Читать книгу Katzenjunge - Antje Marschinke - Страница 6

Оглавление

Ein Wurfling mehr

Moon war nicht überrascht, als Alsine auf ihn traf. Er hatte sie schon lange vorher gehört und gerochen. Sie verströmte Hast und Angst. Aber auch Sorge. Sorge um den anderen Geruch - den jungen. Und auch die wütenden anderen Menschen lagen in der Luft. Sie stanken nach Blut und Tod. Nach Metall und Gewalt.

Als die Frau vor ihm niedersank, veränderte sich ihr Gestank. Erst war es Todesangst - und dann völlige Ruhe. Moon war erstaunt. Bisher waren die wenigen Menschen, die ihn gesehen hatten, panisch geflüchtet. Aber dann begriff er. Diese Menschin floh bereits. Sie hatte nichts mehr zu verlieren - nur noch ihr Kind.

Moon verstand nicht, was sie zu ihm sagte. Er beherrschte die Menschensprache nicht. Aber ihre Gesten und ihr Geruch verrieten ihm, dass sie ihn um etwas bat. Als sie das Menschenkind zu ihm hinschob und dann fort ging, begriff er auch, was sie wollte. Er warf einen nachdenklichen Blick auf den Knaben. Dieser erwiderte den Blick ohne Furcht. Warum sollte er auch Angst haben? Seine Mutter hatte schließlich mit diesem großen Tier geredet. Also musste es freundlich sein. Moon stieß ein missmutiges Brummen aus. Dann machte er einen großen Satz über den Jungen und folgte der Frau.

Er war ein unsichtbarer Schatten und scharfer Beobachter. Er sah ihre Flucht und ihre Verfolger. Er sah wie sie vor der Schlucht stehen blieb und einen Blick in seine Richtung warf, als wüsste sie, dass er dort stand. Und er sah ihre Verzweiflung und ihre Ruhe - und ihren endgültigen Entschluss.

Als die Männer abzogen, kehrte Moon zu dem Knaben zurück.

Kenjo hockte noch da, wo er ihn verlassen hatte und blickte dem Löwen aus großen dunklen Augen entgegen.

„Wo ist Mama?” fragte er. Der Löwe brummte unwillig, als er die menschlichen Laute hörte. Was sollte er nur mit diesem Menschenkind machen? Es widerstrebte ihm, einem Jungtier ein Leid anzutun, doch würde der Tod nicht das Gnädigste sein? Ihn mitnehmen? Miam würde ihm etwas anderes erzählen. Sie hatte selbst die Höhle voller Wurflinge.

Unentschlossen umkreiste er den Knaben. Schließlich wendete er sich einfach ab und kletterte langsam über das Geröll.

Kenjo sah ihm ratlos hinterher. Wohin ging das Tier jetzt? Als es aus seinem Sichtfeld verschwand, packte ihn doch die Angst. Er war wieder allein - und seine Mutter war fort. Aber sie hatte gesagt, dass er bei dem Tier bleiben sollte. Also musste er das auch tun.

Der Knabe rappelte sich hoch und folgte dem Löwen so schnell er konnte. Nur ab und zu erhaschte er einen Blick auf eine graue Bewegung, doch er war fest entschlossen, seiner Mutter zu gehorchen.

Moon registrierte seinen kleinen Verfolger halb widerwillig, halb bewundernd. Es gehörte eine ganze Portion Mut dazu, ihm durch unbekanntes Gelände zu folgen - ohne zu wissen wohin und mit wem. Er verringerte seine Geschwindigkeit jedoch nicht, so dass der kleine Kenjo alle Kräfte aufbieten musste, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Für den Löwen war das Tempo allerdings anstrengend langsam und er musste sich zwischendurch schwer zügeln, um nicht einfach davon zu springen.

Erst gegen Mittag gestattete er eine Rast. Als Kenjo sich keuchend einen kleinen Felsen hochzog, fand er den Berglöwen wartend auf einem kleinen Plateau. Erschöpft krabbelte er auf das pelzige Raubtier zu und kuschelte sich an das warme Fell. Er fiel sofort in einen tiefen Schlaf.

Moon betrachtete noch etwas unbehaglich die kleine Gestalt. Bis jetzt war er noch nie einem Menschen so nahe gewesen. Gewöhnlich mied er sie. Sie stanken unangenehm nach Metall und Feuer. Auch dieses Menschenkind roch danach, aber noch nicht so penetrant. Wie alt mochte es sein? Ein Jahr, oder zwei? Moon hatte keine Ahnung, wie schnell Menschenkinder wuchsen, aber dieses hier schien noch sehr jung zu sein.

Der Löwe ließ den Jungen bis zum frühen Abend schlafen. Dann stand er einfach auf, so dass Kenjo zur Seite purzelte und sich erschrocken aufrichtete.

Sieben Tage lang führte der Berglöwe Kenjo durch das Gebirge, immer weiter nach Norden. Sie passierten tiefe Schluchten, die sich zwischen den hohen Bergen schlängelten. Sie kletterten über Geröllfelder und an steilen Hängen entlang. Normalerweise wäre die zurückgelegte Entfernung für einen Berglöwen eine Rennstrecke von etwa zwei Tagen gewesen, und Moon wurde immer ungeduldiger. Aber er sah, dass Kenjo sich ohne Murren alle Mühe gab ihm zu folgen, und ihm gefiel die Zähigkeit dieses Wurflings.

Der Junge begriff schnell, dass Reden seinem Führer unangenehm war, und so verstummten seine Fragen bald. Zudem war er meistens viel zu erschöpft, um an etwas anderes zu denken, als schlafen, trinken und essen. Wasser war zu seiner Erleichterung immer erreichbar. Der Berglöwe schien die kleinen Quellen, Tümpel und Pfützen zu wittern, die immer wieder zwischen Steinen versteckt lagen und führte seinen kleinen Schützling zielgerichtet daran vorbei.

Kenjos größtes Problem war der Hunger. Nur zögernd probierte er das rohe Fleisch, das der Löwe ihm anbot, graue Felslöffler. Mühsam würgte er die ungewohnte Nahrung hinunter und bekam auch prompt Bauchschmerzen. Aber der Löwe trieb ihn weiter und so erreichten sie an einem späten Nachmittag das Ziel ihrer Wanderung.

Moon stieß ein donnerndes Gebrüll aus, welches prompt beantwortet wurde.

Kenjo klammerte sich eingeschüchtert an der Flanke des Löwen fest. Sein kleiner Kopf reichte noch nicht einmal an den massigen Bauchansatz von Moon heran.

Miam trat aus ihrer Höhle und sog prüfend die Luft ein. Da war doch ein Mensch!? Als sie die kleine Gestalt neben Moon sah, fauchte sie verblüfft.

Ein Mensch? -

Ein kleiner Mensch, bestätigte Moon und übermittelte ihr die Bilder seiner Erlebnisse.

Miam kam neugierig näher. Sie war nur geringfügig kleiner als Moon und ihre Mähne war nicht so dicht, aber sie hatte schon oft bewiesen, dass sie ihrem Gefährten kräftemäßig in nichts nachstand. Und Moon war darauf stolz. Nicht jeder durfte sich glücklich schätzen eine starke Gefährtin zu haben.

Als sich ihr Kopf dem Knaben näherte, streckte er die Hand aus und berührte arglos ihre Schnauze. Miam riss unwillkürlich das Maul auf und ihre spitzen Zähne blitzten ihm gefährlich entgegen.

Kenjo rümpfte die Nase. Dieses Tier stank entsetzlich aus dem Maul, fand er. Moon deutete seine Mimik richtig und schnaufte belustigt. Da stand dieser kleine Mensch vor einem dolchstrotzenden Maul, das ihn mühelos hätte verschlucken können, und ihm fiel nur auf, dass es Geruch besaß.

Miam erholte sich schnell von ihrer Überraschung und nahm prüfend noch einmal Witterung.

Er riecht schon sehr nach Moon, kaum noch nach Menschen, stellte sie fest. Er ist noch ein Baby und er hat Hunger.

Kurz entschlossen schubste sie den Knaben zur Höhle hin. Gehorsam lief Kenjo hinein und fand sich sofort in einem Gewühl aus Fell, Muskeln und kleinen spitzen Zähnen wieder. Miams Wurflinge waren noch sehr jung, nur wenige Monate alt, und entsprechend neugierig. Kenjo war neu für sie und schien ein herrliches Spielzeug zu sein. Erst Miams Fauchen scheuchte die Kleinen von ihm fort.

Kenjo hockte zerzaust und übersät mit Kratzern und blauen Flecken auf dem Boden und war hin- und hergerissen zwischen Angst und Begeisterung. Dass diese temperamentvollen Fellbündel nur spielen wollten, hatte er sofort begriffen, und dagegen war nichts einzuwenden. Aber sie waren immerhin genauso groß wie er und um einiges massiger und kräftiger. Außerdem waren sie zu dritt und in ihrer Überzahl ziemlich erdrückend.

Doch es sollte nicht lange dauern, bis er sich an seine wilden Spielgefährten gewöhnt hatte. Miam hatte, ohne länger darüber nachzudenken, beschlossen, den kleinen Menschen zu adoptieren, und zu Moons Erleichterung machte sie ihm keine Vorwürfe. Der Kleine war zwar Mensch, aber nur ein kleines Kind und ohne ihre Hilfe verloren. Außerdem schien er vernünftig und war ohne Angst.

Also blieb Kenjo, und er fügte sich rasch in die kleine Höhlengemeinschaft ein.

Schnell lernte er die Mimik und die Laute seiner neuen Familie richtig zu deuten. Er war noch jung und intelligent genug dazu. Deshalb begriff er auch, dass da noch etwas anderes war. Etwas, was er nicht hören und nicht sehen konnte. Warum sahen sich die Löwen manchmal minuten- oder gar stundenlang an, ohne Laut? Redeten sie miteinander? Aber wie?

Kenjo hockte in diesen Momenten unglücklich unter ihnen und versuchte zu ergründen was ihm fehlte.

Es war Nuur, sein Lieblingsbruder, der ihm das Sprechen beibrachte, - wenn auch unfreiwillig.

Miam hatte gewöhnlich alle Pfoten zu tun, um ihre Wurflinge beisammenzuhalten. Moon war meistens auf der Jagd, so dass sie alleine über sie wachte. Die temperamentvollen kleinen Kraftbündel wuchsen rasch und wurden von Tag zu Tag neugieriger und unvorsichtiger. Daher war es verständlich, dass Miam gegen Abend häufig erschöpft und auch unachtsamer war.

Und so gelang es Nuur und Kenjo, sich heimlich davonzustehlen und im Felsengewirr Verstecken zu spielen. Dabei war Kenjo naturgemäß im Nachteil, aber er hatte es sich angewöhnt mit all seinen Sinnen zu arbeiten. Schließlich hatte er in den Berglöwen genügend Vorbilder, die ständig ihre Nase überall hinstreckten, die Ohren spitzten und die Augen überall zu haben schienen.

Prüfend sog er die Luft durch die Nasenflügel und lauschte angestrengt nach seinem Bruder. Sein kleiner Körper bebte geradezu vor Konzentration, so intensiv hielten Körper und Sinne nach dem jungen Berglöwen Ausschau. Und dann war es plötzlich, als würde die Welt aus den Angeln gekippt.

Erst hörte er einen gellenden Schrei - Nuur! - und dann brachen Farben-Gedanken-Gefühle in seinen Kopf, die alle dasselbe zeigten: Angst-Schmerz-Federn-Schnabel.

Kenjo fiel vor lauter Entsetzen und Schrecken auf die Knie, doch Nuurs Hilfeschreie waren zu intensiv, als dass Kenjo sich ihnen entziehen konnte. Noch immer von Nuur überflutet rannte er in die Richtung des Entsetzens.

Als er Nuur erreichte, sah er den jungen Löwen verzweifelt gegen einen riesigen Bergadler ankämpfen. Noch niemals hatte Kenjo einen solch gewaltigen Vogel gesehen und er war erst starr vor Staunen. Die Flügelspannweite des Adlers betrug mindestens drei Mannslängen, und der Schnabel schien dem Knaben so groß wie sein eigener Kopf. Aber dann sah er in die kalten Augen des Raubvogels und begriff, dass in ihnen der blanke Wille zum Töten stand. Mit einem verzweifelten Schrei ergriff er einen großen Stein und warf ihn nach dem Angreifer.

Der Bergadler war irritiert, als ein Mensch auf der Bildfläche erschien. Und als er auch noch von einem Stein getroffen wurde, ließ er von seinem Opfer ab und stürzte sich mit lautem Kreischen auf den Jungen. Doch bevor er diesen erreichte, ertönte ein ohrenbetäubendes Brüllen und ein grauer Schatten sprang über Kenjo hinweg und prallte voller Wucht gegen den Vogel. Ein Knäuel aus Fell und Federn wälzte sich für kurze Zeit am Boden. Dann gelang es dem Adler sich zu lösen und er schwang sich lädiert und mühsam in die Luft.

Miam schickte ihm noch ein zorniges Brüllen hinterher, und der Vogel zog ab. Ein Löwenjunges zu fangen lag im Bereich seiner Möglichkeiten, aber eine ausgewachsene Löwin - das war selbst ihm eine Nummer zu groß.

Erleichtert rannte Kenjo zu Nuur. Dieser lag arg zugerichtet am Boden und leckte seine zahlreichen Wunden. Verwundert lauschte Kenjo in sich hinein. Nuur war noch da - jetzt war er zwar noch voller Schmerzen, aber ruhiger und mindestens genauso erleichtert wie Kenjo. Und dann war da auch Miam - und Murr - und Mier, und sie hießen ihn freudig in ihren Gedanken willkommen.

Kenjo strahlte übers ganze Gesicht, - und Miam war erleichtert. Also war der Junge doch nicht stumm. Er hatte nur etwas länger gebraucht. Vielleicht war das bei Menschen so, sie waren ja in allem anderen auch sehr langsam und schwach.

Nach diesem Erlebnis wurden die Wurflinge vorsichtiger - zumindest eine Zeitlang - und Miam konnte ein paar ruhigere Tage genießen. Doch die Löwin gab sich keinen Illusionen hin. Es lag in der Natur der Berglöwen hinauszulaufen und Neues zu entdecken.

Nuurs Wunden waren zum Glück nicht tief und verheilten rasch, so dass er bald wieder an den wilden Spielen seiner Geschwister teilnehmen konnte. Und so dauerte es nicht lange, bis der Bergadler in Vergessenheit geriet.

Jetzt, wo Kenjo die Sprache gefunden hatte, stellten Miam und Moon überrascht fest, dass er zwar alt an Jahren, aber tatsächlich noch sehr jung war. Dies erklärte auch, warum er im Gegensatz zu den jungen Berglöwen, so langsam wuchs. Trotzdem hatte er Mut gezeigt, als er den Adler angriff und so sahen sie keinen Grund, ihn langsamer zu lehren, als seine Löwengeschwister.

Nach und nach wurden die Spiele der Wurflinge zur Jagd gelenkt. Miam, und manchmal auch Moon zeigten ihnen, wie man eine Beute aufspürt, beschleicht und angreift. Auch Kenjo nahm daran teil. Er entwickelte sich zu einem ausdauernden Renner und zeigte großes Geschick beim Beschleichen. Nur das Erlegen der Beute bereitete ihm naturgemäß Schwierigkeiten, besaß er doch weder Krallen noch Reißzähne. Kleineren Tieren verdrehte er das Genick, aber bei den größeren fehlte ihm die dazu nötige Kraft, und er war auf die Hilfe seiner Geschwister angewiesen. Diese zogen ihn häufig wegen dieses Mangels auf, und Kenjo sann verzweifelt darüber nach, wie er diesen Neckereien entgehen konnte.

Eines Tages befahl Moon ihm zu folgen. Gehorsam rannte Kenjo hinter dem Berglöwen her. Dieses Mal ging die Reise wesentlich schneller vonstatten, als beim ersten Mal und Moon war darüber sehr zufrieden. Nach einigen Stunden hielt Moon vor einem kargen und ruppigen Strauch. In dieser Felsenlandschaft waren Pflanzen etwas sehr Seltenes. Nur wenige Gewächse vermochten in den Nordbergen zu bestehen und Holzgewächse gehörten normalerweise nicht dazu.

Du wirst ein guter Jäger sein, dachte Moon, aber du musst noch Töten lernen. Menschenpfoten sind ohne Krallen, aber sie benutzen spitze Stöcke.

Interessiert verfolgte Kenjo seine Beschreibungen und Bilder. Sie riefen alte Erinnerungen in ihm wach. Erinnerungen an große dunkle Männer mit Schwertern. Aber auch Erinnerungen an lustige Männer, die Lanzen nach Scheiben und Säcken warfen. Zögernd ging er zu einem Strauch und riss einen langen Ast heraus. Gemeinsam mit Moons Erinnerungen und Zähnen fertigte er einen langen Stock mit einer Spitze. Vorsichtshalber nahm er noch einige weitere Äste an sich. Dann machten sie sich auf den Rückweg.

Kenjos Wurfversuche scheiterten jämmerlich. Seine Geschwister rollten sich vergnügt auf dem Rücken herum, wenn die Stöcke durch die Luft eierten. Aber Kenjo hatte die Zielstrebigkeit seines Vaters geerbt. Er begriff schnell, dass die Stöcke zu krumm zum Werfen waren, und ohne andere Hilfsmittel und menschliches Wissen konnte er das nicht ändern. Doch er fand schnell heraus, dass auch ein krummer Stock eine tödliche Spitze besaß - wenn man kräftig genug zustieß. Und bald darauf stieß Kenjo sein erstes Siegesgebrüll aus. Er hatte allein einen Sprungbock erlegt. Alle waren stolz auf ihn. Auch Kenjo würde ein guter Jäger werden.

Katzenjunge

Подняться наверх