Читать книгу Die bekanntesten Novellen, Dramen und Erzählungen von Anton Pawlowitsch Tschechow - Anton Pawlowitsch Tschechow - Страница 24
XIX
ОглавлениеEndlich kam ein Brief von Mascha.
»Mein lieber, guter M.A.,« schrieb sie mir, »mein guter, sanfter Engel, wie Sie der alte Maler nannte, leben Sie wohl, ich reise mit Papa nach Amerika zur Ausstellung. In wenigen Tagen werde ich den Ozean sehen – wie fern ist jetzt von mir unser Dubetschnja, es ist unheimlich, daran zu denken! Es ist so fern und unfaßbar wie der Himmel, und ich strebe nach der Freiheit, ich triumphiere, ich bin ganz verrückt, Sie sehen ja, wie unsinnig dieser Brief ist. Mein Lieber, mein Guter, geben Sie mir die Freiheit, zerreißen Sie schneller den Faden, der uns noch aneinander bindet. Daß ich Ihnen begegnet bin und Sie kennen gelernt habe, war ein himmlischer Strahl, der mein ganzes Sein erleuchtete; aber daß ich Ihre Frau wurde, das war ein Fehler, begreifen Sie das! Die Erkenntnis dieses Fehlers bedrückt mich schwer, und ich flehe Sie kniefällig an, mein großmütiger Freund, mir sehr bald, noch vor meiner Ozeanreise zu telegraphieren, daß Sie bereit sind, unseren gemeinsamen Fehler gutzumachen und diese einzige Last von meinen Flügeln zu nehmen. Mein Vater, der alle Scherereien auf sich nehmen will, hat mir versprochen, Sie nicht zu sehr mit den Formalitäten zu belästigen. Ich bin also ganz frei? Ja?
Seien Sie glücklich, Gott segne Sie, verzeihen Sie mir, Sünderin.
Ich lebe und bin gesund. Ich gebe viel Geld aus, mache viel Dummheiten und danke jeden Augenblick Gott, daß eine so schlechte Frau, wie ich, keine Kinder hat. Ich singe und habe Erfolg, aber das ist keine Laune, nein, das ist mein sicherer Hafen, meine Zelle, in der ich jetzt Ruhe finde. König David hat einen Ring gehabt mit der Inschrift: ›Alles vergeht‹. Wenn man traurig ist, machen einen diese Worte lustig, und wenn man lustig ist, stimmen sie traurig. Auch ich habe mir solch einen Ring mit hebräischer Inschrift angeschafft, und dieser Talisman wird mich vor Verirrungen schützen. Alles vergeht, auch das Leben wird vergehen, folglich braucht der Mensch nichts. Oder der Mensch braucht nur das Bewußtsein der Freiheit, denn wenn er frei ist, so braucht er nichts, gar nichts. Zerreißen Sie also den Faden. Ich umarme Sie und Ihre Schwester. Verzeihen Sie mir und vergessen Sie Ihre M.«
Meine Schwester lag in dem einen Zimmer, und Rettich, der wieder von seiner Krankheit genas, im anderen. Als ich diesen Brief bekam, ging meine Schwester leise zum Maler, setzte sich neben ihn und begann ihm vorzulesen. Sie las ihm täglich etwas von Ostrowskij oder Gogol vor, und er hörte ihr zu, auf einen Punkt starrend, ohne zu lachen, immerfort den Kopf schüttelnd und ab und zu vor sich hinmurmelnd:
»Alles ist möglich! Alles ist möglich!«
Wenn im Stück etwas Unschönes vorkam, so sagte er schadenfroh, mit dem Finger aufs Buch zeigend:
»Da ist die Lüge! Da sieht man, wozu die Lüge führt!«
Die Stücke fesselten ihn wie durch ihren Inhalt so auch durch die Moral und den kunstvollen Aufbau. Er bewunderte die Dichter, ohne sie je beim Namen zu nennen:
»Wie geschickt hat er das hingesetzt!«
Meine Schwester las diesmal nur eine Seite vor; mehr konnte sie nicht, denn ihre Stimme versagte. Rettich nahm sie bei der Hand, bewegte seine ausgetrockneten Lippen und sagte kaum hörbar mit heiserer Stimme:
»Die Seele des Gerechten ist weiß und glatt wie Kreide, und die Seele des Sünders ist wie Bimsstein. Die Seele des Gerechten ist wie heller Firnis, und die Seele des Sünders wie Gaspech. Man muß arbeiten, man muß leiden, man muß trauern,« fuhr er fort, »denn ein Mensch, der nicht arbeitet und nicht leidet, kommt nicht ins Himmelreich. Wehe, wehe den Satten, wehe den Mächtigen, wehe den Reichen, wehe den Wucherern! Sie werden das Himmelreich nicht schauen. Die Läuse fressen das Gras, der Rost – das Eisen ...«
»Und die Lüge – die Seele,« ergänzte meine Schwester lachend.
Ich las den Brief noch einmal. In diesem Augenblick kam in die Küche ein Soldat, der uns zweimal in der Woche Tee, Semmeln und Rebhühner, die nach Parfüm rochen; brachte; wir wußten nicht, von wem. Ich hatte keine Arbeit und saß tagelang zu Hause; derjenige, der uns das alles schickte, wußte offenbar, daß wir Not litten.
Ich hörte, wie meine Schwester lustig lachend mit dem Soldaten sprach. Später aß sie im Liegen eine Semmel und sagte zu mir:
»Als du nicht länger in Stellung bleiben wolltest und Maler wurdest, wußten wir, Anjuta Blagowo und ich, schon gleich am Anfang, daß du recht hattest, aber wir scheuten uns, es laut auszusprechen. Sag' einmal, was ist es, was den Menschen abhält, seine Gedanken auszusprechen? Nimm zum Beispiel diese Anjuta Blagowo. Sie liebt dich, sie verehrt dich, sie weiß, daß du im Rechte bist; sie liebt auch mich wie eine Schwester und weiß, daß ich im Rechte bin; im innersten Herzen beneidet sie mich sogar, aber etwas hält sie davon ab, zu uns zu kommen; sie meidet uns, sie fürchtet uns.«
Meine Schwester faltete ihre Hände auf der Brust und sagte begeistert:
»Wenn du nur wüßtest, wie sehr sie dich liebt! Diese Liebe hat sie nur mir allein gestanden, und auch das nur im Dunkeln, ganz leise. Manchmal führte sie mich in eine dunkle Allee und flüsterte mir zu, wie teuer du ihr seist. Du wirst es sehen, sie wird niemals heiraten, weil sie dich liebt. Tut sie dir nicht leid?«
»Ja.«
»Sie hat uns auch diese Semmeln geschickt. Es ist wirklich lächerlich, warum verheimlicht sie es? Auch ich war lächerlich und dumm gewesen, nun bin ich von dort weggegangen und habe vor niemand mehr Angst. Ich denke und sage, was ich will und bin glücklich. Als ich noch zu Hause wohnte, hatte ich keine Ahnung von Glück, jetzt würde ich aber auch nicht mit einer Königin tauschen.«
Nun kam Doktor Blagowo. Er hatte sein Doktordiplom bekommen und ruhte jetzt in unserer Stadt bei seinem Vater aus. Er sagte, daß er bald wieder nach Petersburg gehen wolle, um sich mit den Schutzimpfungen gegen Typhus und, ich glaube, auch gegen die Cholera zu befassen; er wollte auch noch ins Ausland gehen, um sich zu vervollkommnen und später einen Lehrstuhl zu bekommen. Den Militärdienst hatte er aufgegeben und trug nun ein bequemes Cheviotjackett, weite Hosen und prachtvolle Krawatten. Meine Schwester war von seinen Krawattennadeln, Manschettenknöpfen und vom roten Seidentuch, das er aus Koketterie in der vorderen Rocktasche trug, entzückt. Einmal zählten wir aus Langweile alle seine Anzüge auf, die wir kannten, und es waren ihrer mindestens zehn. Es war klar, daß er meine Schwester immer noch liebte, aber er hatte kein einziges Mal, nicht einmal im Scherz gesagt, daß er sie nach Petersburg oder ins Ausland mitnehmen wolle, und ich konnte mir gar nicht vorstellen, was aus ihr, wenn sie am Leben bliebe, und was aus ihrem Kinde werden würde. Sie aber träumte ohne Ende und dachte nie ernsthaft an die Zukunft; sie sagte, er könne verreisen, wohin er wolle, er dürfe sie sogar verlassen, wenn er nur selbst glücklich sei; ihr aber genüge schon das, was gewesen.
Wenn er zu uns kam, untersuchte er sie sehr eingehend und verlangte, daß sie in seiner Gegenwart Milch mit irgendwelchen Tropfen trinke. Auch heute tat er es. Er untersuchte sie und zwang sie ein Glas Milch zu trinken, und dann roch es in unserem Zimmer nach Kreosol.
»Das ist vernünftig,« sagte er, ihr das Glas aus der Hand nehmend. »Du sollst nicht viel sprechen, du aber plauderst in der letzten Zeit wie eine Elster. Sei, bitte, still.«
Sie lachte. Dann ging er in das Zimmer Rettichs, bei dem ich saß, und klopfte mir freundlich auf die Schulter.
»Nun, wie geht's, Alter?« fragte er, sich über den Kranken beugend.
»Euer Hochwohlgeboren ...« sagte Rettig, leise die Lippen bewegend: »Euer Hochwohlgeboren, ich erlaube mir zu bemerken ... wir alle stehen in Gottes Hand, wir alle müssen sterben ... Erlauben Sie, daß ich die Wahrheit sage ... Euer Hochwohlgeboren, Sie werden nicht ins Himmelreich kommen!«
»Nun, was soll man machen,« scherzte der Doktor, »jemand muß doch auch in die Hölle kommen.«
Plötzlich trübte sich mein Bewußtsein. Es war mir, als sähe ich es im Traume: ich stehe in einer Winternacht auf dem Schlachthofe, und neben mir steht Prokofij, der entsetzlich nach Pfefferschnaps riecht. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen und rieb mir die Augen, und sofort schien es mir wieder, als ginge ich zum Gouverneur, um mich mit ihm auseinanderzusetzen. Aehnliche Zustände habe ich weder früher noch später gehabt, und diese seltsamen, traumartigen Erinnerungen kamen wohl vor von der Ueberanstrengung meines Nervensystems. Ich durchlebte den frühen Morgen auf dem Schlachthofe und die Auseinandersetzung mit dem Gouverneur und hatte dabei das dunkle Gefühl, daß es nicht die Wirklichkeit war.
Als ich wieder zu mir kam, sah ich, daß ich nicht mehr zu Hause war, sondern mit dem Doktor auf der Straße unter einer Laterne stand.
»Es ist traurig, traurig,« sagte er, während ihm die Tränen die Wangen herunterliefen. »Sie ist lustig und lacht und hofft, und doch ist ihre Lage hoffnungslos, mein Bester. Ihr Rettich haßt mich und will mir immer zu verstehen geben, daß ich schlecht gegen sie gehandelt habe. Er hat von seinem Standpunkt aus recht, aber ich habe auch meinen eigenen Standpunkt und bedauere in keiner Weise das, was geschehen ist. Wir alle müssen lieben, nicht wahr? Ohne Liebe gibt es kein Leben. Wer die Liebe fürchtet und flieht, der ist nicht frei.«
Allmählich kam er auf andere Themen zu sprechen und redete von der Wissenschaft und von seiner Dissertation, die in Petersburg gut gefallen habe; er sprach mit Begeisterung und dachte gar nicht mehr an meine Schwester, an seinen Kummer und an mich. Das Leben riß ihn mit. Sie hat ihr Amerika und den Ring mit der Inschrift, dachte ich mir, und er – seinen Doktortitel und die wissenschaftliche Karriere; nur ich und meine Schwester sind beim alten geblieben.
Nachdem ich mich von ihm verabschiedet, ging ich an die Laterne und las den Brief noch einmal durch. Es fiel mir so lebhaft ein, wie sie im Frühjahr eines Morgens zu mir auf die Mühle gekommen war und sich mit einem Schafpelz zugedeckt hatte – sie wollte einer einfachen Bäuerin gleichen. Ein anderes Mal, auch das war am frühen Morgen, als wir die Netze aus dem Wasser zogen, fielen auf uns von den Uferweiden große Regentropfen, und wir lachten so herzlich ....
In unserem Hause auf der Großen Adelsstraße war es dunkel. Ich kletterte über den Zaun, wie ich es in früheren Zeiten zu tun pflegte, und ging in die Küche, um mir mein Lämpchen zu holen. In der Küche war niemand; am Ofen summte der Samowar, der auf meinen Vater wartete. Wer mag ihm wohl jetzt den Tee einschenken? fragte ich mich. Ich nahm das Lämpchen, ging in die Hütte, machte mir aus den alten Zeitungen ein Lager zurecht und legte mich hin. Die Haken an den Wänden blickten ernst drein, und ihre Schatten bewegten sich. Es war kalt. Mir war es, als ob gleich meine Schwester kommen und mir das Abendbrot bringen würde, aber ich erinnerte mich, daß sie krank im Hause Rettichs lag, und es kam mir plötzlich sonderbar vor, daß ich über den Zaun geklettert war und hier in der ungeheizten Hütte lag. Mein Bewußtsein war getrübt, und allerlei Unsinn schwebte mir vor den Augen.
Nun klingelt es. Die Geräusche sind mir von Kindheit bekannt: zuerst raschelt der Draht an der Wand, dann ertönt in der Küche ein kurzes, klagendes Lauten. Der Vater ist aus dem Klub heimgekehrt. Ich stand auf und ging in die Küche. Als die Köchin Aksinja mich erblickte, schlug sie die Hände zusammen und fing zu weinen an.
»Liebes Kind!« sagte sie leise. »Mein Teurer! Ach Gott!«
In ihrer Aufregung begann sie an ihrer Schürze zu zerren. Auf der Fensterbank standen große Flaschen mit Beeren und Branntwein. Ich schenkte mir eine Teetasse voll ein und trank sie gierig aus, weil ich sehr durstig war. Aksinja hatte erst eben den Tisch und die Bänke gescheuert, und in der Küche roch es so, wie es in hellen, gemütlichen Küchen bei reinlichen Köchinnen zu riechen pflegt. Dieser Geruch und das Zirpen des Heimchens lockten uns in unseren Kindertagen nach der Küche und weckten in uns den Wunsch, Märchen zu hören und harmlose Kartenspiele zu spielen ...
»Und wo ist Kleopatra?« fragte Aksinja leise, in großer Hast, den Atem zurückhaltend. »Und wo ist deine Mütze, Väterchen? Und deine Frau ist, wie man sagt, nach Petersburg verreist?«
Sie war schon bei meiner Mutter im Dienst gewesen und pflegte einst uns, mich und Kleopatra in einem Holztrog zu baden; auch jetzt noch betrachtete sie uns als Kinder, die sie zu erziehen hatte. In einer Viertelstunde hatte sie mir alle Erwägungen ausgekramt, die sie, seit wir uns nicht gesehen, in der Stille der Küche mit der Umsicht einer alten Magd aufgespeichert hatte. Sie sagte, daß man den Doktor zwingen könne, Kleopatra zu heiraten, – man müsse ihm nur ordentlich Angst machen und eine Bittschrift an den Bischof aufsetzen, damit er seine erste Ehe auflöse; dann wäre es gut, Dubetschnja hinter dem Rücken meiner Frau zu verkaufen und das Geld auf meinen Namen in die Bank zu tun; und wenn meine Schwester und ich unseren Vater kniefällig bitten wollten, so würde er uns vielleicht verzeihen; wir sollten auch eine Messe der Himmelskönigin lesen lassen ....
»Nun, geh doch, Väterchen, sprich mit ihm,« sagte sie, als man meinen Vater husten hörte. »Geh hin, sprich mit ihm und verbeuge dich vor ihm, der Kopf wird dir davon nicht abfallen.«
Ich ging. Der Vater saß schon am Tisch und zeichnete den Plan zu einer Villa mit gotischen Fenstern und einem dicken Turm, der wie ein Feuerwehrturm aussah, – es war furchtbar talentlos und trocken. Als ich in sein Zimmer trat, blieb ich so stehen, daß ich den Plan sehen konnte. Ich wußte nicht, weshalb ich zum Vater gekommen war, aber ich erinnere mich, daß ich beim Anblick seines mageren Gesichts, seines roten Halses und seines Schattens an der Wand ihm um den Hals fallen und mich vor ihm, wie mir Aksinja geraten, bis zum Boden verneigen wollte. Aber der Plan mit den gotischen Fenstern und dem dicken Turm hielt mich davon ab.
»Guten Abend,« sagte ich.
Er blickte mich an und senkte die Augen sofort wieder auf die Zeichnung.
»Was willst du?« fragte er nach einer Weile.
»Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß meine Schwester schwer krank ist. Sie wird bald sterben,« fügte ich mit dumpfer Stimme hinzu.
»Was soll ich dazu sagen?« seufzte ter Vater. Dann nahm er die Brille ab und legte sie auf den Tisch. »Was man sät, das erntet man. Was man sät,« wiederholte er, vom Tische aufstehend, »das erntet man. Ich bitte dich, erinnere dich nur, wie du vor zwei Jahren zu mir kamst und wie ich dich hier auf dieser selben Stelle gebeten habe, deine Verirrungen zu bereuen, und zu dir von deiner Schuldigkeit, von der Ehre und von den Pflichten gegen deine Ahnen gesprochen habe, deren Traditionen wir heilig halten müssen. Hast du auf mich gehört? Du hast meine Ratschläge verachtet und hast an deinen falschen Anschauungen hartnäckig festgehalten; und noch mehr als das: du hast auch deine Schwester in deine Verirrungen hineingezogen und sie gezwungen, Moral und Scham aufzugeben. Nun geht es euch beiden schlecht. Was soll ich dazu sagen? Was man sät, das erntet man!«
Als er das sagte, ging er in seinem Zimmer auf und ab. Wahrscheinlich glaubte er, ich sei zu ihm gekommen, um meine Schuld zu bekennen; wahrscheinlich erwartete er, ich würde für mich und für meine Schwester bitten. Mich fröstelte, ich zitterte wie im Fieber, und ich sagte heiser mit großer Mühe:
»Auch ich bitte Sie, sich daran zu erinnern, daß ich Sie an dieser selben Stelle angefleht habe, mich zu verstehen, sich in mich einzufühlen und zusammen mit mir die Frage zu untersuchen, wie und wofür wir leben sollen; als Antwort brachten Sie aber die Rede auf die Ahnen und auf den Großvater, der Verse geschrieben hat. Jetzt erzählt ich Ihnen, daß Ihre einzige Tochter sterben muß, und Sie reden wieder von Ahnen und Traditionen. Wie leichtsinnig ist das doch in Ihrem Alter, wo der Tod nicht mehr fern ist, wo Sie nur noch fünf, höchstens zehn Jahre zu leben haben!«
»Wozu bist du hergekommen?« fragte mein Vater streng. Er fühlte sich offenbar dadurch verletzt, daß ich ihm Leichtsinn vorgeworfen hatte.
»Ich weiß es nicht. Ich liebe Sie, es tut mir unaussprechlich leid, daß wir uns so fremd sind, – darum bin ich gekommen. Ich liebe Sie noch, aber meine Schwester hat sich von Ihnen endgültig losgerissen. Sie verzeiht nicht und wird es Ihnen nie verzeihen. Schon Ihr Namen allein weckt in ihr einen Ekel vor der Vergangenheit, vor dem Leben.«
»Und wer ist schuld?« schrie der Vater. »Du bist selbst schuld, du Taugenichts!«
»Gut, nehmen wir an, daß ich schuld bin,« sagte ich. »Ich bekenne es, ich bin an vielem schuld; warum ist aber Ihr Leben, das Sie auch uns aufdrängen wollen, so furchtbar langweilig, so geschmacklos, warum gibt es in allen den Häusern, die Sie in den dreißig Jahren erbaut haben, keinen Menschen, von dem ich lernen könnte, wie man leben soll, ohne Schuld auf sich zu laden? In der ganzen Stadt gibt es keinen einzigen ehrlichen Menschen! Alle Ihre Häuser sind verfluchte Nester, in denen die Mutter und die Töchter langsam hingemordet und die Kinder gequält werden ... Meine arme Mutter!« fuhr ich verzweifelt fort. »Meine arme Schwester! Man muß sich ja mit Schnaps, Kartenspiel und Klatschereien betäuben, man muß heucheln und lügen oder jahrzehntelang Pläne zeichnen, um das Grauen nicht zu sehen, das in diesen Häusern wohnt. Unsere Stadt existiert schon seit Jahrhunderten und hat bisher dem Vaterlande noch keinen nützlichen Menschen geliefert, – keinen einzigen! Sie haben alles Lebensfähige, alles Originelle im Keime erstickt! Es ist eine Stadt der Krämer, der Schenker, der Kanzlisten, der Heuchler, eine unnütze, zwecklose Stadt, die keine Seele bedauern würde, wenn sie plötzlich in die Erde versänke.«
»Ich will dir nicht weiter zuhören, du Taugenichts!« sagte mein Vater und nahm ein Lineal vom Tisch. »Du bist betrunken. Unterstehe dich nicht, in solchem Zustande vor deinen Vater zu treten! Ich sage es dir zum letztenmal, und das sollst du auch deiner sittenlosen Schwester mitteilen, daß ihr von mir nichts bekommen werdet. Die widerspenstigen Kinde habe ich mir aus dem Herzen gerissen, und wenn sie unter ihrer Widerspenstigkeit leiden, so tun sie mir nicht leid. Du kannst gehen, woher du gekommen bist. Gott wollte mich durch euch strafen, und ich trage diese Prüfung in Demut und finde gleich Hiob Trost in meinen Leiden und in der Arbeit. Du darfst nicht über meine Schwelle treten, ehe du dich gebessert hast. Ich bin gerecht, alles, was ich sage, ist nützlich, und wenn du dir selbst Gutes willst, so mußt du dein Leben lang daran denken, was ich dir gesagt habe und jetzt sage.«
Ich winkte mit der Hand und ging hinaus. Was ich in der Nacht und am anderen Tage getrieben habe, weiß ich nicht mehr.
Man sagt, ich sei ohne Mütze, taumelnd und laut singend, durch die Straßen gelaufen, von Jungen verfolgt, die mir nachgeschrien hätten:
»Kleiner Nutzen! Kleiner Nutzen!«