, gespielt genervt, die Tasche vor die Füße stellen. Jochen nimmt Nadja in den Arm. „Gut siehst Du aus. Wie immer. Mirdif scheint Dich nicht altern zu lassen.“

Nadja verzieht das Gesicht zu einem gequälten Grinsen.

„Sag mal, ist es okay, wenn ein Geschäftsfreund von mir mit seiner Frau später vorbeikommt? Das hat sich kurzfristig ergeben. Der muss mich dringend sprechen… ich wollte euch natürlich nicht absagen.“

„Kein Problem.“

Nina steht hinter Jochen und winkt mit einer Champagnerflasche. „Für Dich!“

„Der einzige Champagner heute! Ich sag es lieber gleich – bei uns hat es nur zu Prosecco gereicht. Und die stell ich sicher. Für einen gemeinsamen After-Golf-Abend mit Dir.“

„Ach, willst Du doch noch weiterspielen?“

Nadja zuckt mit den Schultern.

Bevor sie sich noch in Erklärungen verheddern kann, betritt Rebecca in einem Salwar Kameez den Wohnbereich. Ihre Lederriemchen-Sandalen klackern auf den Steinfliesen. „Warst wieder in Karama shoppen?“, platzt es aus Nina heraus. Sie mustert Rebecca von Kopf bis Fuß.

„Wieso? Ist doch gar keine copied hand-bag dabei. Oder wofür ist Karama gleich noch bekannt?“ Nadja nimmt Rebecca in den Arm. „Steht Dir super.“

Inja schnappt die Wortfetzen auf und steuert auf die Kleingruppe zu. Rebecca lächelt, schaut geheimnisvoll von Nina zu Nadja, neigt sich leicht vornüber und legt dabei die Handflächen vor der Brust aneinander: „Namasté!“

Und Stefan ergänzt, „und das ist erst der Anfang.“

„Lass mich raten, Stefan. Du hast Dich jetzt auch für einen Yoga-Kurs angemeldet.“ Nina kichert.

Stefan verzieht das Gesicht. „Hä? Nein, mit mir hat das erst einmal überhaupt nichts zu tun. Ich bin nur ihr Mann.“

Rebecca wartet auf einen Moment der Stille und eröffnet: „Ich habe Neuigkeiten!“

„Du hast Nina und mir auch so eine bezaubernde, verzaubernde Tunika mit passender Hose und Schal aus dem Little India Dubais mitgebracht.“ Nadja hakt sich bei Rebecca ein und befühlt mit der anderen Hand den Stoff, der sich mit einer goldenen Abschlusskante um Rebeccas Handgelenk legt.

Rebecca kommt wieder nicht zu Wort. Ein für alle Beteiligten unbekanntes, offensichtliches Fotomodel betritt die provisorische Bühne der Selbstdarstellungen. „Hello, good evening, I’m Zula“, kommt es aus dem wohlgeformten Mund einer Frau, die ihre langen Antilopenbeine gekonnt bewegt. Eine gewellte braune Mähne rahmt ein makelloses, milchkaffeebraunes Gesicht mit hohen Wangenknochen. Die einsetzende Stille erinnert Henny daran, dass er die JBL-Box noch nicht verbunden hat, vergisst darüber den Paradiesvogel und nimmt zwei Stufen gleichzeitig nach oben ins Arbeitszimmer. Keiner der Anwesenden kann das exotische Model oder den ihr folgenden, leicht untersetzten Mann zuordnen. „Hi Jochen!“, dröhnt der laut ins Wohnzimmer und scheint zumindest damit seine Frau zu übertreffen. Jochen eilt herbei. Sie umarmen sich und schlagen sich wie alte Kumpels auf die Schultern.

Diesen Geschäftskontakt muss er später noch einmal genauer erklären, denkt Nadja und hält nach Nina Ausschau, die gerade auf Zula zudrängelt.

„Hi. I’m Nina. Jochen’s wife.“

Schneeweiße Zähne blitzen und Zula zieht Nina an sich. Nadja schluckt, ich will nicht von einer Wildfremden in den Arm genommen werden, nur weil ich zufällig Gastgeberin bin.

Inja nimmt sich vom Tablett ein Glas Prosecco und prostet in die versammelte Gesellschaft ein fröhliches „auf einen schönen gemeinsamen Abend!“ Rebecca kneift kurz die Lippen aufeinander und flüstert dann Nadja zu: „Unsere Auftritte kommen auch noch. ‚Je später der Abend‘ und-so-weiter – weißt Du doch.“

Nadja stammelt, „nein, vielen Dank, ich möchte gar keinen!“

Rebeccas Augen blitzen. „Ich hätte da aber noch ein kleines Announcement zu machen“.

Langsam zieht Nadja eine Augenbraue hoch.

Rebecca legt einen Finger auf ihren Mund. „Wenn Nina sich da drüben aus der High-Society gelöst hat.“

Eileen huscht in weißer Karottenjeans mit Strass-besetztem Gürtel an Nadjas Seite. „Muss man die irgendwoher kennen?“

„Aus Funk und Fernsehen, meinst Du?“ Nadja kichert und beobachtet Zulas Gehabe. „Ich kenne sie jedenfalls nicht.“ Sie schielt auf Eileens Glas. „Aperol-Spritz? Gute Idee. Rebecca, Du auch einen Aperol?“

Rebecca prüft ihr halbleeres Prosecco-Glas, nickt, rückt weiter auf und bleibt neben Eileen stehen. „Was so ein bisschen Aufmachung bewirkt, oder?“

Inja schnappt sich ein weiteres Glas Prosecco, steuert auf Zula zu und streckt es ihr entgegen: „Herzlich Willkommen in Mirdif!“

Mit gekonntem Wimpernaufschlag mustert Zula Inja von Kopf bis Fuß. „Ihr wohnt hier also. Interessant. Authentisch.“

„Nein!“ Vehement wiederholt Inja, „nein, nein. Wir wohnen da drüben.“ Und zeigt demonstrativ mit ausgetrecktem Arm auf die beleuchtete Villa, die sich durch die Fensterfassade in voller Pracht zeigt. „Ich mache Dich aber gern mit den Gastgebern bekannt.“

Zula winkt mit der Hand ab und fährt fort, „es scheint ein eher älterer Stadtteil zu sein, in dem ihr hier wohnt. Kannte ich noch gar nicht.“

„Möglich. Vor allem ist man schnell am Flughafen. Wir jetten viel hin und her.“

Rebecca winkt Nina zu sich heran. „Mit wem macht Jochen denn Geschäfte, sag mal?“

Etwas unbeholfen dreht sich Nina zur Seite, zuckt mit den Schultern und rempelt versehentlich Abigail an, die einen überfüllten Teller vom Buffet vor sich her balanciert. „Oh, Entschuldigung!“

Abigail lacht. „Alles an Ort und Stelle, also auf dem Teller geblieben.“

Nach einem flüchtigen Blick darauf ruft Nina Rebecca zu: „Guck mal, wenn das keine ayurvedische Kost ist!“

Rebecca streckt ihren Hals.

Abigail hält ihr den Teller hin. „Ich hole mir gern einen neuen.“

Schnell zieht Rebecca ihren Kopf wieder ein. „Oh, Gott, so hab ich das nicht gemeint.“ Sie sieht sich im Wohnzimmer um. „Im Stehen sollte man aber nicht essen.“

„Deshalb gehe ich auf die Terrasse. Da gibt es Stühle.“

Mit einer schnellen Handbewegung verdeckt Rebecca ihre Augen. „Ich bin heute kein Kommunikationstalent. Ich hatte überlegt, wenn ich mir jetzt auch einen Teller holen würde…“

Abigail unterbricht, „dann könntest Du mit mir zusammen auf die Terrasse kommen, die noch keiner entdeckt zu haben scheint.“

Rebecca streckt einen Daumen in die Höhe. „Bin gleich da.“

Abigail öffnet die Glasschiebetür zur Terrasse. Angenehme, milde Luft strömt ihr entgegen. Der Mondschein macht es offensichtlich: die Hitze des Tages ist erst einmal wieder geschafft. Anfang Oktober. Schon bald beginnt die schönste Jahreszeit. Grillen zirpen und die Flugzeuge haben sich wenigstens für diesen Moment verflüchtigt. Der beleuchtete Pool strahlt ruhig. Keine tobenden Kinder mehr, nur noch das sich brechende Licht auf dem türkisgrünen Wasser. Die Kerzen ringherum wirken verloren, verbreiten wenigstens punktuell harmonisches Licht und täuschen an den Stellen darüber hinweg, dass alles zubetoniert ist. Nichts mehr mit Wüste. Abigail setzt sich auf einen Terrassenstuhl, stellt ihren Teller auf die Balustrade, große Pflanzen in Kübeln, vielleicht sogar Palmen, rings um den Pool. Hm. Ich werde Nadja mal darauf ansprechen, was sie von der Idee hält.

Mit Nina im Schlepptau betritt Rebecca die Terrasse. „Das ist doch schön hier! Idyllisch! Nadja klingt immer so besorgt.“

„Ich glaube, das braucht sie nicht.“ Abigail nimmt ihren Teller wieder auf ihren Schoß. „Wir werden hier eine gute Nachbarschaft abgeben. Aber ich kann sie gut verstehen. Mir ging es nicht anders.“

„Von der guten Nachbarschaft bin ich überzeugt!“ Nina setzt sich auf eine Gartenbank. „Und welche Sorgen hatten Dich getrieben, Abigail?“

„Wir kennen einige Expats, die in ihren Communities in den Golfstaaten ein Leben wie in Kanada führen. Nur noch das Klima macht den Unterschied aus.“ Abigail lächelt. „Wir waren daher wild entschlossen, alles anzunehmen, uns vollständig in die neue Kultur zu integrieren, wenn wir schon so eine Chance bekommen.“

Nina unterbricht sie, „und jetzt gibt es keinen Zweifel mehr: ihr werdet euch verdammt gut verstehen!“

Rebecca nickt. „Und was hatte Dich beunruhigt?“

Abigail räuspert sich. „Wir wohnten vorher in Sharjah. Für vier Jahre. In einem Compound mit drei weiteren Familien. Ein schönes Compound. Auch mit einem Pool. Ganz ähnlich wie hier.“ Ihr Blick schweift über den Hof. „Und unser Integrationsprojekt ist dort gescheitert. Wir, mein Mann, unsere Zwillinge und ich, sind nun einmal westlich geprägt. Und das lässt sich nicht so einfach abschütteln. Meine Töchter hätten einen Burkini am Pool anziehen müssen. Plötzlich, quasi von einen Tag auf den anderen, als sie sich zu entwickeln begannen. Um keine bösen Blicke aus der Nachbarschaft auf sich zu ziehen, sind sie stattdessen nicht mehr in den Pool gegangen.“

Rebecca nickt. „Verstehe.“

„Es ist gar nicht so einfach…mit der Toleranz. Auf beiden Seiten nicht. Ich habe mir dort angewöhnt, einen großen Sonnenhut zu tragen, sozusagen als Kompromiss für eine Kopfbedeckung. Ich war einfach gefangen. Klar hätte ich mich verhüllen können, aber ich wäre mir selbst fremd geworden.“

„Und ihr wusstet nicht genau, ob euch hier ein gemäßigteres Leben erwartet. Ob es hier ein mehr oder weniger ähnliches Verständnis über das Zusammenleben in einem Compound geben würde?“

Abigail nickt. „Ganz genau. Ich habe ein großes Interesse an anderen Einflüssen, so lange ich bestimmen darf, wie viel ich für mich und meine Familie zulassen kann. Wenn ich zum Beispiel so einen schicken Sari hätte tragen können, wäre alles in Ordnung gewesen. Das ist doch einer, oder?“

„Nein, kein Sari. Eine Salwar Kameez.“ Rebecca lacht.

Abigail lächelt amüsiert. „Was auch immer. Es sieht toll aus. Aus Indien?“

Rebecca schaut geheimnisvoll zu Nina.

„Jetzt komm mal raus mit den News, Rebecca.“

„Wo ist denn Nadja? Dann erzähle ich nicht doppelt.“

Nina rollt mit den Augen. „Das wird sie notfalls von Abigail oder mir erfahren müssen. Aber Du spannst uns jetzt bitte nicht weiter auf die Folter.“

„Okay, Katze aus dem Sack: ich habe mich zu einer Yoga-Ausbildung in einem Ashram angemeldet.“

„Wie lange ?“ Nina starrt sie mit großen Augen an.

„Der Kurs dauert acht Wochen.“

„Donnerwetter. Das ist ja … das ist ja…toll. Und aufregend und mutig auch.“

Abigail fragt: „Wo liegt denn der Ashram?“

„In Kerala. Ich wäre lieber in den Norden, am liebsten nach Uttarkashi in den Himalaya gereist, unweit der Quelle des Ganges. Aber das ginge erst wieder im Sommer. Witterungsbedingt.“ Rebecca räuspert sich. „Und so lange wollte ich nicht mehr warten.“

„Wow, Rebecca! Du traust Dich was.“

„Ich hoffe, mein Mut verlässt mich nicht. Der Alltag ist streng strukturiert und startet früh… um 5.20 Uhr.“

Nina holt Luft und fährt zuckend zusammen. „Man, hab ich mich erschrocken!“ Aus der Dunkelheit erscheint eine junge Frau. „Entschuldigung. Der Kerzenschein reicht wohl nicht aus, um uns anzukündigen.“

Abigail streckt sich. „Emily, wen hast Du denn da mitgebracht?“

Nina antwortet für sie, „Fred, das ist Fred wie er leibt und lebt. Fred, wo kommst Du denn um diese Zeit her?“

„Ich wollte meinen neuen Freund besuchen.“ Er grinst über das ganze Gesicht. „Aber der soll schon schlafen.“

„Ist ja auch richtig. Es ist schon spät. Ist bei Dir denn noch keine Schlafenszeit ausgerufen worden?“

Fred zuckt mit den Schultern.

Emily verdreht die Augen. „Carl denkt gar nicht daran, zur Ruhe zu kommen, solange sein neuer Freund an die Terrassentür hämmert. Er wohnt doch hier, oder?“

„Ich hole seine Mutter.“ Rebecca steht auf, dreht sich zu Fred: „Oder kommst Du gleich mit, Fred?“.

Fred schüttelt verschmitzt den Kopf. „Ist so schön hier draußen.“

„Hab ich mir gedacht, Banause.“

„Hast Du nicht freitags deinen freien Tag?“ Abigail schlägt sich an die Stirn. „Ach klar, logisch, Du hast wegen der Party getauscht.“

Emilys Augen werden schmal. „Von einem freiwilligen Tauschen kann nicht die Rede sein.“

Nadja stürmt auf die Terrasse. „Du Ausreißer! Kannst doch nicht einfach weglaufen!“ Und zu Emily gewandt: „Danke fürs Vorbeibringen. Magst Du vielleicht ein bisschen reinkommen?“

Emily legt ihren Kopf schräg und stemmt ihre Hände in die Hüfte. „Ich kann ja schlecht Carl allein lassen.“

„Nein, stimmt, sorry. Okay, dann aber trotzdem noch einmal danke fürs Bringen!“

„Tschüss, viel Spaß noch“, raunt sie und ist schon wieder in der Dunkelheit verschwunden. Kurze Zeit später ertönt das Knallen einer Terrassentür.

Nadja fragt Abigail: „Ist sie die Babysitterin bei Inja und Jasper?“

„Das Au-Pair-Mädchen. Aus Deutschland übrigens.“

Die Tür hinter ihnen wird aufgerissen. Inja düst heraus und rauscht wortlos an dem Grüppchen vorbei.

„Vielleicht sollten sie sich lieber eine philippinische Maid für ihren Sonnenschein zulegen, als ein deutsches, aufmüpfiges Au-Pair-Mädchen.“ Nina streckt nacheinander einzeln ihre Finger aus, als zähle sie Sekunden. „Wobei mir allerdings nicht ganz klar ist, was das AuPair-Mädchen gerade falsch gemacht haben könnte.“

„Ganz im Gegenteil.“ Nadja stützt sich auf Freds Schultern ab. „Aber ein gutaussehendes AuPair-Mädchen macht wahrscheinlich allein durch die Tatsache ihrer Anwesenheit schon Probleme.“

„Gute Nacht!“, ertönt es im Chor als Nadja mit Fred an der Hand im Haus verschwindet. Rebecca schenkt die Gläser wieder voll. „Wie viele Models werden denn heute noch erwartet?“

Nina prustet. „Vor allem von niemand erwartete! Jochen versucht immer noch hinter seinen eigenen Geschäftskontakt zu steigen.“

„Jochen kennt den gar nicht? Den Michael mit seiner Zula?“

Nina schüttelt den Kopf und lacht. „Der bietet irgendwie IT-Dienstleistungen an. Aber von jedweder Digitalisierung ist Jochens Firma weit entfernt. Und das Email-Programm läuft.“ Dann registriert Nina ihre zehn ausgestreckten Finger in ihrem Schoß und guckt zur Villa mit den beleuchteten Fenstern am anderen Ende des Compounds. „Das Türknallen ist ausgeblieben.“

Eileen rückt dichter an Nadja heran und flüstert, „jedes Glas und jede Stunde werde ich morgen früh bitter bereuen. Das ahne ich jetzt schon.“

„Dann legst Du Dich halt wieder hin. Du hast doch jetzt eine Maid.“

Sie seufzt. „Das kann ich ihr noch nicht zutrauen. Mit Konstantin allein zu bleiben. Es wäre grundsätzlich besser, ich bin immer dabei, zumindest wenn Konstantin wach ist.“

Lächelnd legt Nadja ihren Arm um sie. „Die werden bestimmt schnell miteinander vertraut. Sie kennen sich doch erst seit zwei Wochen.“

Nadja beobachtet, wie sich ein Mann, den sie noch nie gesehen hat, am Buffet bedient. Verstohlen dreht sie sich zu Henny. „Wer ist das denn? Der sich jetzt gerade Fried Rice auffüllt?“

„Das ist Jamie. Der Schotte aus dem mittleren Haus. Witziger Kerl, bisschen verschroben vielleicht.“

„Ach, der geheimnisumwobene Schotte, der ganz alleine in einem Haus mit vier Schlafzimmern lebt. Da stimmt doch was nicht.“ Nadja guckt amüsiert zu ihm rüber.

„Ich stelle euch gleich einmal einander vor. Dann kannst Du alles herausfinden, was Du wissen musst.“ Henny versucht Nadja in die Küche zu führen. Weit kommen sie nicht.

„Und?“, fragt Stefan, „vermisst ihr eure alte Nachbarschaft?“

Nadja lächelt Stefan an. „Ach Stefan. Es war immer so schön, Dich morgens am Pool zu treffen. Wenn wir unsere Bahnen in den frühen Stunden gezogen haben, bei Tagesanbruch. Wenn alles noch ruhig, unverbraucht und voller Energie ist….“ Nadja schaut versunken ins Leere und wacht auf, als sie Hennys Stimme hört: „Aber wir sind trotz Mirdif-Residenz eurer noch würdig, oder?“

„Jederzeit willkommen. Und vor allem seid ihr ja nicht aus der Welt. Hätte alles auch anders kommen können, nicht wahr… Und wir hätten euch zukünftig in Deutschland besuchen müssen.“

„Ganz so weit ist es noch nicht. Dubai braucht mich noch.“

„Na sicher, Henny. Und Zweifel der Firma über den Nutzen deiner Entsendung lassen sich doch nun hervorragend mit den gesunkenen Personalkosten ausräumen, oder? War ein kluger Schachzug von Dir, hierher zu ziehen.“

Henny nimmt einen Schluck aus seiner Bierflasche. Er murmelt, „und weg vom schillernden Glanz- und Glamour-Dubai mit all seinen Versuchungen.“

„Komm doch im November mal vorbei. Da habe ich so etwas wie sturmfreie Bude oder Stubenarrest. Irgendetwas dazwischen.“

Nadja kneift ihre Augen zusammen, „und wo ist deine Familie derweil?“

„Hat Rebecca etwa immer noch nicht von ihren Plänen berichten können?“

„Ich weiß von nichts.“

„Yoga. Yoga hat sie vor. Und dieses Mal in Indien.“

„Dann hat sich nur die Location verändert. Ansonsten nichts Neues.“ Henny kratzt sich am Kopf. „Die beeindruckenden Verrenkungen auf der Wiese vor dem Pool habe ich noch genau vorm Auge. Und dann macht man die Pooltür auf und sieht den nächsten Verrückten, der seine achthundertste Bahn schwimmt.“

Stefan grinst. „Andere joggen bei 45 Grad um die Ranches. Ob das so viel normaler ist?“

„Ich komme zum Männer-BBQ vorbei! Mit Verstärkung.“

Henny fasst dem vorbeigehenden Jamie auf die Schulter. „Jamie, ich möchte Dir unseren ehemaligen Nachbarn Stefan vorstellen und natürlich auch meine Frau. Nadja.“ Mit einem Kopfnicken deutet Henny auf Stefan, dann auf Nadja.

Vielen Dank für die Reihenfolge, denkt Nadja und streckt Jamie die Hand entgegen. Stefan schaut auf Jamies Teller und bemerkt zwei Flaschen Bier in Jamies Gesäßtaschen. „Henny hat ein Kennenlernen soeben schon geplant. Bei mir zu Hause. Bei Fleisch und Bier.“

Durch das plötzliche Grinsen verschieben sich Jamies Ohren an seinem hohlwangigen Gesicht. „Wann?“

Henny räuspert sich. „Wenn seine Frau dahin geht, wo der Pfeffer wächst.“

Stefan lacht. „Sie kommt Gott-sei-dank ja wieder. Ein Donnerstagabend im November? Vielleicht gleich der erste?“

„Ich bin dabei“, nuschelt Jamie mit vollem Mund, schluckt herunter und wischt sich mit dem Hemdärmel über den Mund. „Ist ja noch ein bisschen hin. Vielleicht machen wir vorher einen gemeinsamen Trip in die Wüste? Alle Mann?“

Nadjas Fäuste zittern vor ihrer Brust. „In vollen Familienbesetzungen aber.“

Jamie nickt ihr zu. „Das meinte ich.“ Und schiebt den nächsten Löffel Fried Rice in den Mund.

Nadja guckt ihn durchdringend an, Du hast doch noch mehr zu sagen.

„Ich muss allerdings alleine mitkommen. Oder gilt ‚for families only‘?“ Jamie kaut, schluckt und leckt mit der Zunge einen Rest aus dem Mundwinkel, dann vom Handrücken. „Ihr kennt doch das Schild? An machen Stränden steht es.“

Henny nickt. „Du lebst allein?“

Danke Henny.

„Meine Familie kommt noch.“

Nadja nickt ausdauernd, schade. Unspektakulär. Doch kein unzähmbarer Robert-Redford-Frauenversteher-Typ ohne Manieren.

Plötzlich steht Inja neben ihnen. Sie wickelt eine Strähne um ihren Finger und nippt an ihrem Glas. „Deine Familie kommt nach?“

„Inja. Hi.“ Er räuspert sich und legt die Gabel auf den Teller. „Ja, so ist es geplant.“

„Hm.“ Inja und Jamie schauen sich an. Henny gähnt. Nadja starrt weiterhin und ungeniert den Mann ohne Manieren an und verlagert dabei das Gewicht langsam auf das andere Bein.

Mit einer Mischung aus Schalk und Sympathie lächelt Jamie Inja an. „Ich habe Dich lange nicht gesehen. Weder am Pool, noch an der Straße…“

„Ich Dich auch nicht.“ Inja legt ihren Kopf schräg. „Arbeitest Du momentan so viel? Soll ja ablenken, wenn die Familie nicht da ist.“

Fast unbemerkt stellt sich Jasper zum Grüppchen und legt einen Arm um Injas Taille.

Nickend zieht Jamie beide Flaschen aus den Hosentasche, öffnet eine mit dem Kronkorken der anderen und lässt die geschlossene wieder in seiner Gesäßtasche verschwinden. Er setzt an und stößt die hochkommende Luft kontrolliert aus. „Wagen wir noch einmal eine Runde zusammen, Jasper? Schotte gegen Schwede?“

Jasper streckt einen Daumen in die Höhe. „Mir würde es gefallen, wenn wir unser Early-Bird-Golfspiel freitags zu einer festen Routine werden ließen. Dann hätte Schweden irgendwann auch mal eine Chance gegen Schottland.“ Jasper dreht sich zu Inja. „Um die Zeit schläfst Du ja ohnehin noch.“ Er verstummt. „Habe ich euch unterbrochen?“

„Nein. Nein, gar nicht.“ Inja stammelt etwas Unverständliches und beißt sich dann doch auf die Unterlippe.

Nadja fragt, „ihr kennt euch schon länger, oder?“

Ruckartig hebt Inja den Kopf. „Nein, wie kommst Du denn darauf? Wir kennen uns exakt seit dem Einzug. Fand am selben Tag statt.“

„Ach tatsächlich?“

„Das war natürlich verbindend, ein gemeinsamer Einzug sozusagen. Fast wie früher, in eine Studenten-WG zu ziehen.“ Inja lacht etwas zu schrill. „Und dann waren wir auch noch die ersten im Compound.“ Sie versinkt in Gedanken. „Ein Möbelpacker trug prompt eine unserer Kommoden bei Jamie ins Haus und baute sie dort sogar auf.“

Jamie lacht. „Schade, dass es nur eine Kommode war!“

Inja lächelt ihn an.

Jasper atmet hörbar und kommentiert, „Besitzverhältnisse sind nicht immer ganz eindeutig.“

Jamie winkt ab. „Die Kommode steht ja wieder bei euch. Alles gut. Und so schön finde ich die auch nicht.“

Jasper hält den Augenkontakt zu Jamie und führt das Weißweinglas an die Lippen.

„Hat das nicht gerade geklingelt?“ Fragend schaut Nadja in die Runde. „Das werden wir gleich sehen.“ Schemenhaft erkennt sie eine Gestalt hinter der gelben Plastikscheibe, durchquert den Hof und öffnet die Tür. Vor ihr, an der Straße ein zartes Mädchen, das sie aus mandelförmigen Augen anschaut. Sie trägt ein Baby.

Nadja schluckt, so etwas habe ich hier noch nie erlebt.

Das asiatische Mädchen hat kurzgeschnittenes, struppiges Haar. Das Baby ist hingegen groß und kräftig. Nadja beugt sich über das Bündel, atmet geräuschvoll aus und lässt die Schultern fallen. „Konstantin will nicht schlafen?“

Mit Tränen in den Augen schüttelt die Filipina den Kopf. „Ich habe alles versucht.“ Die Tränen beginnen zu fließen. Sie flüstert, „ist Mam hier?“

Nadja holt tief Luft, streckt ihren Arm aus und will ihr über die Schulter streichen, aber das Mädchen zuckt und tritt einen schnellen Schritt zurück.

„Wie heißt Du?“

Sie schaut auf den Boden. „Mali.“

„Du scheinst erfahren mit Babys. Bist Du selber auch schon Mama?“

Energisch schüttelt Mali den Kopf. „Nein, Ma’am.“ Sie zögert und stammelt, „aber ich habe viele Erfahrungen. Mit Babys, Putzen, im Haushalt. Ich bin immer fleißig.“

„Das glaube ich Dir, Mali. Ich hole Eileen.“

Mali nickt.

Nadja findet Eileen auf der Terrasse in einer angeregten Unterhaltung mit Abigail. „Eileen, Deine Maid steht mit Konstantin vor der Tür.“

Eileens Gesichtszüge erstarren. „O Gott, sie ist mit ihm allein über die Straße gekommen?“ Der Terrassenstuhl fällt um, als Eileen aufspringt und sich an Nadja vorbei durch die Terrassentür drängt.

Nadja ruft ihr hinterher, „es ist nichts passiert. Er ist nur aufgewacht.“

Eileen schiebt sich durch das Wohnzimmer, bahnt sich ihren Weg durch die Gäste und die vielen sperrigen Möbelstücke.

Nadja schüttelt ihren Kopf. „Steht da plötzlich ein Kind mit Baby auf dem Arm vor mir.“ Sie legt ihre Hand an die Stirn, Daumen und Finger drücken ihre Schläfen, und schließlich läuft sie Eileen hinterher.

Als sie in den Hof kommt, drückt Eileen ihren Sohn fest an sich. Mali steht abseits und starrt auf den Boden.

Mit Tränen in den Augen schaut Eileen von Konstantin auf. „Mali, Du hättest mich anrufen müssen.“ Trotz Tränenschleier funkelt es jetzt aus ihren Augen. „Und nicht einfach kopflos mein Kind nehmen und nach draußen gehen.“

Nadja beobachtet, wie Mali schützend ihre Hände über den Kopf hält. „Ma’am, I’m so sorry.“ Mali ringt nach Luft und beginnt zu schluchzen. Sie hält abwechselnd beide Hände vor ihr Gesicht und wieder über ihren Kopf.

Nadja schaut von Mali zu Eileen. Mit fester Stimme fragt sie: „Eileen, wo drückt eigentlich dein Schuh?“

Eileen schließt die Augen und legt ihren Kopf in den Nacken. „Ich hätte sie nicht zu uns holen dürfen. Seither ist Angst mein ständiger Begleiter.“

„Wovor hast Du Angst?“

Eileens Körper beginnt zu beben, sie weint, holt Luft und presst hervor, „ich habe solche Angst, dass Konstantin etwas zustößt. Dass er entführt wird, wenn sie Mali finden.“

„Warum sollte das passieren? Wer will Mali finden?“

„Ihr früherer Arbeitgeber sucht sie. Sie ist abgehauen…in einer Nacht- und Nebelaktion ist sie aus einer emiratischen Familie geflohen.“

Mali senkt die Hände. Ein fleckig verweintes Kindergesicht mit struppigem Haar kommt zum Vorschein.

Stefan lehnt an der Hauswand neben dem Maharadscha und steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Er greift in seine Hosentasche und zieht ein Feuerzeug heraus. Als er die Flamme an die Zigarette hält, schaut er auf, blickt in Nadjas Gesicht. Sie halten Blickkontakt und Stefan schüttelt langsam mit demn Kopf.

Und plötzlich stolpert eine wohlduftende antilopenhafte Gestalt in seine Seite. Zula ist auf den Stufen vor der Haustür auf ihren High Heels umgeknickt. Eine entkorkte Flasche Champagner fest am Flaschenhals umklammernd. Reflexhaft fängt Stefan sie auf und hält sie am Arm fest. Als sie schwankend Stabilität erlangt, lockert er seinen Griff. „Geht’s? Gefährlich diese Stufen.“

Michael folgt und lallt, „die Frau will jeder im Arm halten!“ Laut lachend schlägt er mit der flachen Hand Stefan zwischen die Schulterblätter. Stefan öffnet den beiden schweigend die Tür zur Straße. Auf dem Sandstreifen vor dem Haus parken mehrere Autos. Michael wählt den Porsche Cayenne und die beiden brausen davon.

Nadja und Stefan gucken sich wortlos an. Nadja zuckt mit den Schultern. Stefan deutet mit einem Fingerzeig auf Eileen und Mali und räuspert sich dann. „Ich kann euch gern nach Hause begleiten.“

Eileen schaut auf, wartet und nickt schließlich.

Sehr behutsam schließt Nadja die Tür hinter ihnen, und trotzdem klappert die Plastikscheibe. Sie setzt sich auf die Stufen vor der Haustür. Die Laterne flackert noch einmal auf und erlischt. Sie schaut in den dunklen Himmel. Kein Stern am Firmament. Nadja fühlt neben sich etwas auf der Treppe, greift nach Stefans Zigarettenschachtel und steckt sich eine Zigarette an.

Gesternland

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