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XVII

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Inhaltsverzeichnis

Am Sonntag Nachmittag kam meine Schwester zu mir und trank mit mir Tee.

»Jetzt lese ich sehr viel,« sagte sie, auf die Bücher zeigend, die sie sich auf dem Wege zu mir aus der Stadibibliothek geholt hatte. »Ich bin deiner Frau und Wladimir dankbar, sie haben in mir die Selbsterkenntnis geweckt. Sie haben mich gerettet und es erreicht, daß ich mich als Mensch fühle. Früher konnte ich nachts keinen Schlaf finden, weil mein Kopf voller Sorgen war: ›Ach, wir haben in dieser Woche so viel Zucker verbraucht! Ach, daß die Gurken nur nicht zu salzig werden!‹ Auch jetzt schlafe ich schlecht, aber es sind schon ganz andere Gedanken. Ich ärgere mich, daß ich die Hälfte meines Lebens so dumm, so kleinmütig vertrödelt habe. Ich verachte meine Vergangenheit, ich schäme mich ihrer, den Vater sehe ich aber als meinen Feind an. Oh, wie dankbar bin ich doch deiner Frau! Und Wladimir, was ist das für ein prächtiger Mensch! Sie haben mir die Augen geöffnet.«

»Es ist nicht gut, daß du nachts nicht schläfst,« sagte ich.

»Du glaubst wohl, ich bin krank? Keine Spur! Wladimir hat mich untersucht und gefunden, daß ich vollkommen gesund hin. Es handelt sich aber nicht um die Gesundheit, die ist nicht so wichtig ... Sage mir nur: bin ich im Recht?«

Sie, brauchte moralische Unterstützung, – das war mir klar. Mascha war verreist, Doktor Blagowo befand sich in Petersburg, und sie hatte in der ganzen Stadt niemand außer mir, der ihr sagen könnte, daß sie im Recht sei. Sie blickte mir gespannt ins Gesicht, als wollte sie meine geheimen Gedanken lesen, und wenn ich in ihrer Gegenwart nachdenklich war und schwieg, bezog sie es auf sich und wurde traurig. Ich mußte immer auf der Hut sein, und wenn sie mich fragte, ob sie recht hätte, beeilte ich mich, ihr zu sagen, daß sie im Rechte sei und daß ich sie aufrichtig achte.

»Weißt du, man hat mir bei den Aschogins eine Rolle gegeben,« fuhr sie fort. »Ich will auf der Bühne spielen. Ich will leben, mit einem Wort, ich will auch einmal aus vollem Kelche trinken. Ich habe gar kein Talent, und die Rolle besteht nur aus zehn Worten, und doch ist es unermeßlich erhabener und edler, als fünfmal am Tage Tee einzuschenken und aufzupassen, ob die Köchin nicht ein Stück zu viel gegessen hat. Vor allen Dingen soll aber der Vater endlich sehen, daß auch ich zu einem Protest fähig bin.«

Nach dem Tee legte sie sich auf mein Bett und lag eine Zeitlang mit geschlossenen Augen. Sie war sehr blaß.

»Diese Schwäche!« sagte sie, als sie nach einer Weile wieder aufstand. »Wladimir behauptet, daß alle Frauen und Mädchen in der Stadt vor lauter Müßiggang blutarm sind. Wie klug ist doch Wladimir! Er hat recht, er hat tausendmal recht. Man muß arbeiten!«

Nach zwei Tagen kam sie mit ihrer Rolle zu den Aschogins zur Probe. Sie trug ein schwarzes Kleid, eine Korallenkette um den Hals, eine Brosche, die aus der Ferne wie ein Blätterteigkuchen aussah, und große Ohrringe mit je einem Brillanten. Als ich sie ansah, mußte ich mich genieren, ihre Geschmacklosigkeit machte mich bestürzt. Die Brillantohrringe waren so unpassend; auch die anderen bemerkten, wie sonderbar sie gekleidet war; ich sah die Leute lächeln und hörte sogar jemand sagen:

»Die ägyptische Kleopatra!«

Sie bemühte sich, ungezwungen, ruhig und mondän zu erscheinen und erschien darum manieriert und sehr sonderbar. Ihre frühere Einfachheit und Anmut hatten sie verlassen.

»Als ich eben dem Vater erklärte, daß ich zur Probe gehe,« sagte sie, auf mich zugehend, »schrie er mich an und erklärte, daß er mir seinen Segen entziehe; beinahe hätte er mich geschlagen. Denke dir nur, ich kann meine Rolle nicht,« sagte sie, in ihr Heft blickend. »Ich werde mich ganz bestimmt blamieren. Die Würfel sind gefallen,« fuhr sie in höchster Erregung fort. »Die Würfel sind gefallen....«

Sie glaubte, daß alle auf sie sehen und über den bedeutungsvollen Schritt, zu dem sie sich entschlossen hatte, staunen; sie glaubte, daß alle von ihr etwas Ungewöhnliches erwarteten, und es war mir ganz unmöglich, sie davon zu überzeugen, daß niemand sich um solche kleine und uninteressante Menschen, wie wir beide, kümmerte.

Bis zum dritten Akt hatte sie nichts zu tun, und ihre Rolle einer Provinztante bestand nur darin, daß sie vor der Tür horchen und dann einen kurzen Monolog zu sprechen hatte. Bis die Reihe an sie kam, also mindestens anderthalb Stunden, während die andern Darsteller auf der Bühne herumgingen, lasen, Tee tranken und stritten, wich sie nicht von meiner Seite, murmelte in einem fort ihre Rolle und zerknüllte nervös ihr Heft. In der Meinung, daß alle sie ansähen und auf ihr Auftreten warteten, nestelte sie mit zitternder Hand an ihren Haaren und sagte zu mir:

»Ich werde mich ganz bestimmt blamieren ... Wenn du nur wüßtest, wie schwer es mir ums Herz ist. Ich habe solche Angst, als ob man mich gleich zum Schafott führen würde.«

Endlich kam sie an die Reihe.

»Kleopatra Alexejewna, jetzt!« sagte der Regisseur.

Unschön und linkisch trat sie auf die Mitte der Bühne mit dem Ausdruck von Entsetzen im Gesicht und stand eine halbe Minute unbeweglich wie im Starrkrampfe da; nur die beiden großen Ohrringe bewegten sich.

»Das erstemal können Sie die Rolle auch ablesen.« sagte jemand.

Es war mir klar, daß sie vor Angst weder sprechen, noch das Heft aufmachen konnte; ich sah, daß sie am wenigsten an ihre Rolle dachte. Ich wollte schon auf sie zugehen und ihr etwas sagen, als sie plötzlich mitten auf der Bühne niederkniete und laut schluchzte.

Alles kam in Bewegung, alle lärmten, nur ich allein stand an die Kulisse gelehnt, von dem Vorgefallenen erdrückt, und wußte nicht, was anzufangen. Ich sah, wie man ihr aufstehen half und sie fortführte. Ich sah, wie Anjuta Blagowo auf mich zuging; ich hatte sie vorher im Saale nicht gesehen, und sie schien wie aus der Erde gewachsen. Sie hatte ihren Hut auf und den Schleier vor dem Gesicht und sah wie immer so aus, als ob sie nur auf dem Sprunge hier wäre.

»Ich hab' ihr doch gesagt, daß sie nicht spielen darf,« sagte sie rot vor Empörung, jedes Wort kurz hervorstoßend. »Das ist Wahnsinn! Sie hätten sie davon abhalten müssen!«

Nun näherte sich mir die magere und flache Frau Aschogin-Mutter in ihre kurzen Bluse mit kurzen Aermeln und Zigarettenasche auf der Brust.

»Mein Freund, es ist ja entsetzlich,« sagte sie, die Hände ringend und nur wie immer scharf ins Gesicht blickend. »Das ist ja entsetzlich! Ihre Schwester ist in Umständen ... sie ist schwanger! Führen Sie sie doch fort, ich bitte Sie darum ...«

Sie war furchtbar erregt und atmete schwer. Etwas abseits standen ihre drei Töchter, ebenso mager und flach wie sie, und drängten sich ängstlich aneinander. Sie waren so erschrocken und bestürzt, als ob man in ihrem Hause einen, Zuchthäusler erwischt hätte. Wie schrecklich, diese Schande! Und doch hatte diese ehrenwerte Familie ihr Leben lang gegen die Vorurteile gekämpft; offenbar hatten sie geglaubt, das alle Vorurteile und Verirrungen der Menschheit nur in der Furcht vor den drei Kerzen, vor der Zahl Dreizehn und vor dem Montag bestünden.

»Ich bitte Sie darum ...« wiederholte Frau Aschogin mit gespitztem Mund. »Ich bitte Sie, bringen Sie sie doch nach Hause.«

Die bekanntesten Novellen, Dramen und Erzählungen von Anton Pawlowitsch Tschechow

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