Читать книгу Felsentochter - Antje Marschinke - Страница 6
Die Sucherin
ОглавлениеAls Ari vierzehn Jahre alt wurde, war die Zeit der Sucherprüfung gekommen. Die Felsen sollten entscheiden, ob Ari Sucherin werden sollte oder nicht. Selten wurde eines der Kinder für diese Rolle erwählt. Meistens war es ein besonders starkes oder intelligentes Kind. Beides traf auf Ari augenscheinlich nicht zu. Sie war sehr klein und zierlich, und was ihre Intelligenz betraf, - nun Geschichten konnte sie zweifellos behalten, aber mehr hatte sie bisher nicht bewiesen. Niemand rechnete damit, dass Ari wirklich erwählt wurde.
Am Tag der Prüfung versammelte sich das Volk der Ardruan am Sucherfelsen. Es waren nunmehr sechzig Personen, doch bis auf Ari selbst keine Kinder mehr. Die armseligen Überreste eines einst mächtigen Volkes.
Der Ältestenrat, bestehend aus 11 Männern und Frauen bildete einen Halbkreis um den Sucherfelsen. Dieser war ein riesiger silbergrauer Fels mit blank geschliffener Vorderseite, eingelassen in der Höhlenwand. Sein Durchmesser betrug etwa drei Meter in der Breite und fünf Meter in der Höhe; die obere Kante lag kaum sichtbar im flackernden Dämmerlicht.
Dieser Felsen war die Ein- und Austrittspforte für die Sucher. Von hier brachen sie zur Jagd auf und kehrten auch immer hierher zurück.
An ihm entschied sich auch, wer zum Sucher bestimmt war.
Rechts und links des Steines hatten sich die vier derzeitigen Sucher postiert: Zwei Männer und zwei Frauen. Hoch gewachsen waren sie und ihre langen, sehnigen Gliedmaßen zeugten von viel Bewegung und Kraft. Zwei von ihnen waren schon alt, wirkten aber noch rüstig und behänder als andere ihres Alters. Die jüngeren Sucher waren noch im besten Lebensalter, doch man sah ihnen bereits an, dass die Hauptlast der Verantwortung auf ihren Schultern lag. Kantig und dünn waren ihre Gesichtszüge und ihre Augen blickten ernst, aber auch ein bisschen hoffnungslos.
Die letzte Erwählung lag schon sehr lange zurück und dieses zarte Kind entsprach so gar nicht den bisherigen Suchern, dass auch sie sich nicht vorstellen konnten, eine neue Sucherin in ihre Reihen aufnehmen zu dürfen.
Ari trat nervös von einem Bein aufs andere, während sie vor dem Sucherstein stand. Diese Prüfung war seit Jahrhunderten eine der wichtigsten im Leben eines Ardruans. Sucher waren überlebenswichtig für das Volk. Nur sie vermochten durch das Gestein zu gehen, um außerhalb der Höhle nach Nahrung, Wasser und Holz zu suchen. Jeder Sucher war daher hoch geachtet und sich seiner Bedeutung mehr als bewusst.
Im Gegensatz zu allen anderen ihres Volkes war Ari insgeheim fest davon überzeugt, dass sie Sucherin werden durfte. Sie musste einfach! Was sollte sie sonst mit ihren Geschichten anfangen? Von ihrem Volk wollte kaum einer zuhören. Aber was tun, wenn sie sich täuschte und abgelehnt würde? Oh, dann wollte sie sterben, ganz bestimmt!
Der Erste des Ältestenrates trat hinter sie. Er war nicht nur Wortführer der Ältesten sondern auch Vermittler zwischen Mutter Gestein und dem Volk der Ardruan. Er und Ari richteten ihre Augen auf den Sucherstein. Der Erste hob die Hände und alle wurden schlagartig still.
„Mutter Gestein, höre mich an. Wir sind dein Volk und deiner Gnade beugen wir uns demütig. Hier steht eines unserer Kinder, welches das Alter erreicht hat, um Sucherin zu werden. Sie möchte dir helfen unser Volk zu ernähren und zu beschützen. Wir bitten dich ihr nun zu zeigen, ob sie deiner Gnade würdig ist.“
Er stieß Ari ungeduldig in den Rücken.
Ari zögerte erst. Doch dann holte sie tief Luft und schloss die Augen. Sie legte die Hände auf die Felsen und fühlte das glatte Gestein an den Handflächen.
Die Zuschauer zuckten die Schultern, als nichts geschah. Sie hatten nichts anderes erwartet.
Ari stand atemlos vor dem Felsen und spürte, wie eine Kraft in sie floss, die sie nie zuvor gespürt hatte. Der Erste stieß sie wieder an.
„Nun komm schon. Was du machst ist ungehörig.“
Aber Ari reagierte nicht. Sie fühlte, wie der Fels unter ihrer Hand kribbelte und sie sanft liebkoste. Ari stieß einen tiefen Seufzer aus und trat einen Schritt vorwärts. Ihre Hände glitten ins Gestein und streichelten es.
Der Erste schrie überrascht auf, worauf sich die Leute ihnen wieder zuwendeten. Ari hatte ihre Arme tief ins Gestein getaucht und schwelgte in ihrem neuen Gefühl.
„Eine Sucherin - sie ist eine Sucherin“, pflanzte sich der Ruf ungläubig fort. „Aber warum gerade sie?“
Ari hörte nichts von der Aufregung. Mit ihren Gefühlen streichelte sie den Felsen und fragte um Erlaubnis weiterzugehen. Sie wurde nahezu vom Felsen aufgesogen, als sie vollständig eintrat und durch die felsige Atmosphäre glitt. Sie brauchte keinen Atem, keine Kraft, da sie eins mit den Felsen war. Wie in einem Traum floss sie vorwärts und erschrak fast, als sie in einem dunklen Tunnel landete. Durch den plötzlichen Atmosphärenwechsel sackte sie unvorbereitet zu Boden. Erschrocken blieb sie sitzen. Es herrschte stockdüstere Finsternis und die Luft war stickig. Aufmerksam lauschte sie. Plötzlich hörte sie ein tappendes Geräusch auf sich zukommen. Ängstlich presste sie sich an die Wand. Als etwas Pelziges an ihren Beinen vorbeistreifte, hätte sie beinahe aufgeschrieen, doch fast sofort wusste sie, was es war. Ein Löffler! Ihr erster Fund als Sucherin! Zögernd streckte sie die Hand aus und zog das völlig erschöpfte und zitternde Tier heran. Glücklich presste sie es an sich. Doch ihr Glücksgefühl verschwand schon bald. Was sollte sie nur tun? Einerseits war ihr Traum in Erfüllung gegangen und sie hatte endlich ein Tier, welchem sie Geschichten erzählen konnte. Aber andererseits sollte sie es töten und ihrem Volk als Nahrung bringen.
„Guten Tag, kleiner Löffler“, flüsterte sie. „Ich möchte dir gerne etwas erzählen, aber... dann kann ich dich nicht mehr töten, das weiß ich. Und dafür hätte niemand Verständnis - außer dem Weisen natürlich.“
Lange saß sie am Boden und hielt den Löffler umklammert. Schließlich entschloss sie sich, einen Versuch zu wagen. Warum hatten die Felsen sie sonst durchgelassen? Sie war Geschichtenerzählerin. Zögernd sendete sie ihren Geist in die Dunkelheit, auf der Suche nach des Löfflers Geist. Als sie ihn tatsächlich traf, war es so unverhofft, dass sie erstarrte. Der Geist war klein und schwach und wurde immer dünner. Ari brauchte einige Zeit bis sie begriff, dass der Löffler starb.
Guten Tag, kleiner Löffler, dachte sie zärtlich und streichelte sein Fell. Diesmal erstarrte der Löffler und streckte seine langen Ohren empor. Ari war fasziniert, als sie spürte wie sein Geist ihr antwortete. Aber er sprach nicht in Worten, er überschüttete sie mit Bildern. Ari war überwältigt. Eine Sturzflut von Farben und Bewegungen brach über sie herein. Sie sah langes, grünes? Zeug auf brauner? Erde?, viele andere Löffler und etwas strahlend Helles hoch oben in einem endlosen blau? Ari ertrank in den Farben.
Als sie wieder zu sich kam, merkte sie, dass sie einen noch warmen, aber toten Körper in den Händen hielt. Leise fing sie an zu weinen. Niemals hatte sie es sich so vorgestellt, niemals!
Nach einiger Zeit stand sie auf. Sie musste zurückkehren - und sie brauchte ihren Fund nicht zu töten. Ari presste den toten Löffler an sich und trat zögernd an den Felsen. Tief atmete sie durch und glitt hinein. Sie brauchte sich nicht zu orientieren. Die Felsen lenkten ihre Richtung und schließlich trat sie durch den Sucherstein wieder zu ihrem Volk, welches andächtig auf sie wartete.
Als das Mädchen heraustrat, stürzten sich alle auf sie, um ihr auf die Schultern zu klopfen. Der tote Löffler wurde begeistert herumgereicht, bis er schließlich bei dem Ersten landete, welcher ihn in Verwahrung nahm.
Ari konnte sich endlich befreien und ging zu dem Weisen. Sie sah ihm in die Augen.
„Ich habe mit dem Löffler geredet“, flüsterte sie. Der Weise riss ungläubig die Augen auf. Ari brach wieder in Tränen aus. „Ich konnte ihm keine Geschichte erzählen, mir fehlten die Bilder. Aber er - er hat mir seine gezeigt.“
Der Weise nahm sie tröstend in seine Arme.
„Kleine Ari“, murmelte er und streichelte sanft ihren Kopf. „Wenn du das sehen durftest, solltest du jubeln und nicht weinen. Denn du bist die erste seit langer Zeit, und ich glaube, du wirst auch die letzte unter uns sein.“