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Ein überraschender Sonntag
ОглавлениеAm nächsten Tag, es war schon ziemlich spät am Vormittag, wachte Paul mit einem schalen Gefühl im Mund auf. Neben ihm lag Roxy nackt auf der Seite, die langen braunen Haare strähnig von der Nacht, unter den geschlossenen Augen zeigten sich tiefe Augenringe und Spuren von ihrem Makeup, das sie abends nicht mehr abgemacht hatte. Paul fasste sich an den Kopf, um sich daran zu erinnern, wo er war: Er war in Roxys schäbigem Appartement gelandet, an einer belebten Hauptstraße im Zentrum der Stadt. Der Lärm der Autos tönte von außen herein. Paul zog sich schnell seine Jeans an, ehe er zum Fenster ging, um es zu schließen. „Bleib doch noch eine Weile liegen, Schatz“, murmelte Roxy schlaftrunken.
In dieser Nacht hatte Susann nicht besonders gut schlafen können, es war fast, als hätte sie zu viel am Vortag getrunken, obwohl sie nur einen Cocktail mit Kathleen in der Bar nebenan getrunken und vor elf bereits wieder zuhause gewesen war. Sie erwachte mit Kopfschmerzen und tastete leicht stöhnend nach dem Wasserglas, das sie immer neben sich auf dem Nachttisch abgestellt hatte. In der Nachttischschublade waren eine Schachtel Aspirin; auch davon nahm sie eine Tablette und trank einen tiefen Schluck Wasser, ehe sie sich halb aufrichtete. Etwas war in dieser Nacht anders gewesen; es war, als würde sie heute etwas Großes erleben, doch eigentlich war an diesem Sonntag nichts Außergewöhnliches geplant. Sie hatte sich mit Kathleen erst zum Frühstück verabredet und wollte dann mit ihr über den allsonntäglichen Flohmarkt im Zentrum der Stadt schlendern. Susann griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer ihrer besten Freundin: „Du, ich glaube, das wird heute nichts, ich fühle mich irgendwie krank…nein, das sind keine Ausreden, wer weiß, vielleicht habe ich mir wieder eine Sommergrippe zugezogen?...Mmh, na gut, dann lass uns nicht zusammen frühstücken und wir treffen uns erst in eineinhalb Stunden vor dem Rathaus. Ja, ich freue mich auch…aua…nein, es ist nichts, nur mein Rücken ist irgendwie so verspannt…dann bis dann, ja, Salut!“
Susann stand auf und streckte sich vor ihrem Fenster. Sie hoffte, dass das Sonnenlicht sie etwas wacher machen würde, aber der Himmel war heute gräulich verfärbt – man merkte den nahenden Herbst kommen.
„Ich muss zu Aaron, tut mir leid…“
„Ach, komm schon, die Babysitterin ist doch bestimmt noch da. Ruf doch mal an!“
Paul starrte auf sein Smartphone, dessen schwarzer Display ihm anzeigte, das bislang noch niemandem sein Fehlen aufgefallen war. Er war unschlüssig, was er tun sollte, und hatte sich wieder auf die Bettkante gesetzt. Hinter ihm schlängelte sich die nackte Roxy lasziv an ihn heran. Bei Tageslicht wirkten ihre vollen Lippen vulgär und etwas spröde, vom Zauber der letzten Nacht war nicht mehr allzu viel geblieben. Aber Paul war müde; er war es leid, immer für alles die Verantwortung tragen zu müssen. Beinahe wäre er rücklings wieder zurück in Roxys Bett gefallen, das unter seinem Gewicht quietschte, aber dann erfasste ihn plötzlich ein unerklärlicher Tatendrang. Als würde heute noch etwas Großes passieren; dabei hatte er nur vor mit Aaron an den Strand zu gehen, vielleicht ein bisschen zu schwimmen und Strandburgen zu bauen. Aber etwas in ihm sagte ihm, dass dieser Sonntag anders werden könnte als die Sonntage zuvor; auch wenn das Wetter wenig vielversprechend aussah und es fraglich war, ob er und Aaron heute tatsächlich zum Strand laufen sollten.
„Nein“, sagte er zu Roxy und richtete sich auf, „du verstehst das nicht. Ich habe nun mal Familie und so einfach ist das alles nicht. Tut mir leid.“
Roxy sah ihn fassungslos und mit leicht geöffneten Lippen an.
„Ich geh mich mal duschen“, sagte Paul, warf sein T-Shirt über seinen muskulösen Oberkörper und verschwand in Roxys Badezimmer.
Die kühlen Tropfen liebkosten Susann fast, wie sie an ihrem nackten Körper herunterliefen und sie zart zu streicheln schienen. Das Kopfweh schwand unter dieser Abkühlung und Susann fühlte sich fast wiederhergestellt, als sie den Wasserhahn abdrehte und nackt und tropfend zurück in ihr Schlafzimmer lief. Sie liebte es den Hauch des Windes durch das geöffnete Fenster an ihrer Haut zu spüren, der an Spätsommertagen wie diesen immer noch warm genug war, um sie schnell und sanft zu trocknen. Nachdem ihr Kopfweh verschwunden war, fühlte sich der Tag fast wie ein Festtag an; dementsprechend schön wollte sie sich heute machen. Ansonsten bevorzugte Susann es, an den Sonntagen bequem herumzulaufen, sie wickelte ihr langes blondes Haar in bunte Tücher und trug kurze Shorts und ein altes, etwas ausgewaschenes Tanktop. Aber heute war es wieder das bunt geblümte Kleid, ihr Lieblingskleid, das sie magisch anzog. Das habe ich an meinem ersten Schultag angehabt, als ich Monsieur Dumont traf!, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie verdrängte den Gedanken schnell, als sie in das Kleid schlüpfte und den Reißverschluss an ihrem Rücken sachte zuzog. Das Kleid duftete herrlich frisch gewaschen.
Susann zog es vor, sich nicht allzu stark zu schminken. Sie verachtete die stark geschminkten Frauen, die selbst am Strand noch mit Lippenstift herumliefen. Ihr selbst genügte ein wenig Wimperntusche und etwas Lipgloss, der ihre Lippen noch geschmeidiger schienen lies als sie ohnehin schon waren. Dazu noch Perlenohrringe, ein Erbstück ihrer Granny, und Susann war ausgehfertig. Ihr Plan war es, kurz beim Bäcker einzukehren, um sich mit Croissants und heißem, wohlriechenden Kaffee einzudecken, sich dann an den Strand zu setzen und ihr einsames Frühstück zu genießen und schließlich langsam in Richtung Innenstadt aufzubrechen. Diesmal achtete sie darauf, ihre Haustür leise zu schließen – ihre Nachbarin Madame Sagnet schlief schließlich am Sonntag gerne lang, wie sie sich mit einem Lächeln auf den Lippen erinnerte.
Die Tür hinter Paul fiel krachend ins Schloss. An Roxys Schmollmund hatte er gesehen, dass sie ihm am liebsten eine Szene gemacht hätte, wie sie da in einem überlangen Männerhemd vor ihm stand, BH und Unterhose blitzten darunter gerade so hervor, aber sie hatte nur die Arme verschränkt und ihn böse angeblickt, während er seine Siebensachen zusammensuchte. Sie hatte nicht nach seiner Nummer gefragt und er war dankbar dafür – aber der laute Knall der Tür sprach dafür, dass sie wütend auf ihn war.
Langsam schlich Paul die Treppe des mehrstöckigen Wohnhauses herunter, immer noch nicht gänzlich wach. Mit den Händen in den Hosentaschen trat er auf die Straße, unfähig, den Blick weiter als bis über seine Schuhsohlen zu heben. Er fühlte sich schuldbewusst, fast wie ein Schuljunge; gerne hätte er jetzt eine Zigarette geraucht, aber er hatte das Rauchen schon vor Jahren aufgegeben und fürchtete, wenn er wieder damit anfinge, es nicht mehr aufhören zu können. Deshalb ignorierte er den kleinen Kiosk, der an der Ecke der nächsten Querstraße stand, und ging an ihm vorüber; auch den grauen verbeulten Peugeot, der ihm nur allzu bekannt hätte vorkommen müssen und der in einer Seitenstraße parkte, bemerkte er nicht.
„Bonjour, Mademoiselle Dumont! Sie sehen aber heute wieder zauberhaft aus!“
„Bonjour, Monsieur Dechard. Ich danke Ihnen für das Kompliment, ich wünschte nur, mit dem Wetter würde es ähnlich gut bestellt sein. Und Sie? Fleißig an einem Sonntag?“
„Ach ja, ich will doch meinen Enkelkindern Weihnachtsgeschenke kaufen können“, seufzte Monsieur Dechard, als er den vergitterten Schutz seines Kiosks hochließ. „Kann ich Ihnen irgendetwas anbieten?“
„Nein…oder vielleicht doch…ich glaube, ich nehme eine Zeitung.“
„Le Monde oder lieber L’observateur?“
„Le Monde, denke ich, danke. Und das“, Susann drückte ihm etwas Trinkgeld in die Hand, „ist für Ihre Enkelkinder.“
Der Monsieur strahlte und Susann lachte. Sie kannte seine Enkelkinder, es waren zwei süße kleine Fratzen mit braun gebrannter Haut, die öfter wild im Hinterhof seines nahe gelegenen Wohnhauses herumtobten.
„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Mademoiselle!“
Susann verabschiedete ihn ebenfalls freundlich und lief dann zum nahe gelegenen Bäcker um die Ecke, um dort zwei Croissants und einen Kaffee zu besorgen. Normalerweise begnügte sie sich mit einem Croissant, aber an diesem Tag spürte sie trotz des schlechten Wetters einen selten gefühlten Hunger aufs Leben – und sie vermutete, dass dies sich auch auf ihren Appetit auswirken könnte.
Gerade überlegte Paul, wie er zurück zu seiner Maisonette und Aaron kommen könnte. Sein Handy hatte mittlerweile den Geist aufgegeben und kein Taxi war in Sicht. Paul war bereits im Begriff die nächste Straße zu überqueren, als ihn jemand rüde von der Seite anrempelte. Er spürte, wie sich etwas Heißes auf sein T-Shirt und die Hose ergoss.
„Verdammt, was zum Teufel…“
Sein Hemd und seine Hose waren kaffeedurchtränkt. Die heiße Flüssigkeit war bis auf die nackte Haut vorgedrungen und hätte ihn um ein Haar verbrüht.
„Oh nein, es tut mir ja so schrecklich leid, ich war in Gedanken…“, diese Stimme kam ihm vertraut vor, wie sie auch sogleich fragte: „Monsieur Lemontre?“
Er blickte von der Misere auf seinem Hemd auf. Direkt in die schönsten meeresblauen Augen, die er jemals in seinem Leben erblickt hatte.
„Mademoiselle Dumont!“, rief er verblüfft aus, und jeder Zorn war verflogen, „es tut mir so leid, dass ich Sie angeschrien habe.“
„Na, dazu hatten Sie wohl jedes Recht, wenn ich Sie so rüde von der Seite anremple.“ Susann stellte eilig den Rest des Kaffees und die Tüte mit den Croissants auf einem Fensterbrett ab, um aus ihrer kleinen Umhängetasche eine Packung Taschentücher zu zaubern und damit nach einigem Zögern und einem kurzen „Darf ich?“ Pauls Hemd zu betupfen. Sie fühlte seine gut trainierte Bauchmuskulatur unter ihren Händen und bemühte sich nicht rot zu werden. Nach anfänglicher Verblüffung, weil diese schöne Frau sich doch tatsächlich anschickte, ihn sauberzumachen, schob Paul sie sachte weg.
„Vielen Dank, aber das ist nicht nötig. Ich war sowieso gerade auf dem Heimweg.“
Die letzte Bemerkung bereute Paul fast, denn unschwer hätte sich die Mademoiselle zusammenreimen können, woher er um nicht einmal neun Uhr morgens vom Heimweg war. Aber sie schien es nicht zu bemerken und sah ihn zögerlich und ein wenig schuldbewusst an. Susann war groß gewachsen und reichte auch ohne Stöckelschuhe bis zu Pauls Kinn – dennoch kam sie ihm in diesem Moment klein, zerbrechlich und schützenswert vor, als sie fragte: „Kann ich Ihnen denn noch irgendetwas Gutes tun?“
„Na ja, Sie könnten mit mir zusammen frühstücken gehen“, witzelte Paul. Er hatte nicht geglaubt, dass sie ernsthaft darauf eingehen würde, aber angesichts des Malheurs schien die schöne Grundschullehrerin ernsthaft bemüht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie nahm ihre Tüte mit den Croissants wieder auf, den nahezu leeren Kaffeebecher warf sie in einen nahegelegenen Mülleimer.
„Ich habe gerade zwei Croissants gekauft – kann ich Ihnen vielleicht eins davon anbieten?“
„Gerne“, sagte Paul, nun mutiger geworden, „wo wollen wir es essen?“
„An der Promenade Saint Vincent gibt es eine wunderschöne Bank, von der man einen guten Blick aufs Meer hat, direkt unter einem Kastanienbaum“, antwortete Susann, „ich nehme dort ab und an gerne mein petit dejeuner ein.“ „Dann laufen wir dahin.“
Schweigend gingen sie nebeneinander die kleine Anhöhe zur Promenade hoch. Die entgegenkommenden Passanten starrten Paul an; es war ihm unangenehm mit einem so riesigen gut sichtbaren Kaffeeflecken herumzulaufen, andererseits genoss er die Anwesenheit der schönen Mademoiselle neben ihm. Sie setzten sich auf die kleine entzückende Bank, die Susann für sie ausgesucht hatte und vorsichtig holte sie die beiden Croissants aus der Tüte, als fürchtete sie, noch mehr Unordnung anzurichten. Paul beobachtete sie dabei amüsiert – zum ersten Mal sah er die Lehrerin nicht selbstsicher und etwas gehässig in seiner Gegenwart agieren, sondern unsicher und etwas verschüchtert. Diese wie jene Seite an ihrer Persönlichkeit gefiel Paul ausgesprochen gut, es zeigte ihm, dass er es mit einem spannenden Charakter zu tun hatte. Ihr Verhalten, ihr nun sanft und engelsgleich erscheinendes Wesen, das so sorgsam die Croissant zwischen den filigranen Fingern hielt, imponierte ihm nun noch mehr als ihre bezaubernde Schönheit.
„Möchten Sie?“
„Danke, aber gestatten Sie, dass ich mein Hemd vorher ausziehe? Ich weiß, es ist unhöflich in Ihrer Gegenwart mit nacktem Oberkörper herumzusitzen, aber der Kaffee fühlt sich unangenehm auf der Haut an…“ Er beugte sich etwas näher zu ihr heran, so dass er ihren wunderbaren frischen Duft riechen konnte, „außerdem mag ich es nicht, wenn die Passanten mich und nicht Sie anschauen.“ Da lachte sie ein glockenhelles Lachen, das Paul so beglückte, dass sein Herz einen Sprung machte. Er hatte sie zum ersten Mal zum Lachen gebracht!
„Nur zu“, witzelte sie, „ich gucke auch weg.“
Schnell und mit sicherem Griff zog Paul sein Hemd über die Schultern und trocknete sich damit leicht ab. Dann legte er es zu sich auf die Seite. Susann kam nicht umhin, ihm mit einem Seitenblick zu mustern – die schön gebräunten, sanft geschwungenen Oberarme ebenso wie seinen wohl definierten Oberkörper.
„Mögen Sie?“ Sie bot ihm ein Croissant an und dankbar griff er danach und begann es Stück für Stück abzureißen und zu essen. Sie tat es ebenso.
„Es ist vielleicht auch gut, dass ich Sie treffe…“, fing er nach einer Weile an zu reden, nachdem sie gegessen hatten, „ich wollte mit Ihnen sowieso noch mal darüber sprechen…also wegen dem ersten Schultag…ich wollte Aaron nur eine besondere Freude machen, als ich ihn vorne mitfahren ließ. Normalerweise mache ich so etwas nicht. Aaron ist mein Ein und Alles – nie könnte ich zulassen, dass ihm etwas geschehen würde.“
Susann nickte. „Ich verstehe schon. Ich habe wohl auch etwas überreagiert.“ Sie blickte eine Weile hinaus aufs Meer, ehe sie ebenfalls etwas sagte:
„Ich finde es auch gut, dass wir uns getroffen haben. Wissen Sie – ich mache mir etwas Sorgen um Aaron.“
„Weshalb?“, fragte Paul erstaunt.
Susann rückte nervös hin und her. Diese Art von Gesprächen waren ihr nie leicht gefallen.
„Er ist ein kluger Junge, aufgeweckt und neugierig, und eigentlich arbeitet er doch gut mit in der Schule. Aber er hat mir davon erzählt, dass seine Mummy ein Jahr in Amerika ist und wie sehr er sie vermisst – und ich finde, das merkt man ihm manchmal an. Dann wird er unkonzentriert.“ „Sie meinen, ihm fehlt die Mutter?“
Susann nickte so heftig, dass ihre blonden Locken ihr ins Gesicht fielen. Sie strich sie mit einer leichten Bewegung hinters Ohr zurück.
„Ja“, sagte sie, „so könnte man es wohl sagen.“
Paul lehnte sich zurück. Hinten, weit am Horizont, konnte man sehen, wie sich die Wolken langsam auflösten. Vielleicht würde es doch noch ein schöner Tag werden, dachte er, vielleicht konnte er doch noch an den Strand gehen und mit Aaron spielen.
„Ich habe mir diese Situation für meinen Sohn wirklich nicht gewünscht, das müssen Sie wissen“, sagte er zu Susann, „aber nun kann ich nichts mehr ändern. Und ich möchte nicht nur bei seiner Mummy bleiben, damit er eine Mummy hat. Er soll ehrlich erzogen werden, verstehen Sie? Nicht in einer Partnerschaft voller Lügen und Selbstverleugnungen.“
Er blickte Susann immer noch nicht an, aber sie betrachtete ihn von der Seite. Er hatte wirklich ein schönes männliches Profil, dachte sie und zugleich erkannte sie eine große Traurigkeit und tiefe Sehnsucht in seinem Blick. In diesem Moment spürte sie, wie hart es für ihn als momentan alleinerziehender Vater sein musste.
„Ich verstehe“, sagte sie leise, fast wie zu sich selbst, „auch bin ich vielleicht auch noch ein wenig zu jung, um darüber wirklich urteilen zu können.“
„Ja…“ Paul räusperte sich. Er schien wieder in der Gegenwart anzukommen und sah Susann unverwandt an, „tut mir leid, aber hätten Sie vielleicht eine Uhr? Ich befürchte, ich muss zurück zu Aaron, so schön es auch mit Ihnen hier ist. Aber er wird sich bereits Sorgen machen.“
„Ja“, stimmte Susann zu, richtete sich auf und klopfte sich die Krümel von ihrem Blumenkleid, „es ist schon spät, Monsieur Lemontre.“ Wieder schnürte ihr der Anblick des groß gewachsenen Recken vor ihr die Kehle ein wenig ab.
„Ich muss auch los. Ich habe mich mit einer Freundin verabredet.“
„Dann…wir sehen uns?“ Paul sagte es zögerlich, fragend.
„Sicher, sicher. Bonjour, Monsieur.“
„Bonjour, Mademoiselle.“
Sie verabschiedeten sich ohne Händedruck und liefen in entgegengesetzte Richtungen auf der Promenade. Wieder an der Hauptstraße angekommen, hielt Paul ein Taxi an und machte sich auf den schnellsten Weg nach Hause.
Zuhause angekommen erwartete ihn bereits Aaron, noch in seinem Schlafanzug und mit einem riesigen Teddybär in der Hand. Seine Haare standen in alle Richtungen und er rieb sich verschlafen die Augen, als er in den Türrahmen zum Wohnzimmer getrappelt kam.
„Wo warst du, Daddy?“, fragte er. Paul hatte versucht, die Haustür leise zu schließen, aber es war ihm wohl nicht besonders gut gelungen.
„Ich war…noch weg, Aaron. Wo ist die Babysitterin? Soll ich dir Frühstück machen?“
„Sie ist vor einer halben Stunde gegangen. Sie hat gesagt, für Nachtdienste sei sie nicht bezahlt worden, sie hätte schon die ganze Nacht gewartet. Aber eigentlich glaube ich, dass sie vorm Fernseher eingeschlafen ist. Aber Daddy, jetzt sag doch, wo du warst? Ich habe ganz schlecht geschlafen. Ich wollte zu dir kommen, aber du warst nicht da.“
Aarons Stimme klang weinerlich, es brach Paul fast das Herz. Der Junge hatte nun auch seinen Daumen in den Mund gesteckt. Paul eilte zu ihm hin und nahm ihn auf den Arm. Er küsste ihn auf die Stirn und der kleine Jungenkopf schmiegte sich fest an ihn.
„Es tut mir so leid, Aaron“, flüsterte er, „es wird nicht wieder vorkommen.“
„Woher soll ich das wissen? Woher soll ich wissen, ob du dein Versprechen hältst, Daddy?“
Aaron weinte nun wirklich. Der große Teddy war ihm aus der Hand gefallen und dicke Tränen kullerten über seine kindlichen runden Wangen.
„Du musst mir einfach vertrauen, Aaron“, er streichelte dem Jungen über den Schopf; auch er verspürte einen Kloß im Hals: „Vertrau mir Aaron, bitte, noch dieses letzte Mal. Ab jetzt wird alles anders. Das verspreche ich dir.“