Читать книгу Die bekanntesten Novellen, Dramen und Erzählungen von Anton Pawlowitsch Tschechow - Anton Pawlowitsch Tschechow - Страница 33
IV
ОглавлениеVier Jahre waren vergangen. Starzew hatte schon in der Stadt eine große Praxis. Jeden Morgen empfing er in großer Hast seine Djalischer Patienten und begab sich dann in die Stadt, von wo er erst spät in der Nacht zurückkehrte. Jetzt fuhr er nicht mehr mit einem Paar Pferde, sondern mit einer Troika mit Schellengeläute. Er war dick und behäbig geworden und ging ungern zu Fuß, da er an Atemnot litt. Auch Pantelejmon war dick geworden, und je mehr er in die Breite ging, um so trauriger seufzte und beklagte er sich über sein bitteres Los: das viele Fahren bringe ihn um! Starzew kam in verschiedene Häuser und lernte viele Menschen kennen, wurde aber mit niemand intim. Alle Stadtbewohner ärgerten ihn mit ihren Gesprächen, Lebensanschauungen und selbst mit ihrem Aussehen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß so ein Bürger, solange man mit ihm Karten spielt oder trinkt, ein friedlicher, gutmütiger und sogar gar nicht dummer Mensch ist; kaum versucht man aber mit ihm über etwas, was sich nicht auf das Essen bezieht, über Politik oder Wissenschaft zu sprechen, so ist er auf einmal ganz blöd, oder äußert so stumpfsinnige und gehässige Ansichten, daß nichts anderes übrigbleibt, als ihn stehen zu lassen und wegzugehen. Wenn Starzew mit irgendeinem, sogar liberalen Bürger z. B. darüber zu sprechen versuchte, daß die Menschheit, Gott sei Dank, vorwärts schreite und sich mit der Zeit auch ohne Pässe und Todesstrafe behelfen werde, so schielte ihn der Bürger mißtrauisch an und fragte: »Dann darf also jedermann jeden Menschen auf offener Straße abschlachten?« Und wenn Starzew in Gesellschaft bei einem Abendessen oder Tee sagte, daß alle Menschen arbeiten müssen und daß man ohne Arbeit nicht leben dürfe, so faßte es ein jeder als einen Vorwurf auf und begann zu widersprechen oder wurde böse. Dabei lebten die Bürger absolut müßig und interessierten sich für nichts, so daß man sich unmöglich ausdenken konnte, worüber mit ihnen zu sprechen. Und Starzew mied auch alle Gespräche und beschränkte seinen Verkehr darauf, daß er mit den Leuten trank oder Whist spielte; wenn er irgendwo zu einer Familienfeier geladen war, so aß er schweigend und blickte von seinem Teller nicht auf; alles, was um ihn her gesprochen wurde, war uninteressant, ungerecht und dumm, er spürte Aerger, regte sich auf, aber schwieg. Und weil er immer schwieg und in den Teller blickte, nannten ihn die Leute »aufgeblasener Pollake«, obwohl er mit Polen gar nichts zu tun hatte.
Theater und Konzerte besuchte er nicht, spielte aber dafür jeden Abend mit Hochgenuß drei Stunden Whist. Er hatte noch eine Zerstreuung, die ihm ganz allmählich zu einer Leidenschaft geworden war: allabendlich die durch die Praxis verdienten Banknoten aus den Taschen zusammenzukramen; es kam vor, daß die gelben Einrubelscheine und die grünen Dreirubelscheine, die nach Parfüm, Essig, Weihrauch und Tran rochen, zusammen ganze siebzig Rubel ausmachten. Und wenn er einige Hunderte beisammen hatte, brachte er sie auf die Gesellschaft für gegenseitigen Kredite und ließ sie sich auf sein Konto gutschreiben.
In den vier Jahren seit der Abreise Jekaterina Iwanownas hatte er die Turkins nur zweimal besucht, beide Male auf Einladung Wjera Iossifownas, die noch immer an Migräne litt. Jekaterina Iwanowna kam jeden Sommer zu ihren Eltern auf Besuch, aber es traf sich immer so, daß er sie nicht sah.
Nun waren die vier Jahre um. An einem stillen, warmen Morgen brachte man ihm ins Krankenhaus einen Brief. Wjera Iossifowna schrieb, daß sie sich nach Dmitrij Ionytsch sehne und bat ihn unbedingt zu kommen, um ihre Qualen zu lindern; übrigens habe sie heute Geburtstag. Unten stand die Nachschrift: »Auch ich schließe mich der Bitte Mamas an. K.«
Starzew überlegte sich die Sache und fuhr am Abend zu den Turkins.
»Ich grütze Sie!« empfing ihn Iwan Petrowitsch mit den Augen allein lächelnd. »Bon jour!«
Wjera Iossifowna, die stark gealtert war und graues Haar hatte, drückte Starzew die Hand, seufzte manieriert und sagte:
»Sie wollen mir wohl nicht mehr den Hof machen, denn Sie kommen nicht mehr zu uns. Ich bin wohl zu alt für Sie. Nun ist aber die Junge gekommen, vielleicht wird sie mehr Glück haben.«
Und das Kätzchen? Sie war magerer, bleicher, hübscher und schlanker geworden; aber sie war Jekaterina Iwanowna und kein Kätzchen mehr; die frühere Frische und der kindlich naive Ausdruck waren verschwunden. In den Blicken und den Manieren lag etwas Neues, Aengstliches und Schuldbewußtes, als fühlte sie sich hier bei den Turkins nicht mehr zu Hause.
»Gott, wie lange haben wir uns nicht gesehen!« sagte sie, Starzew die Hand reichend, und er konnte sehen, wie erregt ihr Herz klopfte; sie blickte ihm gespannt und neugierig ins Gesicht und fuhr fort: »Wie voll Sie geworden sind! Sie sind braun und etwas älter geworden, haben sich aber sonst wenig verändert.«
Auch jetzt gefiel sie ihm, gefiel ihm gut, doch etwas fehlte an ihr, oder etwas war an ihr zu viel, – er wußte selbst nicht zu sagen, was es war; aber etwas ließ in ihm nicht mehr die früheren Gefühle aufkommen. Ihm mißfiel ihre Blässe, ihr neuer Ausdruck, das matte Lächeln, die Stimme, und etwas später mißfiel ihm auch schon ihr Kleid, der Sessel, in dem sie saß; auch in der Vergangenheit, als er sie beinahe geheiratet hätte, mißfiel ihm etwas. Er gedachte seiner Liebe, seiner Träume und Hoffnungen, die ihn vor vier Jahren erfüllt hatten, und wurde auf einmal verlegen.
Man trank Tee mit Kuchen. Dann las Wjera Iossifowna einen Roman vor, las von Dingen, die im Leben niemals vorkommen, und Starzew hörte zu, sah ihren grauen schönen Kopf an und wartete, daß sie aufhöre.
– Talentlos – dachte er sich – ist nicht der, der keine Novellen zu schreiben versteht, sondern der, der sie schreibt und es nicht verheimlichen kann.
»Nicht übelhaft,« sagte Iwan Petrowitsch.
Nach der Vorlesung spielte Jekaterina Iwanowna sehr lange und sehr laut Klavier, und als sie fertig war, dankte man ihr und war entzückt über ihr Spiel.
– Es ist doch gut, daß ich sie nicht geheiratet habe, – dachte sich Starzew.
Sie sah ihn an und erwartete offenbar, daß er ihr vorschlagen werde, in den Garten zu gehen, er aber schwieg.
»Nun, wollen wir ein wenig sprechen,« sagte sie, auf ihn zugehend. »Wie leben Sie? Wie geht es Ihnen? Ich habe alle diese Tage an Sie gedacht,« fuhr sie nervös fort, »ich wollte Ihnen schreiben, wollte selbst zu Ihnen nach Djalisch kommen, und wäre auch gekommen, wenn ich es mir nicht überlegt hätte: Gott allein weiß, was Sie von mir jetzt halten. Mit solcher Aufregung habe ich Sie heute erwartet. Um Gottes willen, gehen wir doch in den Garten.«
Sie gingen in den Garten und setzten sich auf die gleiche Bank unter dem alten Ahorn wie vor vier Jahren. Es war finster.
»Nun, wie geht es Ihnen?« fragte Jekaterina Iwanowna.
»Danke, es geht,« antwortete Starzew.
Und er wußte nichts mehr zu sagen. Beide schwiegen.
»Ich bin so aufgeregt,« sagte Jekaterina Iwanowna nach einer Weile und bedeckte das Gesicht mit den Händen: »aber achten Sie darauf nicht. Ich fühle mich so wohl zu Hause, ich bin so froh, alle wiederzusehen und kann mich gar nicht gewöhnen. So viele Erinnerungen! Ich glaubte, daß wir bis morgen früh sprechen würden.«
Jetzt sah er ihr Gesicht und ihre glänzenden Augen in der Nähe, und sie erschien ihm hier im Dunkeln jünger als im Zimmer, und selbst ihr kindlicher Ausdruck von einst war zurückgekehrt. Sie blickte ihn tatsächlich mit naiver Neugier an, als wollte sie sich den Menschen, der sie einst so heiß, so zärtlich und so unglücklich geliebt hatte, näher ansehen und begreifen. Und er erinnerte sich des Vergangenen mit allen Einzelheiten, wie er auf dem Friedhofe herumgeirrt war und wie er dann beim Morgengrauen todmüde nach Hause zurückkehrte, und es wurde ihm plötzlich traurig zumute, und das Vergangene tat ihm leid. In seiner Seele glimmte wieder ein Feuer.
»Erinnern Sie sich noch, wie ich Sie zum Tanzabend im Klub begleitete?« sagte er. »Es regnete und war stockfinster.«
Das Flämmchen lohte immer stärker, und er hatte Lust, zu sprechen und sich über das Leben zu beklagen ....
»Ach ja!« sagte er mit einem Seufzer. »Sie fragten soeben, wie es mir geht. Wie geht es uns hier allen? Wir werden alt, fett und sinken immer tiefer. Ein Tag ist wie der andere, das Leben vergeht farblos, ohne Eindrücke, ohne Gedanken ... Bei Tage verdiene ich Geld, und abends sitze ich im Klub in Gesellschaft von Spielern und Alkoholikern, die ich nicht leiden kann. Es ist gar nicht schön.«
»Aber Sie haben Ihre Arbeit, ein edles Lebensziel. Sie sprachen einst mit solcher Liebe von Ihrem Krankenhaus. Ich war damals so eigen, bildete mir ein, eine hervorragende Pianistin zu sein. Alle jungen Mädchen spielen heute Klavier, und ich spielte ebenso wie die anderen, durchaus nicht hervorragend; ich bin als Pianistin dasselbe, was meine Mama als Dichterin ist. Natürlich hatte ich Sie damals nicht verstanden, aber später, in Moskau dachte ich oft an Sie. Ich dachte überhaupt nur an Sie. Was für ein Glück ist es, Landarzt zu sein und dem leidenden Volke zu dienen! Was für ein Glück!« wiederholte Jekaterina Iwanowna mit Begeisterung. »Als ich an Sie in Moskau dachte, erschienen Sie mir als ein idealer, erhabener Mensch ...«
Starzew mußte an die Banknoten denken, die er jeden Abend mit solchem Genuß aus seinen Taschen zusammenkramte, und das Flämmchen in seiner Seele erlosch.
Er stand auf, um ins Haus zu gehen. Sie nahm seinen Arm.
»Sie sind der Beste von allen Menschen, die mir im Leben begegnet sind,« fuhr sie fort. »Wir werden uns jetzt öfter sehen und sprechen, nicht wahr? Versprechen Sie es mir. Ich bin keine Pianistin, ich bilde mir nichts mehr ein, und werde in Ihrer Anwesenheit weder spielen noch von Musik sprechen.«
Als sie ins Haus kamen und Starzew bei Abendbeleuchtung ihr Gesicht und ihre traurigem, dankbaren, fragenden Augen, die sie auf ihn gerichtet hielt, sah, empfand er eine gewisse Unruhe und sagte sich wieder:
– Es ist doch gut, daß ich sie damals nicht geheiratet habe. –
Er begann Abschied zu nehmen.
»Sie haben gar kein römisches Recht, vor dem Abendessen wegzugehen,« sagte Iwan Petrowitsch, ihn hinausbegleitend. »Das ist von Ihrer Seite höchst unpopulär. Nun, produziere dich!« wandte er sich im Vorzimmer an Pawa.
Pawa, der kein Junge mehr, sondern ein junger Mann mit einem Schnurrbart war, stellte sich in Positur, hob eine Hand und sprach mit tragischer Stimme:
»Stirb, Unselige!«
All das ärgerte Starzew. Als er sich in den Wagen setzte und auf das dunkle Haus und den Garten zurückblickte, die ihm einst so lieb gewesen, kam ihm wieder alles in den Sinn: die Romane Wjera Iossifownas, das laute Klavierspiel des Kätzchens, die Witze Iwan Petrowitschs, die tragische Positur Pawas, und er sagte sich, was das doch für eine traurige Stadt sein müsse, wo die talentiertesten Menschen so furchtbar talentlos seien.
Nach drei Tagen brachte ihm Pawa einen Brief von Jekaterina Iwanowna.
»Sie kommen nicht mehr zu uns. Warum?« schrieb sie ihm: »Ich fürchte, daß Ihr Verhältnis zu uns sich geändert hat, ich fürchte es, und vor diesem Gedanken ist es mir ganz bange zumute. Beruhigen Sie mich, kommen Sie zu uns und sagen Sie mir, daß alles gut ist.
Ich muß Sie sprechen.
Ihre J. T.«
Er las den Brief, überlegte sich eine Weile und sagte zu Pawa:
»Sag ihr, mein Bester, daß ich heute beschäftigt bin und nicht kommen kann. Sag, daß ich so in drei Tagen kommen werde.«
Es vergingen aber drei Tage, und acht Tage, und er ließ sich nicht blicken. Als er einmal am Hause der Turkins vorbeifuhr, fiel ihm ein, daß er doch eigentlich für ein paar Minuten hineinschauen sollte, – das dachte er sich und ging doch nicht hin.
Und er kam nie wieder zu den Turkins.
Es sind noch einige Jahre vergangen. Starzew ist noch dicker und fetter geworden, atmet schwer und wirft im Gehen den Kopf in den Nacken zurück. Wenn er, aufgedunsen und rot in seiner Troika mit dem Schellengeläute fährt und Pantelejmon, der ebenso dick und rot geworden ist und einen fleischigen Nacken hat, auf dem Bocke sitzt, die Arme so gerade, wie wenn sie aus Holz wären, vor sich ausgestreckt, und die Leute auf der Straße anschreit: »Rechts!«, – so ist das Bild so imposant, als ob kein Mensch, sondern ein Götze im Wagen säße. Er hat in der Stadt eine riesengroße Praxis, die ihm keinen Augenblick freie Zeit läßt, besitzt ein Gut und zwei Häuser in der Stadt und ist eben im Begriff, ein drittes Haus möglichst vorteilhaft zu kaufen. Wenn er in der »Gesellschaft für gegenseitigen Kredit« von einem Hause hört, das zum Verkaufe steht, so begibt er sich in dieses Haus, geht ungeniert durch alle Zimmer, ohne auf die nicht angekleideten Frauen und Kinder, die ihn mit Erstaunen und Angst angaffen, zu achten, tippt mit dem Spazierstock an alle Türen und fragt:
»Ist hier das Kabinett? Hier das Schlafzimmer? Und was ist hier?«
Dabei atmet er schwer und wischt sich den Schweiß aus der Stirn.
Er hat furchtbar viel zu tun, und doch gibt er die Landarztstelle nicht auf; so gierig ist er und will ja keinen Pfennig verlieren. In Djalisch und in der Stadt nennt man ihn jetzt ganz kurz »Ionytsch«. – »Wo fährt der Ionytsch hin?« oder: »Soll man nicht den Ionytsch zum Konsilium rufen?«
Seine Stimme hat sich verändert und ist hoch und schneidend geworden, wohl weil seine Kehle verfettet ist. Auch sein Charakter hat sich verändert: er ist unverträglich und reizbar. Wenn er seine Kranken empfängt, klopft er ungeduldig mit dem Stock gegen den Boden und schreit mit böser widerlicher Stimme:
»Wollen Sie nur meine Fragen beantworten! Keine überflüssigen Gespräche!«
Er ist einsam. Sein Leben ist langweilig, und er hat für nichts Interesse.
Wahrend der ganzen Zeit, seit er in Djalisch wohnt, war seine Liebe zum Kätzchen seine einzige und wohl auch seine letzte Freude gewesen. Abends spielt er im Klub Whist und ißt dann allein am großen Tisch zu Abend. Ihn bedient der älteste und geachtetste Kellner Iwan; er trinkt den Lafitte Nr. 17; die Vorsteher des Klubs, der Koch und der Kellner, alle wissen genau, was er liebt, und was er nicht liebt, und bemühen sich, ihn nach Möglichkeit zufriedenzustellen, damit er nicht auffährt und mit dem Stock gegen den Boden klopft.
Beim Abendessen wendet er sich manchmal um und mischt sich in ein fremdes Gespräch ein:
»Von wem sprachen Sie eben? Wie?«
Und wenn mal an einem der Nebentische die Rede auf die Turkins kommt, so fragt er:
»Was für Turkins meinen Sie? Die, wo die Tochter Klavier spielt?«
Das ist alles, was man über ihn berichten kann.
Und die Turkins? Iwan Petrowitsch ist gar nicht gealtert, hat sich nicht verändert und macht noch immer seine Witze; Wjera Iossifowna liest den Gästen nach wie vor in aller Herzenseinfalt ihre Romane vor. Und das Kätzchen spielt täglich an die vier Stunden Klavier. Sie ist sichtlich älter geworden, kränkelt und geht jeden Herbst mit der Mutter nach der Krim. Iwan Petrowitsch gibt ihnen das Geleite, und wenn der Zug sich in Bewegung setzt, wischt er sich die Tränen aus den Augen und ruft:
»Leben Sie sowohl, als auch!«
Und winkt mit dem Taschentuch.