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5.Begegnungen

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Nadja steckt ihren Kopf in Hennys geöffnete Tür zum Arbeitszimmer. „Wir sind zum Isha-Gebet wieder da“.

„Wie bitte?“

„Alexander, Fred und ich sind zwischen halb sieben und sieben wieder hier. Pünktlich zum Abendessen.“

„Wo wollt ihr denn hin?“

„Zu Nina und Rebecca.“

Henny schiebt die Tastatur dicht vor den Bildschirm. Die Rückenlehne biegt sich zurück als er die Arme vor dem Bauch verschränkt. „Kannst Du mir mal erklären, was das soll? Du fährst seit unserem Umzug fast täglich in die Ranches.“ Nach einer Pause fährt er fort, „dabei müsstest Du doch am besten wissen, warum wir jetzt hier wohnen. Und hier sollte auch dein Lebensmittelpunkt sein. So viel zu deiner Rechtleitung. Kannst Du ja mal in das Isha-Gebet integrieren.“

Nadjas Blick erkaltet. „In den Ranches lebt mein sorgsam aufgebauter Freundeskreis. Mein Alltag! Und die Freunde unserer Jungs leben ebenfalls dort. Nicht hier.“

Henny spannt die Mundwinkel kurz an, schüttelt den Kopf und beugt sich wieder zum Schreibtisch vor. Er schaut auf den Bildschirm und murmelt, „und deine Affaire.“

Nadja schlägt mit der flachen Hand gegen die Türzarge. „Daran hältst Du immer noch fest, nicht wahr? An einer haltlose Unterstellung, die Dir vermeintlich das Recht gibt, Dich im Selbstmitleid zu suhlen. Hast Du Dir einmal überlegt, wie Du mich damit verletzt? Da war nie irgendetwas anderes als Schwimmtraining und Arabischunterricht. Ich hoffe, das geht irgendwann einmal in deinen Kopf rein.“

Nadja schlägt die Zimmertür zu, leck mich am Arsch.

Sie bleibt stehen, wartet bis sich die Atmung und der Herzschlag beruhigt. Mit etwas zittrigen Beinen schaut sie in Alexanders Zimmer, beugt sich über ihn und schaut auf das Heft, das vor ihm auf dem Schreibtisch liegt. Alexander schreibt, radiert und unterstreicht sorgsam mit einem Geodreieck das akribisch und mühsam Geschriebene. Mit dem Daumenballen wischt sich Nadja eine Träne aus dem Augenwinkel. „Brauchst Du noch lange für deine Hausaufgaben?“

„Ich bin fast fertig. Ich muss noch zwei Strophen auswendig lernen. Aber das kann ich im Auto machen.“

„Prima, dann kann es ja losgehen!“ Sie klatscht in die Hände und hält inne: „hast Du dein Zimmer so picobello aufgeräumt?“

Alexander nickt.

„Respekt.“

Vorsichtig öffnet sie die Tür zu Freds Zimmer und sieht ihn schlafend auf seinem Bett liegen. Sie schleicht hinein, setzt sich auf die Bettkante und streicht Fred die Haare aus der Stirn. Ihr beide entschädigt mich für alles. Ihr seid der Sinn meines Lebens. Sie beugt sich über ihn und küsst ihn auf die Wange. Wie auf Knopfdruck öffnen sich Freds runde Kinderaugen und blicken sie groß an. „Mama“, murmelt er, nimmt ihre Hand und schiebt sie unter seinen Kopf.

Eine halbe Stunde später sitzen die drei im Auto. Auf der alten Bypass-Road wird nichts los sein, aber die Strecke ist lang und langweilig. Wenn ich die Emirates Road nehme, bin ich schneller am Ziel. Sie schaut auf das Display. Um diese Zeit ist dort bestimmt noch nicht viel los, denkt sie und startet den VW in Übergröße. Der Wagen blubbert und setzt sich in Gang. Sie schaut aus dem Seitenfenster zu Eileens Haus. Ob bei Dir alles okay ist? Morgen gehe ich mal rüber.

Zwischen den bebauten Grundstücken sind Wüstenstreifen, Erinnerungen an einen urban gemachten Landstrich und willkommene Abkürzungen zu Fuß.

Ihr Blick wandert zum Rückspiegel. Sie lächelt. Alexander hat den Ausdruck des Gedichts vor der Nase. Seine Lippen murmeln, „Herr von Ribeck von Ribeck im Havelland….“

„…ein Birnenbaum in seinem Garten stand. Das habe ich in meiner Schulzeit auch auswendig gelernt, Alexander.“ Alexander schaut von seinem Zettel auf. „Eine Dattelpalme in seiner Oase stand.“

Fred hat sich ein Bilderbuch aus der Tasche des Vordersitzes gezogen und saugt zufrieden am Strohhalm eines Trinkkakaos.

Die Sonne steht hoch und trotz getönter Scheibe blendet die Helligkeit. Nadja klappt den Blendschutz herunter. „Alexander, magst Du mal in meine Handtasche gucken, ob meine Sonnenbrille darin liegt?“

Alexander reicht ihr die Sonnenbrille aus dem Etui entgegen. Auf der rechten Seite türmt sich das Mirdif City Center auf. Und Nadja fährt auf die Sheik Mohammed bin Zayed Road, die ehemalige Emirates Road. Wie viel Taxen Chaos es nach der Umbenennung in 2012 wohl gab?, geht es Nadja durch den Kopf.

„Willst Du schon mal probieren, die erste Strophe aufzusagen? Also die Original-Strophe?“

„Mama, guck nach vorn. Papa hat gesagt, die E311 ist die unfallreichste Straße in den Emiraten.“

Nadja schmunzelt und kann den Blick trotzdem nicht vom Rückspiegel loseisen. „Was ist das denn für ein Spinner. Warum fährt der denn so dicht auf? Ja, klar, und Lichthupe. Hier sind nur 130 erlaubt. Vollpfosten.“ Im Seitenspiegel sieht sie, wie ein Muscle-Car mit A-Kennzeichen überholt. „War ja klar. Ich weiß, wer da drin sitzt.“ Sie riskiert einen Blick zur Seite und schaut in ein grinsendes, von einer rotweißen Kufiya gerahmtes Gesicht eines jungen Emiratis auf dem Beifahrersitz. Die makellose Dishdasha hebt sich weiß von dem beigen Ledersitz ab. „Ihr braucht mich nicht herauszufordern. Ihr Söhne.“ Die Araber geben Gas und mit Getöse nehmen sie Fahrt auf. „Vergesst nicht zu bremsen. Die Radarkontrollen filtern die A-Kennzeichen nicht heraus.“

„Mama, stimmt es, dass die Kontrollen die durchschnittliche Geschwindigkeit zwischen zwei Stationen bestimmen und daraus eine Geschwindigkeitsüberschreitung feststellen können?“

„Ja, das habe ich auch gehört. Hat Papa uns das mal erzählt?“

„Weiß nicht mehr so genau.“

„Es wird aber auch immer viel geredet. Sollte es sich nur um ein Gerücht handeln, das zur Abschreckung in Umlauf gebracht wurde, ist es wenigstens mal ein Sinnvolles.“

Sie überlegt, wird nicht auch immer behauptet, rebellierende Arbeitsmigranten würden in der Wüste ausgesetzt? Bauarbeiter, die gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen protestieren? Dieses Gerücht hält sich auch hartnäckig…

Nach der Emarat Tankstelle fährt Nadja auf die rechte Spur. „Gleich haben wir es geschafft, Jungs.“ Sie fährt ab und ordnet sich in der rechten Spur für den Fly-Over über die E311 ein. Ein plötzlicher Ruck lässt den Wagen kurz beschleunigen, fast von der Fahrbahn abkommen. Nadja fühlt ein unkontrollierbares Anschieben. Sie hält die Luft an. Was ist das, was passiert, wann hört das auf? Sie beginnt in kurzen Zügen schneller zu atmen. Im Rückspiegel sieht sie, wie ein Taxi an ihrer Stoßstange klebt und sich dann zurückfallen lässt. Erneut gibt es Gas, versucht zu überholen und mit einem ‚Rumms‘ sitzt es in der Seite. „Alexander“, schreit Nadja. Alexander schaut gebannt aus dem Fenster in das Taxi. Nadja schließt für eine Sekunde die Augen. „Gott sei Dank – nichts passiert.“

„Mama, was war das?“, Freds Stimme zittert.

„Uns ist ein Auto reingefahren, mein Schatz.“

Sie sitzen dort Oben in ihrem Wagen auf dem Fly-Over. Nadja verdrängt in Bruchteilen von Sekunden alle Gedanken, was bei mehr Geschwindigkeit hätte passieren können. Immer wieder drängt sich der Gedanke in den Vordergrund, ob es Absicht war. Das Taxi kommt vor ihnen zum Stehen. Der Fahrer steigt aus und schlendert zu Nadjas Wagen. Nadja holt tief Luft, fährt ihre Fensterscheibe herunter und streckt den Kopf heraus, jetzt nichts Unüberlegtes sagen und nicht die Fassung verlieren, egal was kommt.

„Du hast mich wohl nicht gesehen, wie?“

Nadja schaut ihn irritiert an.

„Kann ja passieren. Bist Du versichert?“

Nein, nein, so läuft das nicht, denkt Nadja. „Ich rufe die Polizei.“

„Ach, das kriegen wir auch so geregelt. Du bist doch versichert, oder etwa nicht?“

Nadja antwortet nicht und nimmt ihr Handy vom Beifahrersitz. Der Taxifahrer greift ins Fenster und versucht ihr behutsam das Handy aus der Hand zu nehmen.

„Finger weg!“, schreit Nadja. Fred fängt an zu weinen. Die Autos hinter ihnen hupen. Der Taxifahrer zieht die Hand zurück. „Ist ja gut.“

Nadja macht durch die Windschutzscheibe Fotos von dem Taxi. „Wir fahren jetzt weiter bis zur Umm Suqeim. Am ersten Roundabout rechts, Abfahrt Motor City. Da können wir parken und auf die Polizei warten.“

„Blöde Schlampe.“

„Wie bitte? Denk übrigens nicht ans Abhauen. Dafür ist es jetzt zu spät.“

Er wendet sich ab und guckt auf die Wagennummer auf der Rückseite seines Wagens. Nadja startet den Motor, beugt sich aus dem Fenster und sagt, „und die Beleidigung gebe ich auch zu Protokoll.“

„Saudi-Arabien hat einen großen Fehler gemacht, Frauen ans Steuer zu lassen.“ Er geht zu seinem Taxi und steigt ein. Sie dreht sich zur Rückbank, lächelt ihre Jungs an. „Alles klar, ihr zwei?“

Alexander ist auf den mittleren Sitz gerutscht und hat einen Arm um Fred gelegt. Nadja schaut auf seine Hüfte „Schnall Dich bitte an.“ Sie streichelt Freds Bein, das vom Kindersitz herunterbaumelt. Alexander schließt den Gurt. „Mama, haben wir Schuld?“

„Nein, mein Schatz. Nicht das kleinste bisschen. Wir rufen gleich die Polizei und dann ist alles gut.“

Nach einer Ewigkeit kommt ein Polizei-SUV und hält vor dem Taxi auf dem Seitenstreifen. Nadja steuert auf die Beamten zu.

„Geh in deinen Wagen und warte.“

Nadja schluckt. „Wie bitte? Ich bin die Geschädigte des Unfalls. Ich möchte eine Aussage machen.“

„Ja, ja, alles zu seiner Zeit. Geh in deinen Wagen, bitte. Wir vernehmen den Taxifahrer und kommen danach zu Dir.“

Neben ihr steht plötzlich der Taxifahrer und beginnt auf Arabisch mit den Polizisten zu sprechen.

„Geh.“ Der Polizist zeigt auf ihren Wagen.

Sie geht zurück, steigt ein, sitzt auf dem Fahrersitz und starrt durch die Windschutzscheibe ins Leere. Schnaps wäre jetzt gut.

Ein Polizist reicht ein Formular durch das Fenster. „Hier. Unterschreiben.“ Er hält ihr ungeduldig ein rosarotes Blatt vor das Gesicht.

„Das ist auf Arabisch. Was unterschreibe ich da?“

Der Polizist schiebt seine Sonnenbrille auf den Kopf. „Dass Du Schuld an dem Unfall hast.“

„Nein! Das stimmt nicht. Das Taxi hat mich abgedrängt.“

„Die Sache ist geregelt. Du hast nicht geguckt. Unterschreib!“

„Nein. Das ist so nicht richtig. Ich bestehe auf eine Anhörung.“

Der Polizist beugt sich in ihr Fenster. „Wir können Dich auch mitnehmen. Dann bleibst Du eine Nacht auf der Wache. Wir hätten da ein Plätzchen für Dich.“

Alexander beginnt zu weinen. Nadja dreht sich zu ihm. „Schatz, alles gut. Wir müssen nicht zur Polizeiwache fahren.“ Nadja grabscht den ihr hingehaltenen Kugelschreiber und unterschreibt.

Der Beamte nickt und sie schließt das Fenster, schaut zu, wie die Beamten in ihren Wagen steigen und schlägt mit der flachen Hand auf ihr Lenkrad. Sie schließt kurz die Augen, hält sich mit beiden Händen die Schläfen und setzt sich dann aufrecht hin. Schließlich rutscht sie auf der großen Sitzfläche zurück und wirft den Motor an. Bevor sie losfährt, dreht sie sich noch einmal zur Rückbank und schaut in die erschrockenen Gesichter ihrer Jungs. „Es wird alles gut. Verspreche ich euch. Jetzt fahren wir erst einmal zum Pool und verbringen einen supercoolen Nachmittag, okay?“ Zögerlich erwidern Fred und Alexander das Lächeln.

Als sie das Gate für die Community Mirador – La Collection passiert, parkt am Straßenrand ein Taxi. Sie gibt Gas, „Nein! Raus aus meinem Kopf. Wir haben jetzt einen schönen Nachmittag – verdammt noch mal!“

„Mama?“ Alexander beobachtet im Rückspiegel das Gesicht seiner Mutter.

„Tut mir leid.“ Sie lächelt in den Rückspiegel und parkt auf dem Seitenstreifen vor dem Park.

„Endlich!“ Fin legt Alexander eine Hand auf die Schulter. „Ich habe schon eine Ewigkeit auf Dich gewartet!“

„Wir hatten einen Unfall. Und mussten auf die Polizei warten. Die Polizisten tragen Waffen an ihrer Uniform!“

Nina schaut von Fred zu Nadja. Nadja nickt. „Total doof und überflüssig. Aber es ist niemandem etwas passiert. Al-Hamdu lillah“

„Und das Auto?“

„Muss in die Werkstatt. Da ist bestimmt irgendetwas verzogen. Das Lenkrad knirscht in den Kurven.“

„Ist ja glücklicherweise immer alles versichert.“

Nadja fängt an zu lachen. „Das ist heute wirklich das einzige, was zu zählen scheint! Der Taxifahrer, der mir reingefahren ist, war auch nur an meiner Versicherung interessiert.“

„Wieso? Hast Du Schuld gehabt?“

„Nein, aber er wollte sie mir in die Schuhe schieben und mit Unterstützung der Polizei ist ihm das auch wunderbar geglückt.“

„Was?“

„Naja, die kennen ja nur seine Darstellung.“

Weiter kommt sie nicht. Rebeccas Tochter Svea nähert sich dem Pool. Nadja öffnet den Mund, setzt zum Sprechen an und schweigt. Groß und langgliedrig schlendert Svea auf sie zu. Ihr langes hellbraunes Haar schimmert in der Sonne und umrahmt ein Puppengesicht. Aus dem schlichten, ärmellosen Kleid ragen braune Arme und knochige Knie. Gezielt, aber nicht hektisch, steuert sie die freie Liege neben ihrer Mutter an, ihre Tasche über der Schulter baumelnd. Sie setzt sich und lächelt reihum die Freundinnen ihrer Mutter an. Keiner spricht. Svea scheint das Schweigen zu genießen, das plötzliche Verstummen schnatternder Mittvierzigerinnen. Mohamad schielt von der anderen Seite des Pools zu dem Grüppchen um Svea. Nahezu regungslos und gespielt unbeteiligt, taxiert er Svea und scannt danach um sich herum die Liegeflächen und den Pool ab. Er wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn.

Rebecca bricht das Schweigen. „Schön, dass Du da bist, Svea.“ Svea setzt ihre Sonnenbrille auf und streckt sich auf der Liege aus. Sie antwortet nicht. Langsam zieht sie ein Bein heran und wendet das Gesicht der Sonne zu. Rebecca täuscht eine abwinkende Geste an. „Man muss ja auch nicht mit jedem sprechen.“

Nina greift den Faden wieder auf. „Du hast der Polizei nicht den Unfall aus deiner Sicht geschildert?“ Und beobachtet, wie Svea Mohamads Aufmerksamkeit immer stärker auf sich zieht.

„Die haben mich einfach nicht zu Wort kommen lassen.“

Langsam schiebt Svea die Sonnenbrille ins Haar und lächelt zu Mohamad herüber. Er nickt ihr zu und fährt sich erneut mit der Hand über die Stirn. Er räuspert sich, schlägt das Pool-Buch auf und kritzelt hinein. Svea greift neben sich in ihre Tasche und zieht einen dunkelblauen Bikini heraus, legt sich den auf den Bauch und bleibt liegen. Sie döst und blinzelt in die Sonne. Nach einer Weile steht sie gemächlich auf und schlendert zu den Umkleiden. Mohamad guckt von dem Notizbuch auf, ihr hinterher. Kaum ist sie im Umkleidebereich verschwunden, dreht sich Nina zu Rebecca und guckt sie durchdringend an.

„Was ist?“, fragt Rebecca.

„Bemerkst Du das nicht?“

„Was genau bemerke ich nicht, liebste Nina?“

„Da braut sich doch etwas zusammen.“

„Warum braut sich etwas zusammen? Weil Nadja der Polizei nicht den Unfallhergang schildern konnte?“

„Nun sei doch nicht so begriffsstutzig. Deine Tochter verdreht dem Lifeguard den Kopf.“

Rebecca lacht. „Soll sie doch.“

„Mein ja nur.“

Nadja richtet sich auf. „Naja, der Hinweis ist berechtigt und nicht ganz unwichtig. In diesem Land gibt es für Teenager-Flirts kein Moratorium.“

„Komm, erzähl mir nicht, dass die muslimischen Mädchen nicht flirten. Sofern sie eine Gelegenheit dazu haben. Aber hier...“, Rebecca zeigt mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die Steinplatten, „könnten sie es definitiv.“

„Es sieht nach Außen immer alles ganz westlich locker aus. Liberal und offen. Aber wenn es darauf ankommt, gilt die verbriefte Vorstellung von Recht, Tugend, Moral und, und, und…mit einem Wort die Scharia.“

Rebecca seufzt. „Ich lese auch die 7DAYS, den ablenkenden, bunten und kostenlosen Zeitvertreib, und weiß, was hier angeblich mit Mädchen passiert, die vor der Ehe Sex haben. Aber entschuldigt mal bitte“, Rebecca kichert, „davon ist meine Tochter meilenweit entfernt. Sie geht schwimmen!“

Nina gluckst.

Nadja schaut von Nina zu Bettina. „Ich sag ja nur, was ich sehe.“

„Mir tut der Kerl da drüben auch ein bisschen Leid.“ Rebecca räuspert sich. „Und ich bin heilfroh, dass meine Tochter nicht artig den Blick zu Boden senkt, senken muss, wenn ein Mann auf der Bildfläche erscheint.“

Svea kommt zurück, fasst dabei das Haar am Hinterkopf zusammen und wickelt es zu einem Knoten am Oberkopf. Nadja, Rebecca und Nina sitzen auf ihren Sonnenliegen wie Zuschauer in einer Manege. Svea setzt sich auf die Stufen im Pool, die Füße im Wasser. Sie stützt sich auf den Handflächen ab und rutscht eine Stufe tiefer. Langsam beugt sie sich vor, holt Luft und stößt sich mit den Füßen an der Treppe ab und gleitet unterhalb der Wasseroberfläche. Sie kommt hoch, atmet aus, dreht sich auf den Rücken und streckt sich, bevor sie einige Züge krault. Elegant wendet sie sich auf den Bauch, holt mit den Beinen Schwung und kommt am Beckenrand an. Sie hält sich an dem Handlauf fest. „Hi!“ Sie strahlt Mohamad an.

„Hi Svea.“

„How are you?“ Sie lacht auf und verbessert sich, „kief halak?“

Mohamad grinst. „Al-Hamdu lillah, shukran.“

Nina stößt Rebecca in die Seite. „Guck!“

„Ist doch alles gut. Ich würde auch mit ihm sprechen, wenn ich gerade meine Bahn beende.“

„Du würdest dabei nicht so aussehen.“

„Danke.“

Nina dreht sich grinsend zu Nadja, aber die stimmt nicht ein. Abwartend beobachtet Nina, wie Nadja nachdenklich auf ihrer Liege sitzt und die beiden anstarrt, ohne eine Miene zu verziehen. Schließlich fasst sie Nadja ans Knie. „Dich nimmt der Unfall ganz schön mit, oder?“

Nadja schrickt auf. „Wie bitte?“

„Der Unfall. Der steckt Dir in den Knochen.“

„Ach so. Ja, schon.“

Ein metallisches ‚Krawumms‘ lässt alle drei zusammenfahren und sich zur zufallenden Tür umdrehen.

Batul zuckt zusammen, wirft die Hand auf die Brust und dreht sich noch einmal zur Tür um. Sie lächelt gleich darauf in die sich entspannenden Gesichter von Nina, Rebecca und Nadja. Mit ihrem kleinen Sohn an der Hand kommt sie auf die drei zu, deutet auf die freie Liege neben Nadja. „Darf ich?“

Nadjas ausgestreckte Hand zeigt auf die Liege. Sie nickt und zwinkert Faisal zu, der sich zum Pool umdreht und Fred zaghaft zuwinkt. „Da wird sich Fred ja freuen.“

Batul beugt sich zu Faisal hinunter und spricht zu ihm. Eine warme dunkle Stimme. Faisal lächelt. Und flitzt dann in die Umkleide.

Rebecca schmunzelt. „Außer Habib habe ich nichts verstanden. Du bist Hayats Mutter, nicht wahr?“

„Ja, Hayat ist meine Tochter.“ Batul schiebt ihre riesengroße schwarze Sonnenbrille auf ihren Hijab und kneift die Augen zusammen. „Wir kennen uns von einem Elternabend an der Deutschen Schule. Aber ich kann Dir gerade gar nicht das passende Kind zuordnen.“

„Svea. Und Jacob. Aber in diesem Fall ist es Svea. Sie hat nämlich Hayat schon öfter erwähnt.“

„Ach, Svea! Okay.“ Batul zieht die Ärmel ihrer taillierten Jeansjacke über die Handgelenke. Erst den einen, dann den anderen. Unter der Jeansjacke trägt sie ein langes beiges Kleid.

„Ja.“ Batul blickt auf. „Svea ist oft bei uns.“ Und zu Nadja gewandt: „seid ihr nicht umgezogen?“

„Sind wir auch. Aber alte Gewohnheiten lassen uns so einige Nachmittage hier verbringen.“ Nadja lächelt sie an. „Und was treibt Dich hierher? Du wohnst doch auch in einer anderen Community?“

„Ich hatte gehofft, Zaina mit ihren Kindern hier zu treffen. Ahmed und Amal. Ihre Maid hatte gesagt, dass sie wohl hier am Pool wären. Zumindest hatte ich das so verstanden.“

Rebecca nickt. „Zaina kommt nachmittags meistens ohne ihre Kinder.“

Über Batuls Nasenwurzel entsteht eine kleine Furche. „Ohne Kinder? Zum Pool?“

„Ja, einfach zum Quatschen. So wie wir gerade.“ Rebecca lacht.

Batul nickt und starrt auf den Pool. Rebecca folgt ihrem Blick und sieht wie ihre Tochter, sich am Beckenrand festhaltend, langsam den Hinterkopf auf das Wasser legt. Auf dem Beckenrand hockt Mohamad und beugt sich weit über den Pool. Er scheint, etwas Lustiges zu erzählen. Svea lacht.

Batul richtet sich auf. „Ist das Svea da drüben?“

„Ja.“

Svea lacht und wirft abwechselnd die langen Armen hinter sich auf die Wasserfläche. Mohamad lächelt sie an und gestikuliert mit den Händen.

Batul seufzt und murmelt, „das ist eure Kultur, nicht wahr?“

Rebecca schiebt eine Augenbraue hoch. Ihr Kieferknochen zeichnet sich kurz unter der Wange ab. Sie schweigt.

„Was machen unsere Töchter eigentlich, wenn sie sich treffen. Weißt Du das, Rebecca?“

„Chillen wahrscheinlich.“

„Aber bitte nicht hier. Das wäre für Hayat nicht in Ordnung.“

Rebecca bläst die Wangen auf und gibt ein kaum hörbares „Puh“ von sich.

Plötzlich steht Zaina mit einer großen Korbtasche vor ihnen. Sie mustert Batul. „Was für eine Überraschung! Du hier, Batul.“

Batul streckt ihren Kopf und hält die Handfläche über den Rand ihrer Sonnenbrille. „Ich hoffte, Dich hier anzutreffen. Und hörte auch schon, dass Du Deine Nachmittage öfter hier verbringst.“

„Ja, wir wohnen hier. In Mirador La Collection.“ Zaina lacht.

Ein prüfender Blick.

Svea kommt aus dem Wasser und erkennt Batul. Ihre Schultern fallen ein wenig nach vorn. Zügig steuert sie auf ihre Tasche zu, zieht ein Badelaken heraus, und hält es sich mit beiden Händen vor die Nase. Um sie herum entsteht eine Formation von Wassertropfen auf dem Boden. Sie atmet in den Zipfel des Handtuchs, greift dann die Enden und hüllt sich in das Laken. Der Frotteestoff wird durch die angewinkelten Achseln festgeklemmt. Die Schlüsselbeine stechen wir Verbindungsstreben von den Schultern zum Brustbein hervor. „Hi Batul.“

Ohne ein Lächeln nickt Batul ihr schweigend zu.

„Ist Hayat zu Hause?“

„Nein, sie ist bei ihrer Koranlehrerin.“

„Wann ist sie denn zurück?“

„Ich hole sie nach dem Mahgrib-Gebet.“

„Also, so gegen halb sechs?“

„Genau. Sehr gut.“

„Ich dachte, vielleicht könnte ich sie heute Abend noch treffen, damit wir an unserem Referat für nächste Woche arbeiten.“

„Ich sag ihr Bescheid, dass sie Dich anrufen soll.“

Svea nickt. „Danke.“ Sie bückt sich zu ihrer Umhängetasche und geht in dem Handtuch-Wickelkleid zum Dusch- und Umkleidehäuschen. Zaina schaut ihr hinterher und lässt gleich darauf den Blick schweifen. Jetzt nimmt sie Mohamad ins Visier. Das Du schwitzt, liegt nicht an der Außentemperatur.

Batul reißt sie aus ihren Beobachtungen. „Ich hatte Dir neulich von einem Buch erzählt. Erinnerst Du Dich?“

Zaina dreht sich zu ihr. „Ein Buch?“

„Ja. Ich wollte es Dir bringen, aber wollte es nicht unkommentiert bei deiner Maid abgeben. Sie sagte, dass ich Dich hier finden würde.“

„Meine Maid hat die Tür aufgemacht?“

„Darf sie das nicht?“

„Sie hat strikte Anweisung, die Tür nicht zu öffnen.“ Zaina schüttelt den Kopf. „Ich glaube, ich muss zukünftig abschließen.“

Rebecca zupft Fusseln von ihrem Handtuch. „Du willst deine Maid im Haus einschließen?“

„Das ist nun wirklich nichts Ungewöhnliches, Rebecca.“

Rebecca blickt sie durchdringend aber schweigend an.

Batul schaut abwechselnd von Rebecca zu Zaina und wartet. Schließlich sagt sie, „ich bin mir sicher, dass Dir das Buch gefallen wird.“ Etwas zögerlich zieht sie aus ihrem Korb ein Buch.

Nadja streckt den Hals und starrt neugierig auf den Titel. „Don’t be sad!“, ruft sie aus, „das kenn ich!“ Sie guckt Batul an. „Das ist wirklich großartig. Hat mir auch schon einige Relationen wieder gerade gerückt.“

Batul lächelt. „Das freut mich sehr, zu hören.“

Zaina beginnt im Buch zu blättern. „Gott belastet keinen Menschen mit mehr als er gut zu tragen vermag. Das ist aus der zweiten Sure, Al Baqara. Meine Lieblingssure.“

Batuls Augen glänzen. Sie nickt Nadja zu. Nadja lächelt und murmelt, „heute Abend werde ich darin eine passende Stelle suchen, um das Unrecht von heute Nachmittag verdauen zu können.“

Zaina vertieft sich in das Buch. Dann blickt sie Batul an. „Batul, Du bist für mich ein Muslima-Role-Model!“

„Role-Model für Muslima? Weil ich Dir das Buch gegeben habe?“

„Ja, auch. Du möchtest anderen den Weg zeigen, weil Du deine Religion streng und selbstbewusst lebst. Als würde es Dich keine Opfer kosten, sondern Spaß machen.“

„Spaß machen?“

„Zum Beispiel Dein Kleidungstil. Man könnte Dich als modernes Beispiel für einen islamischen Dress-Code nehmen.“

Batul zieht die Stirn hoch, atmet kurz kraftvoll aus und wiederholt, „islamischer Dress-Code“.

Svea kommt unauffällig und umgezogen zurück, schnappt hektisch ihre Sonnenbrille und raunt ihrer Mutter zu, „ich geh nach Hause.“ Sie lächelt Batul kurz an und geht. Bevor sie die schwere Tür öffnet, dreht sie sich noch einmal zu Mohamad und winkt. Unbeholfen hebt er die Hand und nickt.

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