Читать книгу Katzenjunge - Antje Marschinke - Страница 5
ОглавлениеFlucht
Alsine jagte durch die dunkle Nacht nach Norden und hielt das Kind fest an sich gedrückt. In ihr war eine große Leere. Sie hatte Orant wahrhaftig geliebt. Er war ein meist ernster und zielstrebiger Mann gewesen, aber voller Sanftmut und Liebe für seine Familie. Wie sollte sie nun ohne ihn weiterleben? Und was sollte aus Kenjo werden? Wohin sollten sie sich wenden, falls ihre Flucht glückte? Sie würden immer Gejagte sein. Gejagt von den Mördern ihres Mannes.
Schon bald erreichten sie die Ausläufer des Nordgebirges und Alsine lenkte das Pferd den Berg hinauf. Der Weg wurde immer unwegsamer und der Mond spendete nur wenig Licht. Es war nur eine Frage der Zeit bis das Pferd fehltreten und straucheln würde, und als es dies tat, landeten Alsine und der kleine Kenjo unsanft auf dem Boden. Als sie sich aufgerappelt hatten, stellte die Frau verzweifelt fest, dass das Tier lahmte. Es würde mit Sicherheit nicht mehr in der Lage sein, durch das Geröll zu laufen. Sie mussten es zurücklassen. Ohne weiter zu zögern hob Alsine ihren Sohn auf den Arm und eilte weiter. Sie musste ein Versteck finden.
Langsam zog der Morgen auf und es wurde heller. Alsine sah sich voller Unbehagen um. Noch nie war sie soweit in den Bergen gewesen. Um sie herum türmten sich Felsen und Geröll, grau in grau. Unpassierbare Spalten und steile Hänge zwangen sie immer wieder auszuweichen und verlangsamten ihre Flucht.
Ein lauter Ruf ließ sie herumfahren. Weit entfernt, aber in Sichtweite erblickte sie vier Männer, die zielstrebig auf sie zukletterten. Und sie waren bei weitem schneller als sie.
Mit einem Aufschluchzen hastete sie wieder vorwärts. Kenjo umklammerte still ihren Hals. Er war müde, aber er begriff, dass etwas Entsetzliches vor sich ging, und so verhielt er sich ruhig.
Vollkommen entkräftet floh Alsine durch das Geröll, die Verfolger hart auf den Fersen. Das Zusammentreffen war plötzlich und zumindest für Alsine völlig überraschend. Als sie um einen großen Felsblock bog, stand vor ihr ein riesiges Tier. Grau in grau gefleckt, mit großen Pranken und einer wilden Mähne. Der Berglöwe fixierte die junge Frau aus seinen gelben Augen und gähnte ihr mit beeindruckenden Reißzähnen entgegen.
Alsine sank auf die Knie und drückte Kenjo verzweifelt an sich. Sie hatte von Berglöwen gehört, aber es gab nur sehr wenige Menschen, die ein solches Tier zu Gesicht bekommen hatten. Normalerweise jagten diese Furcht einflößenden Katzen weit oben im Norden des Gebirges.
Die Stimmen der Verfolger kamen näher. Alsine weinte. Vor sich den Tod und hinter sich denselben. Wenn sie wenigstens ihren Sohn retten könnte.
Sie sah der Katze in die Augen. Diese hatte sich immer noch nicht gerührt und schien auf die näher kommenden Stimmen zu lauschen.
Alsine erinnerte sich vage, dass die Berglöwen angeblich eine Seele besaßen. Aber die Geschichten über sie ließen sich nur sehr ungenau darüber aus. In der jungen Frau reifte ein verzweifelter Entschluss und ohne noch lange zu überlegen setzte sie ihn in die Tat um - sie hatte keine Zeit mehr.
Vorsichtig schob sie Kenjo zu dem Löwen hin und sah ihn flehend an.
„Ich bitte dich, Herr der Berge. Verschone mein Kind. Es ist noch klein und ohne Schuld. Ich habe nicht mehr die Kraft es zu schützen. - Ich habe nicht einmal mehr die Kraft zu leben.”
Sie drückte Kenjo einen Kuss auf die Wange.
„Bleibe hier”, befahl sie. „Bleibe bei dem Berglöwen und verstecke dich vor den Männern!”
Dann erhob sie sich und ging langsam und ohne zurückzublicken in die andere Richtung.
Der Berglöwe sah ihr reglos hinterher.
Kenjo hockte verstört auf dem Boden und ließ seinen Blick zwischen dem Löwen und seiner Mutter hin- und herpendeln, bis diese verschwunden war.
Alsine gab sich nun keine Mühe mehr, sich zu verstecken, und bald waren die Verfolger näher gekommen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die Flüchtende einholen würden.
Doch Alsine war nicht bereit, sich fangen zu lassen. Sie hatte alles verloren, was sie geliebt hatte. Wovor sollte sie sich also fürchten?
Die Männer standen bald vor einer Schlucht und sahen schweigend in die Tiefe. Dort leuchtete ein Kleid zwischen den Steinen, die Grabstätte von Alsines zerschmettertem Körper.
„Schade”, meinte Andel nur. „Aber wahrscheinlich ist es besser so. Solche Weiber machen einem doch nur Ärger.”
„Was ist mit dem Knaben”, fragte einer der Soldaten. Der Fürstensohn zuckte die Schultern. „Wenn er nicht dort unten ist, so wird er diese Berge wohl kaum überleben. Es gibt genug Geschöpfe hier, die in einem kleinen Jungen eine willkommene Mahlzeit sehen werden.”
Sie machten sich nicht die Mühe hinunterzuklettern. Die Aasfresser würden den Rest besorgen.