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VII

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Inhaltsverzeichnis

Es kam der regnerische, schmutzige, trübe Herbst. Mit ihm kam auch die arbeitslose Zeit, und ich saß oft drei Tage hintereinander ohne Arbeit zu Hause, oder übernahm andere Arbeiten, die mit dem Malerhandwerk nichts zu tun haben; ich karrte z. B. Erde und bekam dafür ganze zwanzig Kopeken für den Tag. Doktor Blagowo war nach Petersburg verreist. Meine Schwester besuchte mich nicht mehr. Rettich lag bei sich zu Hause krank und wartete auf den Tod.

Auch meine Stimmung war recht herbstlich. Vielleicht, weil ich als Arbeiter unser Stadtleben nur von der Kehrseite sah, machte ich fast jeden Tag Entdeckungen, die mich zur Verzweiflung brachten. Diejenigen unter meinen Mitbürgern, über die ich bisher gar keine Meinung gehabt hatte oder die mir äußerlich recht anständig erschienen, stellten sich auf einmal als gemeine, grausame, jeder Niedertracht fähige Menschen heraus. Uns einfache Arbeiter belog und beschwindelte man; man ließ uns stundenlang im kalten Hausflur oder in der Küche warten, man beleidigte uns und behandelte uns roh und gemein. Im Herbst tapezierte ich in unserem Klub das Lesezimmer und noch zwei andere Zimmer; man zahlte mir sieben Kopeken für die Rolle, doch mußte ich den Empfang von zwölf Kopeken für die Rolle quittieren. Als ich mich weigerte, dies zu unterschreiben, sagte mir ein sehr anständig aussehender Herr mit goldener Brille, offenbar eines der Vorstandsmitglieder:

»Wenn du noch lange Geschichten machst, du Schurke, bekommst du die Fresse voll!«

Und als ihm ein Diener zuflüsterte, daß ich der Sohn des Architekten Polosnjew sei, wurde er verlegen, errötete, besann sich aber gleich wieder und sagte:

»Ach, hol ihn der Teufel!«

In den Läden verkaufte man uns Arbeitern verdorbenes Fleisch, faules Mehl und gefälschten Tee; in der Kirche stießen uns die Schutzleute herum, in den Krankenhäusern beuteten uns die Feldschere und die Pflegerinnen aus, und wenn wir ihnen infolge unserer Armut nichts gaben, brachten sie uns unser Essen in schmutzigem Geschirr; auf der Post hielt sich auch der kleinste Beamte für berechtigt, uns wie das Vieh zu behandeln und roh und frech anzufahren: »Was drängst du dich vor? Kannst du nicht warten?« Selbst die Hofhunde verhielten sich feindselig gegen uns und bellten uns besonders gehässig an. Was mich aber in meiner neuen Lage am meisten in Erstaunen versetzte, war der völlige Mangel an Gerechtigkeit, das, was das gemeine Volk mit »Die Leute haben Gott vergessen!« bezeichnet. Fast kein einziger Tag verging ohne Gaunerei. Uns beschwindelten die Kaufleute beim Verkauf von Firnis, die Unternehmer, die Gesellen und sogar die Kunden. Selbstverständlich waren wir ganz rechtlos und mußten um unser sauer verdientes Geld wie um Almosen betteln, ohne Mütze an der Hintertreppe stehend.

Ich tapezierte im Klub einen der neben dem Lesezimmer gelegenen Räume; eines Abends, als ich schon weggehen wollte, kam in dieses Zimmer die Tochter des Ingenieurs Dolschikow mit einem Paket Bücher in der Hand. Ich verbeugte mich vor ihr.

»Ach, guten Tag!« sagte sie, mich sofort erkennend und mir die Hand gebend. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen.«

Sie lächelte und betrachtete etwas neugierig und verdutzt meine Arbeitsbluse, den Eimer mit dem Kleister und die auf dem Fußboden ausgebreiteten Tapeten; ich wurde verlegen, und auch sie fühlte sich wohl geniert.

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie so anschaue,« sagte sie. »Man hat mir von Ihnen viel erzählt. Ganz besondere der Doktor Blagowo, – er ist einfach verliebt in Sie! Ich habe auch schon Ihre Schwester kennen gelernt; sie ist ein liebes, sympathisches Mädchen, aber ich konnte sie unmöglich davon überzeugen, daß in Ihrer Wandlung nichts Schreckliches ist. Im Gegenteil, Sie sind jetzt der interessanteste Mensch in dieser Stadt.«

Sie warf wieder einen Blick auf den Eimer mit dem Kleister und auf die Tapeten und fuhr fort:

»Ich habe Doktor Blagowo gebeten, mich mit Ihnen näher bekannt zu machen, er hat es aber offenbar vergessen, oder keine Zeit dazu gehabt. Wie dem auch sei, wir sind ja schon bekannt, und wenn Sie einmal ganz ungezwungen zu mir kommen wollten, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Ich möchte so gerne mit Ihnen sprechen! Ich bin ein einfacher Mensch,« sagte sie und gab mir die Hand, »und ich hoffe, Sie werden sich bei mir recht unbefangen fühlen. Mein Vater ist nicht hier, er ist in Petersburg.«

Sie ging, mit dem Kleide rauschend, ins Lesezimmer, ich aber konnte zu Hause lange nicht einschlafen.

Im gleichen traurigen Herbst schickte mir irgendeine gute Seele, die mir anscheinend das Leben erleichtern wollte, bald etwas Tee und Zitronen, bald Gebäck und bald gebratene Rebhühner. Karpowna sagte, daß die Sachen ein Soldat bringe, aber von wem, das wisse sie nicht; der Soldat erkundigte sich aber jedesmal, ob ich gesund sei, ob ich jeden Tag zu Mittag esse und ob ich warme Kleidung habe. Als die Fröste begannen, brachte mir der gleiche Soldat einmal in meiner Abwesenheit ein gestricktes, weiches Halstuch, dem ein zarter Duft entströmte, und ich erriet sofort, wer die gute Fee war. Das Halstuch roch nach Maiglöckchen, dem Lieblingsparfüm Anjuta Blagowos.

Im Winter gab es wieder mehr zu tun, und meine Stimmung wurde lustiger. Rettich war wieder vom Tode auferstanden, und wir arbeiteten zusammen in der Friedhofskirche, wo wir die Heiligenwand vor dem Vergolden zu grundieren hatten. Das war eine ruhige, saubere und angenehme Arbeit. An einem Tage konnte man viel fertigbringen, und die Zeit verging unmerklich schnell. Dabei wurde weder geflucht, noch gelacht, noch laut gesprochen. Der Ort selbst verpflichtete zu einem wohlanständigen Benehmen und zu stillen und ernsten Gedanken. In unsere Arbeit versunken, standen und saßen wir unbeweglich wie die Statuen; es herrschte eine Totenstille, wie sie einer Friedhofskirche entspricht, und wenn irgendein Werkzeug hinfiel, oder die Flamme in einem der Lämpchen knisterte, hallten diese Töne ungemein laut, und wir sahen uns alle um. Manchmal erklang in der Stille ein Summen, wie wenn Bienen schwärmten: Priester segneten vor dem Altare eine Kinderleiche ein, oder der Maler, der in der Kuppel eine von Sternen umgebene Taube malte, fing leise zu pfeifen an und hörte erschrocken sofort wieder auf; oder Rettich antwortete mit einem Seufzer auf seine eigenen Gedanken: »Alles ist möglich! Alles ist möglich!«; oder über unseren Köpfen ertönte ein abgemessenes, dumpfes Glockengeläute, und die Maler machten gleich die Bemerkung, daß es wohl eine reiche Leiche sei, die man zu Grabe trage ....

Die Tage verbrachte ich in dieser Stille, im Dämmer der Kirche, an den langen Abenden aber spielte ich Billard oder ging ins Theater auf die Galerie in meinem neuen Trikotanzug, den ich mir für das verdiente Geld gekauft hatte. Bei den Aschogins hatten schon die Liebhaberaufführungen und Konzerte begonnen; die Dekorationen malte jetzt Rettich allein. Er erzählte mir den Inhalt der Stücke und der lebenden Bilder, die er zu sehen bekam, und ich hörte ihm ganz neidisch zu. Es zog mich sehr zu den Proben, doch ich konnte mich nicht entschließen, zu den Aschogins zu gehen.

Eine Woche vor Weihnachten kam Doktor Blagowo zurück. Wir debattierten wieder viel miteinander und spielten an den Abenden Billard. Beim Spielen zog er sich immer den Rock aus, knöpfte das Hemd auf der Brust auf und gab sich überhaupt jede Mühe, wie ein fürchterlicher Bummler auszusehen. Er trank wenig, machte aber großen Lärm und brachte es fertig, selbst in so gemeinen Lokalen wie in der »Wolga« zwanzig Rubel an einem Abend auszugeben.

Nun kam meine Schwester wieder zu mir; so oft sie sich bei mir trafen, taten sie sehr erstaunt, aber ihrem freudestrahlenden, schuldbewußten Gesicht konnte ich ansehen, daß diese Begegnungen keine zufälligen waren. Eines Abends beim Billardspiel sagte der Doktor zu mir:

»Hören Sie mal, warum besuchen Sie nie die Dolschikow? Sie kennen Maria Viktorowna nicht, sie ist aber klug und sehr nett, eine einfache, gute Seele.«

Ich erzählte ihm, wie der Ingenieur mich im Frühjahr empfangen hatte.

»Unsinn!« lachte er. »Der Ingenieur ist Ingenieur, und sie ist ganz für sich. Nein, wirklich, mein Bester, Sie dürfen sie nicht kränken, besuchen Sie sie doch einmal. Wollen wir z.B. morgen abend zusammen zu ihr gehen. Gut?«

Er überredete mich. Am andern Abend zog ich meinen neuen Trikotanzug an und begab mich in großer Erregung zu der Dolschikow. Der Diener erschien mir jetzt weniger hochmütig und schrecklich, und die Ausstattung weniger prunkvoll als an jenem Morgen, wo ich hier als Bittsteller erschienen war. Maria Viktorowna erwartete mich und begrüßte mich wie einen alten Bekannten mit kräftigem Händedruck. Sie trug ein graues Tuchkleid mit weiten Aermeln und eine Frisur, die man bei uns, als sie ein Jahr später in Mode kam, »Hundeohren« nannte. Die Haare waren von den Schläfen über die Ohren gekämmt; das machte Maria Viktorownas Gesicht etwas breiter, und sie erschien mir diesmal ihrem Vater ähnlich, dessen breites Gesicht mit den roten Backen etwas von einem Spielzeugkutscher hatte. Sie war hübsch und graziös, sah aber nicht sehr jugendlich, etwa dreißigjährig aus, während sie in Wirklichkeit noch keine fünfundzwanzig war.

»Der liebe Doktor, wie bin ich ihm dankbar!« sagte sie, mir einen Stuhl anbietend. »Ohne ihn wären Sie doch nicht gekommen. Ich langweile mich zu Tode! Mein Vater ist fort, hat mich hier allein gelassen, und ich weiß gar nicht, was ich in dieser Stadt anfangen soll.«

Dann fragte sie mich, wo ich jetzt arbeite, wieviel ich verdiene und wo ich wohne.

»Sie leben doch nur davon, was Sie selbst verdienen?« fragte sie mich.

»Ja.«

»Sie glücklicher Mensch!« seufzte sie. »Alles Uebel kommt, glaube ich, vom Müßiggang, von Langweile, von seelischer Leere, und das alles ist unvermeidlich, wenn man gewohnt ist, auf fremde Kosten zu leben. Glauben Sie nur nicht, daß ich mich interessant machen will, ich sage ee Ihnen ganz aufrichtig: es ist furchtbar langweilig und unangenehm, reich zu sein. Schließlich ist auch jeder Reichtum unrecht erworben.«

Sie streifte mit einem kalten, ernsten Blick die Möbel, als wollte sie sie zählen und fuhr fort:

»Im Komfort und den sonstigen Bequemlichkeiten steckt irgendein Zauber: sie ziehen selbst einen willensstarken Menschen allmählich herein. Vater und ich lebten einst ärmlich und einfach, und nun sehen Sie, wie wir jetzt leben. Es ist doch wirklich unerhört,« sie zuckte die Achseln, »wir verleben an die zwanzigtausend Rubel im Jahre! Und das in der Provinz!«

»Den Komfort und die Bequemlichkeiten muß man als ein unvermeidliches Privileg des Kapitals und der Bildung ansehen,« sagte ich, »und ich glaube, daß man diese Bequemlichkeiten mit jeder beliebigen, selbst der schwersten und schmutzigsten Arbeit wohl vereinbaren kann. Ihr Vater ist reich, und doch hat er einst als Maschinist und als einfacher Wagenschmierer gearbeitet.«

Sie lächelte und schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Papa ißt zuweilen auch Schwarzbrotbrei mit Kwaß,« sagte sie. »Das ist ja nur eine Laune, eine Spielerei!«

In diesem Augenblick ertönte die Klingel, und sie erhob sich.

»Die Gebildeten und die Reichen müssen ebenso arbeiten wie alle,« fuhr sie fort, »und wenn es schon einen Komfort gibt, so soll er für alle gleich sein. Es darf keine Privilegien geben! Aber lassen wir das Philosophieren. Erzählen Sie mir lieber etwas Lustiges, erzählen Sie von den Malern. Was sind das für Menschen? Sind sie sehr komisch?«

Nun kam der Doktor. Ich begann von den Malern zu erzählen. Mir fehlte aber die Uebung und Unbefangenheit, und ich erzählte ernst und trocken wie ein Ethnograph. Auch der Doktor gab einige Anekdoten aus dem Handwerkerleben zum besten. Er mimte einen Betrunkenen, schwankte, weinte, stellte sich auf die Knie und legte sich sogar auf den Boden. Es war echtes Theaterspiel, und Maria Viktorowna lachte, daß ihr die Tränen kamen. Dann spielte er Klavier und sang mit seiner angenehmen hohen Tenorstimme, und Maria Viktorowna stand neben ihm, wählte ihm die Noten aus und korrigierte, wenn er Fehler machte.

»Ich hörte, Sie singen auch?« fragte ich.

»Auch!« rief der Doktor entsetzt. »Sie ist eine ganz wunderbare Sängerin, eine Künstlerin, und Sie sagen: ›auch‹, was fällt Ihnen ein ...«

»Ich gab mich damit einmal ernsthaft ab,« antwortete sie auf meine Frage, »jetzt hab ich's aber vernachlässigt.«

Auf einem niedrigen Schemel hockend, erzählte sie uns von ihrem Leben in Petersburg, imitierte verschiedene berühmte Sänger und zeigte, wie sie singen; sie zeichnete in einem Album den Doktor und dann mich, sie zeichnete schlecht, aber die Bilder wurden ähnlich. Sie lachte, tollte, machte Grimassen, und das stand ihr viel besser zu Gesicht als alle die Gespräche vom unrecht erworbenen Reichtum, und ich hatte nun den Eindruck, daß sie, als sie mit mir vorhin vom Reichtum und Komfort gesprochen, es gar nicht ernst gemeint, sondern ebenfalls jemanden imitiert habe. Sie war eine ganz hervorragende Schauspielerin für komische Rollen. Ich verglich sie in Gedanken mit allen unsern jungen Mädchen, und selbst die hübsche, solide Anjuta Blagowo hielt den Vergleich mit ihr nicht aus; der Unterschied war ebenso groß wie zwischen einer schönen kultivierten Rose und einer Heckenrose.

Wir aßen zu dritt zu Abend. Der Doktor und Maria Viktorowna tranken Rotwein, Champagner und Kaffee mit Kognak; sie stießen an auf die Freundschaft, den Verstand, den Fortschritt und die Freiheit und wurden nicht berauscht. Sie waren nur rot geworden und lachten oft ohne jeden Grund, so daß ihnen die Tränen die Wangen herunterliefen. Um nicht als langweiliger Mensch zu erscheinen, trank ich auch Rotwein.

»Talentierte, reich begabte Naturen«, sagte die Dolschikowa, »wissen, wie sie zu leben haben, und gehen ihren Weg; mittelmäßige Menschen aber, wie z.B. ich, wissen nichts und können nichts; ihnen bleibt nichts anderes übrig, als irgendeine tiefe allgemeine Bewegung zu finden und mit dem Strome mitzuschwimmen.«

»Kann man denn etwas finden, was es nicht gibt?« fragte der Doktor.

»Es gibt wobl Bewegungen, wir sehen sie nur nicht.«

»Glauben Sie? Alle diese Bewegungen hat die neue Literatur erfunden. In Wirklichkeit gibt es sie bei uns nicht.«

Es entspann sich ein Streit.

»Es gibt bei uns gar keine tiefen allgemeinen Bewegungen,« sagte der Doktor, »und hat auch niemals welche gegeben. Was die neue Literatur nicht alles erfunden hat! Sie hat ja auch den intellektuellen Pionier auf dem Lande erfunden; Sie können aber alle Dörfer absuchen und werden keinen einzigen finden; höchstens einen rohen Kerl in städtischer Kleidung, der kaum des Schreibens mächtig ist. Das Kulturleben hat bei uns noch nicht angefangen. Dieselbe Wildheit, derselbe Sklavensinn wie vor fünfhundert Jahren. Bewegungen, Strömungen, – ja die gibt es wohl, aber sie sind seicht und kläglich und stets mit irgendwelchen Pfenniginteressen verbunden, – kann man denn darin etwas Ernstes sehen? Wenn Sie eine so tiefe Bewegung in der Gesellschaft gefunden zu haben glauben, der Sie folgen werden, um Ihr Leben irgendwelchen Aufgaben im modernen Geschmack, wie der Befreiung der Insekten von Sklaverei oder der Abstinenz vonn Fleischgenuß zu widmen, so gratuliere ich Ihnen, meine Gnädigste! Wir müssen lernen, lernen und lernen, mit den tiefen allgemeinen Bewegungen wollen wir aber noch warten: dazu sind wir noch nicht reif und verstehen auch, aufrichtig gesagt, gar nichts davon.«

»Sie verstehen es nicht, aber ich!« sagte Maria Viktorowna. »Sie sind heute, weiß Gott, wie langweilig!«

»Unsere Sache ist es, zu lernen und möglichst viel Wissen zu sammeln, denn die ernsthaften Strömungen sind nur dort, wo Wissen ist, und im Wissen liegt das Glück der künftigen Menschheit. Ich trinke auf die Wissenschaft!«

»Eines steht fest: man muß das Leben irgendwie anders einrichten,« sagte Maria Viktorowna nach einigem Nachdenken. »Das bisherige Leben ist nichts wert. Wir wollen davon lieber gar nicht reden.«

Als wir von ihr fortgingen, schlug es vom Domturm zwei Uhr.

»Hat sie Ihnen gefallen?« fragte der Doktor. »Sie ist doch sehr nett, nicht wahr?«

Am ersten Weihnachtsfeiertage aßen wir bei Maria Viklorowna zu Mittag und besuchten sie während der Ferien jeden Tag. Außer uns verkehrte niemand bei ihr, und sie hatte recht, wenn sie sagte, daß sie außer mir und dem Doklor keine Bekannten in der Stadt hätte. Wir vertrieben uns die Zeit meistens mit Gesprächen; der Doktor brachte manchmal ein Buch oder eine Zeitschrift mit und las uns etwas vor. Eigentlich war er der erste gebildete Mensch, der mir im Leben begegnete. Ich kann nicht beurteilen, ob er viel wußte, aber er zeigte bei jeder Gelegenheit seine Kenntnisse, die er auch den anderen mitteilen wollte. Wenn er von der Medizin sprach, glich er keinem unserer städtischen Aerzte, sondern machte einen ganz neuen, eigenen Eindruck, und ich glaubte, daß er, wenn er wollte, ein echter Gelehrter werden könnte. Er war wohl der einzige Mensch, der um jene Zeit einen ernsten Einfluß auf mich ausübte. Nach den Gesprächen mit ihm und nach der Lektüre der Bücher, die er mir, zu lesen gab, begann ich allmählich ein Bedürfnis nach einem Wissen zu spüren, welches meinem eintönigen Arbeitsleben einen geistigen Inhalt geben könnte. Mir kam es schon sonderbar vor, daß ich bisher nicht gewußt hatte, daß die ganze Welt aus sechzig einfachen Körpern besteht, daß ich keine Ahnung gehabt hatte, was Firnis ist, was die Farben sind, und ich wunderte mich selbst, wie ich mich ohne diese Kenntnisse habe behelfen können. Der Verkehr mit dem Doktor hob mich auch moralisch. Ich debattierte oft mit ihm, und obwohl ich meistens bei meiner eigenen Meinung blieb, sah ich doch allmählich ein, daß mir nicht alles klar war, und ich bemühte mich, möglichst bestimmte Überzeugungen zu gewinnen, damit auch die Stimme meines Gewissens bestimmt und eindeutig sei. Trotz alledem war aber dieser gebildetste und beste Mensch unserer Stadt von der Vollkommenheit recht weit entfernt. In seinen Manieren, in seiner Angewohnheit, aus jedem Gespräch einen Streit zu machen, in seiner angenehmen Tenorstimme und selbst in seiner Freundlichkeit steckte etwas Ungehobeltes, Grobes, und wenn er seinen Rock auszog und im Seidenhemde blieb, oder wenn er dem Kellner im Gasthause ein Trinkgeld hinwarf, hatte ich jedesmal den Eindruck, daß in ihm trotz aller Kultur noch viel Tatarisches stecke.

Am Dreikönigstag reiste er wieder nach Petersburg. Er war morgens abgefahren, und am Nachmittag kam meine Schwester zu mir. Ohne Pelz und Hut abzulegen, saß sie schweigend und sehr blaß da und starrte auf einen Punkt. Sie fröstelte und tat sich sichtlich einen Zwang an.

»Du hast dich wahrscheinlich erkältet,« sagte ich.

Ihre Augen füllten sich mit Tranen, sie stand auf und ging zu der Karpowna, ohne mir auch nur eie Wort zu sagen, als hätte ich sie beleidigt. Etwas später hörte ich sie mit dem Tone eines bitteren Vorwurfs sagen:

»Kinderfrau, wozu habe ich bis jetzt gelebt? Wozu? Sage mir, habe ich nicht selbst meine Juqend verdorben? In den schönsten Jahren meines Lebens habe ich nichts anderes getan, als Ausgaben aufgeschrieben, Tee eingeschenkt, die Kopeken gezählt, Gäste unterhalten, und das alles hielt ich für das Höchste in der Welt! Kinderfrau, begreife doch, auch ich habe menschliche Bedürfnisse, auch ich möchte Leben, sie haben aber eine Schlüsselbewahrerin aus mir gemacht. Es ist entsetzlich, entsetzlich!«

Und sie schleuderte ihre Schlüssel gegen die Tür, daß sie klirrend in mein Zimmer flogen. Es waren die Schlüssel vom Büfett, vom Küchenschrank, vom Keller und vom Teekasten, die gleichen Schlüssel, die einst meine Mutter stets bei sich getragen hatte.

»Ach du lieber Gott!« entsetzte sich die Alte. »Heilige Märtyrer!«

Vor dem Weggehen kam meine Schwester zu mir ins Zimmer, um die Schlüssel aufzulesen, und sagte mir:

»Entschuldige mich, bitte. Mit mir geht in der letzten Zeit etwas Seltsames vor.«

Die bekanntesten Novellen, Dramen und Erzählungen von Anton Pawlowitsch Tschechow

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