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Eine Helferin

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Ari verbrachte viele glückliche Tage an der Erdoberfläche, aber bald sehnte sie sich danach, größere Erkundungen zu unternehmen. So sehr sie den Anblick der Felsen und Berge auch liebte, so hatte sie doch noch niemanden gefunden, dem sie ihre Geschichten erzählen konnte. Und sie hatte so vieles noch nicht gesehen. Doch einfach fort zugehen kam ihr nicht in den Sinn. Sie war eine Ardruan und eine Sucherin, und sie gehörte zu ihrem Volk. Niemals hätte sie ihre Pflichten abgeworfen und ihr Volk verlassen, ohne eine triftigen Grund zu haben.

Doch dieser Grund kam.

Als Ari eines Tages in den Felsen herumkletterte, auf der Suche nach lebendem Getier, hörte sie plötzlich einen stöhnenden Laut. Erschrocken blieb sie stehen und lauschte. Das Geräusch kam aus der Richtung, in der die Sonne stand. Zögernd kletterte sie vorwärts. Bald hatte sie die Quelle des stöhnenden Geräusches erreicht.

Vor ihr lag ein großer Mann in gekrümmter Haltung. Er trug ein langes zerfetztes Tuch um die Schultern und war überhaupt sehr seltsam und bunt gekleidet.

Ein Mensch, schoss es Ari durch den Kopf. Kein Ardruan, er hat Sonnenhaar und helle Haut.

Vorsichtig beugte sie sich zu ihm hinunter. Eines seiner Beine und ein Arm waren seltsam verrenkt, offensichtlich gebrochen. Als Ari ihn auf den Rücken drehte, stöhnte er wieder auf und öffnete die Augen. Verständnislos blickte er auf das Mädchen mit dem langen mausgrauen Haar, den ebenso grauen Augen und den seltsam starren, scharfkantigen Gesichtszügen.

„Wer bist du?“ krächzte er. Ari lauschte verwundert den Tönen, die der Mann von sich gab. Hatte er gesprochen? Es klang fast bekannt.

„Wer bist du?“ fragte sie ebenfalls. Der Mann riss erstaunt die Augen auf.

„Du ... du sprichst Alt-Ruan?“ flüsterte er in ihrer Sprache. Ari strahlte und klatschte in die Hände.

„Oh, du kannst ja wirklich sprechen. Bist du ein Mensch? Zu welchem Volk gehörst du?“

„Ich ... ich bin ein Bergier. Aber du ... wer bist du?“

Ari lachte. „Ich gehöre zum Volk der Ardruan. Bergier kenne ich. Darüber gibt es einige Geschichten. Es ist eine Stadt, nicht wahr? Eine Stadt mit großen Häusern aus Mutter Gestein.“

Eine Ardruan? Das waren doch Gestalten aus längst vergessenen Zeiten! Der Mann runzelte ungläubig die Stirn und stieß dann einen Schmerzenslaut aus. Quer über Stirn und Wange zog sich eine breite Wunde. Ari schlug sich erschrocken auf den Mund.

„Oh, du bist ja verletzt, warum habe ich das nicht beachtet? Aber - ich weiß nicht wie ich dir helfen soll. Ich bin keine Heilerin, nur eine Sucherin.“

Der Mann stöhnte wieder und versuchte sich aufzurichten. Ari überlegte hin und her. Am besten wäre es, wenn sie ihn zu ihrem Volk bringen würde. Aber abgesehen davon, dass sie ihn schlecht tragen konnte, bezweifelte sie, dass die Felsen ihn durchlassen würden. Entschlossen erhob sie sich.

„Ich versuche Hilfe zu holen, aber ich weiß nicht, ob ich das darf. Doch ich komme bestimmt zurück.“

Vor den entsetzten Augen des Mannes trat Ari in die Wand und verschwand.

„Das gibt es nicht“, ächzte er. „Die Ardruan sind schon seit Ewigkeiten tot. Das kann nicht sein.“

Gnädigerweise verlor er das Bewusstsein, so dass ihm weitere Grübeleien vorerst erspart blieben.

Ari eilte zu ihrem Volk und berichtete von dem Mann. Verzweifelt bat sie um Hilfe, doch die wurde abgelehnt. Der Erste des Rates schüttelte den Kopf.

„Niemand durfte bisher auf die Erde zurück. Warum sollten wir es jetzt können und dürfen? Ari - unser Schicksal liegt hier in Mutter Gestein und nicht dort oben.“

„Aber er wird sonst sterben“, protestierte Ari. „Kann es denn niemand wenigstens versuchen?“

Als niemand sonst sich meldete, erhob sich der Weise.

„Ich werde es versuchen.“

„Du wirst dir den Zorn der Felsen zuziehen“, warnte der Erste.

„Mag sein, aber ich glaube, dass es Aris Geschick ist, dem Mann zu helfen. Ich werde mein möglichstes tun, um sie dabei zu unterstützen. Ich bin alt. Sollte ich sterben, so ist das kein Verlust.“

„Aber deine Geschichten“, warf eine Frau ein. Der Weise blickte sie traurig an.

„Dieses Volk braucht keine Geschichten mehr, und das wisst ihr alle. Nein, ich werde kein Verlust sein.“

Keiner protestierte mehr, als der Weise Heil-Dinge zusammensuchte. Schließlich stand er mit Ari Hand in Hand vor dem Sucherstein.

„Du musst die Augen schließen und einfach nur fühlen“, erklärte Ari und der Weise gehorchte. Vor den erstaunten Augen der Ardruan glitten beide in den Felsen. Sie sollten niemals wieder zurückkehren.

Als die beiden an die Erdoberfläche traten, schrie der Weise vor Entzücken auf und fiel auf die Knie. Schluchzend hob er das Haupt und die schmerzenden Augen der Sonne entgegen. Ari verstand ihn wie wohl sonst niemand auf Ruan und zog sich leise von ihm zurück, damit er mit seinem Glück alleine sein konnte. Besorgt eilte sie zu dem Mann, der mittlerweile wieder bei Bewusstsein war und fassungslos auf den alten Mann blickte.

„Seid ihr wirklich Ardruan?“

„Natürlich“, lächelte Ari. „Was sollten wir sonst sein?“

Der Mann grinste etwas verzerrt. „Das ist wohl wahr. Was sonst?“

Nach einiger Zeit kam der Weise zu den beiden und blickte dem Bergier lange in die Augen.

„Ich glaube, du bist Aris Schicksal, und deshalb werde ich dir helfen. Aber ich möchte, dass du uns erzählst wer du bist, und warum du hier liegst. Währenddessen werde ich dich versorgen.“

Der Verletzte nickte zustimmend. Das Verlangen des Weisen war durchaus berechtigt. Also erzählte er, dass sein Name Cyrill war, und dass er für den Fürsten von Bergier eine wichtige Botschaft aus Molgula, der zauberkundigen Stadt habe. Aber auf dem Weg nach Bergier war er von Dämonen verfolgt und abgedrängt worden. Trotz seines Zaubermantels, welcher ihn durch die Lüfte getragen hatte, war er überholt und in einen heftigen Kampf verwickelt worden. Schließlich war der Mantel zerrissen worden und er selbst stürzte ab. Doch - den Göttern sei Dank - irgendwie hatte er den Sturz überlebt. Als Cyrill mit seiner Geschichte fertig war, legte der Weise den letzten Verband an. Mit zittrigen, aber sachkundigen Händen hatte er sein Werk verrichtet und sank erschöpft zu Boden.

„Kann er jetzt heimgehen?“ fragte Ari. Der Weise schüttelte den Kopf.

„Nein Ari. Er wird noch warten müssen, bis die Knochen verheilt sind. Und selbst dann bezweifle ich, dass er allein durch das Gebirge findet.“

Er sah sie ernst an. „Du wirst ihm dabei helfen müssen.“

„Dann muss ich weit weggehen, nicht wahr?“

„Ja, sehr weit weg. Aber das war doch schon immer dein Wunsch, nicht wahr?“

Ari nagte auf ihrer Unterlippe herum. Man sah ihr die Unsicherheit deutlich an.

„Kannst du nicht mitgehen?“ fragte sie schließlich. Der Weise lächelte verständnisvoll, schüttelte aber den Kopf.

„Nein, kleine Ari. Ich werde nirgendwo mehr hingehen. Mutter Gestein verlangt mich zurück. Ich spüre bereits, wie sie nach mir ruft. Es ist schon viel und mehr als ich jemals erhofft habe, dass ich die Sonne sehen durfte. In ihrer Güte hat sie mir diesen Wunsch erfüllt. - Kleine Ari, ich wünsche dir viel Glück auf deinem Weg. - Ah, - die Felsen. Sie rufen. - Lebe wohl, Letzte der Ardruan, mein Geist wird immer mit dir sein, vereint mit Mutter Gestein.“

Der Weise legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Sein Gesicht wurde friedlich, und im Licht der sinkenden Sonne glätteten sich seine Wangen.

Ari senkte den Kopf und legte die Hände auf den Boden. Leise sprach sie das rituelle Gebet für diejenigen, welche von Mutter Gestein gerufen wurden. Als sie den Kopf wieder hob, sah sie, wie der leblose Körper des Greises in die Felsen versank und dort zu seiner letzten Ruhe gebettet wurde.

Tränen rannen über Aris Gesicht.

„Ich wollte nicht, dass du stirbst“, flüsterte sie. „Aber ich bin froh, dass dein Wunsch in Erfüllung ging. - Ich liebe dich.“

Cyrill hatte dem Ganzen fasziniert und traurig zugesehen. Er hatte genug mitbekommen, um zu begreifen, dass der alte Mann sein Leben für ihn hergegeben hatte. Und das war ein Opfer, dem man nur sehr schwer gerecht werden konnte.

Ari riss sich schließlich aus ihrer Trauer und erwiderte seinen Blick ruhig, aber entschlossen.

„Du musst mir sagen, was ich jetzt tun soll“, verlangte sie.

Felsentochter

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