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Open sea

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Einige Wochen waren ins Land gezogen; Aaron gefiel es gut in der Schule und er erzählte seinem Vater fast täglich von der hübschen und netten Mademoiselle Dumont, die seine Klassenleiterin war. Aber mit der Zeit begann Aaron seine Mutter sehr zu vermissen: hatte er das Leben in den ersten Wochen bei seinem Vater noch als großen Urlaub begriffen, so schien es immer mehr zu dem kleinen Mann vorzudringen, dass er seine Mutter bis mindestens Weihnachten nicht sehen würde, und sie auch danach wieder für eine lange Zeit weg war. Er und Marie telefonierten fast täglich übers Internet, Aaron ging dazu ins Arbeitszimmer seines Vaters und verschloss die Tür, Paul konnte nur das glockenhelle Kinderlachen hinausdringen hören. Nach seinen Telefonaten war die Heiterkeit, die Aaron kurzzeitig befallen hatte, schon wieder verflogen und Aaron wirkte übellaunig und quengelig. Sie stritten über die unbedeutendsten Sachen; so wollte Aaron unbedingt, dass sein Vater ihm das Kitesurfen beibrachte, aber Paul bestand auf seiner Meinung, dass Aaron noch zu jung für diesen Sport war. Er versuchte ihn mit einem Surfbrett zu seinem siebten Geburtstag zu vertrösten, aber Aaron blieb bockig. „Surfen kann doch jeder!“, maulte er, „aber Kitesurfen – das will ich lernen, Daddy!“

Mit der Zeit kam es Paul vor, als ob Aaron nur glücklich war, wenn er in der Schule war oder mit Mummy telefonierte, und dass er selbst nur noch zur Maschine wurde, die dem Jungen pünktlich das Essen aus der Mikrowelle zuschob oder ihn daran erinnerte, dass er noch Hausaufgaben zu machen hatte. Diese Situation belastete Paul sehr.

Dazu kam, dass er nicht aufhören konnte, an Aarons schöne Lehrerin zu denken, obgleich er sie, vom ersten Schultag abgesehen, nur selten und dann nur für wenige Augenblicke gesehen hatte. Sie begegneten sich immer dann, wenn er Aaron mit seinem Landrover zur Schule brachte. Wie, um ihn zusätzlich zu provozieren, zwängte Mademoiselle Dumont ihren Peugeot nun in die allerkleinsten Parklücken, stieg mit wehenden blonden Locken aus, rief ihm ein schnippisches „Bonjour, Monsieur“ zu und drehte ihm dann ihren wohlgeformten Rücken zu, über den die langen Haare glänzend fielen. Er sah ihr nach, bis sie im Schulgebäude verschwunden war, meist begleitet von Aaron, der ihr mit schnellen Schritten hinterherlief. „Kleines Teufelchen, diese Mademoiselle“, murmelte er dann und stieg kopfschüttelnd zurück in den Wagen. Dabei erzählte Aaron nur engelhaftes über seine Grundschullehrerin: Wie sorgsam sie sich jedem Kind annahm in ihrer Klasse. Welch lustige Spiele sie sich ausdachte, um den Kindern das französische Alphabet beizubringen. Wie wundervoll sie sang und dazu auf der Gitarre spielte. Es war kaum zu glauben, wie liebevoll Mademoiselle Dumont zu den Kindern zu sein schien, während er sie, der ihr doch mit feurigen Augen hinterherblickte, links liegen ließ.

Susann lag auf ihrem Bett, einen Arm unter ihren Kopf geschoben, und hielt mit der anderen Hand das Buch, das sie gerade verschlang. Es war Shakespeare, „Romeo und Julia“. Susann liebte die alten Klassiker, vor allem die von Shakespeare, „Ein Sommernachtstraum“, „Viel Lärm um Nichts“ und wie sie alle hießen. Sie träumte davon, auch so begehrt zu werden wie es die Frauen in Shakespeares Stücken wurden – und gleichzeitig konnte sie sich lange nicht entscheiden, wie dieser Traumprinz aussehen sollte, der sie so begehrte. In letzter Zeit, wenn sie in den edlen antiken Büchern mit den gold umrandeten Einbänden schmökerte, tauchte aber immer wieder das Bild dieses unsäglichen Monsieur Lemontre vor ihrem inneren Auge auf. Seine mandelfarbenen Augen und das dunkle, lockige Haar zogen Susann wie magisch an, auch wenn sie es selbst nicht so recht zugeben wollte. Genau deshalb versuchte sie sich aus seinen Fängen zu befreien, aus seinen freundlichen unverfänglich klingenden Grüßen und wurde schnippisch, sobald sie ihm begegnete. Er wollte sie sicher nur ins Bett kriegen, wie es die meisten Männer wollten. Gerade er, dem die Frauen doch am Strand hinterher starrten, wie er mit seinem muskulösen Oberkörper, das Meerwasser an ihm abperlend, aus den Fluten stieg. Und jetzt sollte sie zu diesen Frauen gehören, die ihn ebenfalls heimlich anbeteten? Nein, nein, nein! Susann legte seufzend das Buch beiseite und schloss für einen Moment die Augen, als das Telefon auf ihrem Nachttisch klingelte. Es war Kathleen.

„Was machst du so?“, fragte sie, „wollen wir einen Kaffee trinken gehen?“

„Ach, ich weiß nicht“, Susann wickelte die Telefonschnur ihres alten Apparats spielerisch um ihre langen Finger, „ich fühle mich heute nicht so sehr nach ausgehen.“

„Was ist nur los mit dir?“, wunderte sich Kathleen.

„Kannst du ein Geheimnis für dich bewahren?“, Susann senkte ihre Stimme, obwohl sie allein in ihrer Wohnung war und der Lärm der Straße und das Getöse ihrer Nachbarn wie üblich alle Geräusche, die sie machte, übertönte.

„Ich bin deine beste Freundin, dazu sind beste Freundinnen doch da!“, erwiderte Kathleen in einer Mischung aus empört und belustigt.

„Okay…weißt du…ich habe es dir nicht erzählt, aber erinnerst du dich noch an diesen Surftypen, Paul Lemontre, dem wir vor ein paar Wochen am Strand begegnet sind? Es stellte sich heraus, dass sein Sohn Aaron einer meiner Schützlinge in der ersten Klasse ist. Ich begegne ihm nun jeden Tag und, ja, wie soll ich sagen – er ist natürlich unglaublich machohaft mit seinem blöden riesigen Landrover, und, stell dir vor, einmal hat er sogar seinen Sohn auf dem Vordersitz mitfahren lassen!“ Susann hatte einen Kloß im Hals. Sie konnte es nicht sagen, aber Kathleen verstand sofort.

„Hast du dich etwa in ihn verliebt?“ Das „i“ zog Kathleen in die Länge, und sie kicherte dabei.

„Ach Kathleen, wir sind doch keine Schulmädchen mehr, ich verliebe mich doch nicht in einen Typen, den ich nur ein paar Mal gesehen habe. Das wäre ja so was von oberflächlich und außerdem ist er ja gar nicht mein Typ. Aber es gibt diese Anziehung…ich weiß auch nicht. Und jetzt will ich gar nicht mehr auf die Straße gehen, ich liege nur noch in meinem Bett und lese all diese Liebesromane!“

„Aber du musst rausgehen, Susann!“ Mit einem Male klang Kathleen sehr mütterlich, „Du bist jung und hübsch, lass uns was trinken gehen, okay?“

„Ich…“

Aber Kathleen duldete keinen Widerspruch. In den darauffolgenden Tagen achtete sie darauf, Susann oft zum Kaffeetrinken einzuladen oder mit ihr an den Strand zu fahren, allerdings nur in Küstenbereiche, wo die beiden sicher sein konnten, nicht Paul Lemontre zu begegnen.

Auch Paul musste zwangsweise seine Gedanken wieder auf andere Dinge als die Lehrerin seines Sohns lenken. Der wichtigste französische Kitesurf-Contest stand an, der „Open Sea“, und Paul trainierte nun mit seinem Freund Thomas fast täglich, um in Bestform zu sein und auch dieses Jahr wie bereits in den vergangenen Jahren die Goldmedaille nach Hause zu holen. Dann war es soweit: Der Strand war von bunten Zelten der Veranstalter und Sponsoren übersäht, neugieriges Publikum hatte sich an den Balustraden versammelt, der Wind hatte die perfekte Windstärke und Paul fühlte sich so stark und frei wie seit langem nicht mehr. Er hatte Aaron mit ins Sponsorenzelt genommen, wo dieser von kostenlosen Geschenken und allerlei Gimmicks überhäuft wurde und vom netten Servicepersonal versorgt, so dass er fast vergaß, seinem Vater zuzujubeln, als dieser endlich an der Reihe war. Paul steuerte mit seinem Kite in die Wellen hinaus und nahm bereits die erste größere Welle für eine spektakuläre Doppeldrehung um die eigene Achse. Das Publikum tobte. Von weitem konnte er sehen, wie Aaron stürmisch winkte und klatschte. Er hebelte sich zum Teil aus der Steuerungsleiste des Drachenschirms aus, um dann einhändig einen besonders hohen Sprung über zehn Sekunden zu schaffen. Zu guter Letzt und nach ein paar kleineren Tricks gelang es ihm auch noch, einen lupenreinen Sprung mit nur einem Fuß am Board zu machen: dies war im Normalfall nahezu unmöglich, da man das Board leicht verlieren konnte. Als er wieder am Strand ankam und sein Sohn ihm begeistert entgegengerannt kam, war klar: Auch dieses Jahr würde er wieder als Gewinner des Open Seas feststehen. Sponsoren mit ihren bunten VIP-Bändern um den Hals näherten sich ihm bereits wie Geier, lauernd darauf, ihm einen noch besseren Vertrag als letztes Jahr anzubieten, aber er winkte nur halbherzig ab. Später. Jetzt galt es, den Moment mit Aaron gemeinsam zu genießen.

Am Abend saßen er, Thomas und noch ein paar andere Kitesurfer-Kollegen etwas abseits vom Trubel bei einem Lagerfeuer an einem einsameren Küstenabschnitt zusammen. Dieses gemütliche Beisammensein, von denen die Sponsoren nicht erfahren sollten, war bereits Tradition geworden. Ein paar Kollegen organisierten im Vorfeld ein Catering-Zelt, das Bier, Cocktails und Häppchen bereitstellte, und wenn der offizielle Wettbewerb vorbei war, brachten sie alle etwas Feuerholz an die verabredete Stelle mit, machten ein Lagerfeuer, spielten Gitarre und ließen den Tag gemeinschaftlich ausklingen – kein Spur von Rivalität des vorangegangen Nachmittags war dann noch bei den Kitesurfern zu spüren. Paul hatte Aaron mitgebracht, der sich an kleinen Würstchen, die sie gemeinsam über dem Lagerfeuer gegrillt hatten, pappsatt gegessen hatte und nun selig in seinem Schoß einschlief; sein blondes Haar glänzte im Feuerschein. Paul telefonierte leise mit Aarons Babysitterin, damit sie ihn abholen kam. Gemeinsam brachten sie den immer noch schlafenden Aaron zu ihrem kleinen VW Golf und legten ihn zugedeckt auf die Rückbank. Paul strich seinem Sohn zum Abschied noch einmal durch sein wuscheliges Haar, doch dieser schlief felsenfest.

„Fahr vorsichtig“, sagte er zu dem jungen kaugummikauenden Mädchen und gab ihr ein Extra-Trinkgeld, „und schau so viel Fernsehen, wie du willst. Hauptsache, er putzt sich noch vorm Schlafengehen die Zähne.“

„Wird gemacht, Monsieur Lemontre“, das Mädchen grinste und stieg in ihren Wagen, „und, ehe ichs vergesse: Glückwunsch zum Sieg vorhin. Ich habs am Strand mitverfolgt: Sie sahen wirklich großartig aus!“

Paul nickte dem Mädchen zum Abschied zu, als sie wegfuhr, fuhr sich durch sein lockiges Haar, und ging dann wieder zurück zu den anderen. Die Jungs waren nun endgültig fertig mit ihrem Essen und hatten das Catering-Personal zu sich ans Lagerfeuer eingeladen. Unter ihnen erkannte Paul auch die hübsche Kellnerin, die ihm schon vor ein paar Wochen an der Strandbar aufgefallen war. Wieder lächelte sie ihm zu und schlug die Augen nieder. Der Feuerschein schmeichelte ihrem Gesicht – sie wirkte geheimnisvoller als an dem sonnigen Tag, an dem sie sich das erste Mal begegnet waren. „Hübschen Jungen hast du“, sagte sie mit ihrer angenehm rauen Stimme, „gibt’s da auch eine Mummy dazu?“

Paul rückte zu ihr auf, sodass sich ihre nackten Oberarme fast berührten. Er konnte ihr Parfüm riechen, ein Rosenduft, der vermischt war mit dem Geruch des Meeres und des Salzes. Sie roch unwiderstehlich für ihn.

Der erfolgreiche Tag und das Bier, das er bereits getrunken hatte, machten ihn leicht übermütig. Vorbei waren der Stress der letzten Woche, die Kämpfe mit Aaron und das unbestimmte Sehnen nach Mademoiselle Dumont. Einen kurzen Moment dachte er noch an ihre Meeresaugen, dann schien sie weit weg von ihm zu sein, während die Kellnerin sich jetzt fast an ihn kuschelte. Ihre Haut fühlte sich weich und warm an seinen muskulösen Oberarmen an. Er legte den Arm um sie und sie schmiegte sich an seine Schultern.

„Die Mummy ist ziemlich weit weg von uns“, flüsterte er ihr ins Ohr und sie kicherte, „wie heißt du?“

Langsam leerte sich der Strand. Nur noch wenige blieben an den glimmenden Resten des Lagerfeuers sitzen, die anderen hatten sich ein Taxi in die Stadt zurückbestellt, entweder um sich in ihre Wohnungen zurückzuziehen oder, so wie Roxy und Paul, einen der Clubs aufzusuchen, um die Nacht zum Tag zu machen. Roxy – so hieß sie also, die brünette Schöne vom Cateringservice. „Lass uns ins Seaside gehen, da sind jetzt auch Freunde von mir“, flüsterte sie ihm im Taxi zu, schon halb auf seinem Schoß sitzend, eines der langen Beine mit dem roten Highheel über seine Schenkel geschlagen. Er konnte nur nicken.

Es gab an diesem Abend Momente, in denen Paul an seinem Handeln zweifelte. Dann schob er Roxy ein wenig beim Tanzen zur Seite, Roxy, die trotz der Highheels dem durchtrainierten Paul nur bis unters Kinn reichte und deren Hände beim Tanzen im Seaside bereits an seinem Oberkörper entlangwanderten, unter sein T-Shirt fuhren, über seine glatte Brust strichen. Aber Roxy war eine kluge Frau, die wusste, wie sie bekommen konnte, was sie wollte. In diesen Momenten drehte sie sich weg von ihm zur Bar, schäkerte dort mit dem Barkeeper, warf ihre langen braunen Haare hin und her und schien schier unendlich zu brauchen, um Drinks zu bestellen. Er musterte sie dann von weitem mit glühenden Augen und verspürte das Verlangen sie zu besitzen, zumindest für diese eine Nacht; kein Mann sollte sie ihm abspenstig machen. Er schob sich durch die tanzende und feiernde Menge wieder hin zu ihr. In diesem Moment erhob auch sie sich vom Barhocker, zwei Piña Coladas in der Hand, drückte ihm den einen davon in die Hand und sagte, nachdem sie an ihrem lasziv geschlürft hatte, mit hochgezogener Augenbraue zu ihm: „Der ist natürlich für dich.“

Das war der Moment, an dem er sie an sich zog und leidenschaftlich küsste. Sie setzten sich in eine der Sofaecken des eleganten und angesagten Clubs und vergaßen zumindest für einen Moment die Welt um sich herum in ihrer innigen Umarmung. Als Roxy zu Paul sagte, dass ihre Wohnung direkt in der Nähe sei und er, nun ja, sie gerne begleiten könne, waren die Eiswürfel in ihrem Drink schon längst geschmolzen und das Getränk warm und ungenießbar geworden. Trotz des Alkohols schoss Paul wieder das Bild der attraktiven Grundschullehrerin seines Sohns durch den Kopf, und er dachte an Aaron und wie er jetzt hoffentlich behütet in seinem weichen Federbett lag, und er dachte auch an die Babysitterin, die wahrscheinlich längst vor seinem großen 47-Zoll-Flachbildschirm eingeschlafen war. An all diesen Bildern blieb er sekundenlang hängen, aber da hatte ihn Roxy schon in die Nacht hinausgezogen und lief mit klackernden Absätzen, eine ihrer nun schwitzenden Hände in seine Hand vergraben, ihm voraus. Paul folgte ihr, halb, weil er sie wirklich begehrte, halb, weil er sich nun nicht mehr vorstellen konnte, nach Hause zurückzukehren. Nur für diese eine Nacht wollte er nicht mehr der gute und fürsorgliche Daddy sein; er wollte wieder jung sein, der Student, der er früher einmal war und der Nächte durchgefeiert hatte ohne sich um das Morgen zu kümmern.

Zwei Herzen im Sturm

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