Читать книгу Die bekanntesten Novellen, Dramen und Erzählungen von Anton Pawlowitsch Tschechow - Anton Pawlowitsch Tschechow - Страница 31

II

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Inhaltsverzeichnis

Starzew wollte die Turkins bald wieder besuchen, aber im Krankenhause gab es so viel zu tun, daß er unmöglich eine freie Stunde finden konnte. So verbrachte er mehr als ein Jahr in seiner Arbeit, in voller Weltabgeschiedenbeit; plötzlich kam aber aus der Stadt ein Brief in einem blauen Kuvert.

Wjera Iossifowna litt schon seit längerer Zeit an Migräne, in der letzten Zeit aber, als das Kätzchen sie jeden Tag mit der Drohung erschreckte, aufs Konservatorium zu gehen, wiederholten sich ihre Anfälle immer öfter. Sie hatte schon sämtliche Aerzte der Stadt konsultiert, und nun kam die Reihe an den Landarzt. Wjera Iossifowna schrieb ihm einen rührenden Brief, in dem sie ihn bat, zu ihr zu kommen, um ihre Qualen zu lindern. Starzew fuhr hin und besuchte von nun an die Turkins fast jeden Tag ... Er hatte Wjera Iossifowna tatsächlich ein wenig geholfen, und sie erzählte allen ihren Gästen, daß er ein ganz ungewöhnlicher, wunderbarer Arzt sei. Er besuchte die Turkins aber nicht mehr ihrer Migräne wegen ....

Ein Feiertag. Jekaterina Iwanowna war mit ihren ermüdenden Fingerübungen fertig. Dann saßen alle lange im Eßzimmer und tranken Tee, und Iwan Petrowitsch erzählte etwas Komisches. Da läutete es an der Türe; der Hausherr mußte ins Vorzimmer, um einen Gast zu begrüßen, und Starzew benutzte den Augenblick und flüsterte Jekaterina Iwanowna in höchster Aufregung zu:

»Um Gottes willen, ich flehe Sie an, quälen Sie mich nicht, kommen Sie mit in den Garten!«

Sie zuckte die Achseln, als verstünde sie nicht, was er von ihr wolle, stand aber auf und ging.

»Sie spielen drei und vier Stunden Klavier,« sagte er, ihr folgend, »dann sitzen Sie mit Ihrer Mama, und ich habe gar keine Möglichkeit, mit Ihnen zu sprechen. Schenken Sie mir doch wenigstens eine Viertelstunde, ich flehe Sie an ...«

Der Herbst war nicht mehr fern, im alten Garten war es still, und in den Alleen lag braunes Laub. Es dämmerte früh.

»Ich habe Sie schon eine ganze Woche nicht gesehen,« fuhr Starzew fort, »wenn Sie wüßten, wie ich darunter leide! ... Setzen wir uns hin. Hören Sie mich an.«

Sie hatten einen Lieblingsplatz im Garten: eine Bank unter einem alten schattigen Ahorn. Und sie setzten sich auf diese Bank.

»Was wünschen Sie von mir?« fragte Jekaterina Iwanowna trocken und geschäftsmäßig.

»Ich habe Sie eine ganze Woche nicht gesehen und so lange Ihre Stimme nicht gehört. Ich lechze nach Ihrer Stimme. Sagen Sie doch etwas.«

Sie entzückte ihn durch ihre Frische, durch den naiven Ausdruck der Augen und der Wangen. Selbst darin, wie ihr Kleid saß, sah er etwas ungewöhnlich Liebes und in seiner Einfachheit und naiven Grazie Rührendes. Zugleich erschien sie ihm trotz dieser Naivität sehr klug und viel intelligenter, als es die jungen Mädchen in ihrem Alter sonst sind. Mit ihr konnte er über Literatur, Kunst und alles Mögliche sprechen, obwohl es auch vorkam, daß sie mitten in einem ernsten Gespräch zu lachen anfing, oder aufsprang und davonlief. Sie hatte wie fast alle jungen Mädchen von S. viel gelesen (im allgemeinen las man in S. sehr wenig, und die Angestellten der Stadtbibliothek sagten, daß, wenn es nicht die jungen Mädchen und die jungen Juden gäbe, man die Bibliothek ruhig schließen könnte); dies gefiel Starzew außerordentlich, und er fragte sie jedesmal, aufs tiefste erregt, was sie in den letzten Tagen gelesen habe, und hörte ihr immer begeistert zu.

»Was haben Sie in dieser Woche gelesen, seit wir uns zuletzt gesehen haben?« fragte er auch jetzt. »Sagen Sie es, ich bitte Sie.«

»Ich habe Pissemskij gelesen.«

»Was denn?«

»›Tausend Seelen‹,« antwortete das Kätzchen. »Was für einen komischen Namen hatte dieser Pissemskij: Alerej Feofilaktowitsch!«

»Wo wollen Sie denn hin?« rief Starzew entsetzt, als sie plötzlich aufsprang und fortlief. »Ich habe mit Ihnen zu reden, ich muß mich aussprechen ... Bleiben Sie wenigstens fünf Minuten mit mir! Ich beschwöre Sie!«

Sie blieb stehen, als wollte sie ihm etwas sagen, drückte ihm ungeschickt einen Zettel in die Hand, lief ins Haus und setzte sich sofort ans Klavier.

»Kommen Sie heute um elf Uhr abends,« las Starzew, »auf den Friedhof zum Grabmal Demetti.«

– Das ist aber gar nicht klug, – sagte er sich, als er sich von seinem Erstaunen erholt hatte. – Warum auf den Friedhof? –

Es war ja klar: das Kätzchen verulkte ihn einfach. Wer wird einen zu einem Stelldichein in der Nacht, weit draußen vor der Stadt, auf dem Friedhofe laden, wenn man es so leicht auf der Straße oder im Stadtgarten machen kann? Und paßt es überhaupt für ihn, den Landarzt, den klugen und soliden Mann, so ein Mädel anzuschmachten, solche Zettelchen zu bekommen, sich auf Friedhöfen herumzutreiben und Dummheiten zu machen, über die heutzutage selbst die Gymnasiasten lachen? Wohin soll dieser Roman führen? Was werden die Kollegen sagen, wenn sie es erfahren? Das alles dachte sich Starzew, als er im Klub zwischen den Kartentischen herumirrte; um halb elf faßte er aber plötzlich den Entschluß und fuhr zum Friedhof.

Jetzt hatte er schon ein eigenes Paar Pferde und den Kutscher Pantelejmon, der eine Samtweste trug. Der Mond schien hell. Alles war still, die Luft war warm, doch von einer eigentümlichen herbstlichen Wärme. In der Vorstadt, in der Nähe des Schlachthauses heulten die Hunde. Starzew ließ seinen Wagen in einer der Gassen an der Stadtgrenze stehen und ging zu Fuß zum Friedhof. – Jeder Mensch hat seine Eigenheiten, – sagte er sich. – Auch das Kätzchen ist so sonderbar, wer weiß, vielleicht ist es ihr Ernst, und sie wird kommen. – Er gab sich dieser schwachen, eitlen Hoffnung hin, und sie berauschte ihn.

Als er eine halbe Werst durch das Feld gegangen war, sah er den Friedhof in der Ferne wie einen dunklen Streifen, wie einen Wald oder einen groben Garten liegen. Bald unterschied er auch schon die weiße Mauer und das Tor ... Beim Mondscheine konnte man die Inschrift über dem Eingang lesen: »Es kommt die Stunde, und ...« Starzew trat durch die Nebenpforte ein, und das erste, was er sah, waren die weißen Kreuze und Grabsteine zu beiden Seiten einer breiten Allee und die schwarzen Schatten, die sie und die Pappeln warfen; so weit das Auge reichte, war nur Weißes und Schwarzes zu sehen, und die schlafenden Bäume ließen ihre Zweige über das Weiße herabhängen. Hier schien es heller als draußen im Felde. Die Ahornblätter, die an Tatzen erinnerten, hoben sich scharf vom gelben Sande und den Grabplatten ab, und die Inschriften auf den Grabmälern waren deutlich zu lesen. Im ersten Augenblick war Starzew ganz bestürzt vom Anblick, der sich ihm jetzt zum erstenmal bot und den er wohl nie wieder erleben würde: eine Welt, die keiner anderen glich, eine Welt, wo das Mondlicht so schön und mild war, als ob hier seine Wiege stünde, eine Welt, wo es kein Leben gab, wo aber in jeder dunklen Pappel, in jedem Grabstein ein Geheimnis wohnte, das ein stilles, schönes, ewiges Leben verhieß. Die Grabsteine und die welken Blumen atmeten zugleich mit dem Geruch des Herbstlaubes eine Stimmung von Allverzeihung, Trauer und Ruhe.

Stille ringsum; in tiefer Demut blickten die Sterne vom Himmel herab, und die Schritte Starzews hallten unpassend laut. Und erst als die Kirchenuhr zu schlagen anfing und er sich vorstellte, wie er hier tot, für alle Ewigkeit eingescharrt liegt, kam es ihm vor, als ob ihn jemand anstarrte, und er dachte eine Weile, daß es nicht die Ruhe und nicht die Stille sei, sondern die dumpfe Trauer des Nichtseins, eine unterdrückte Verzweiflung ....

Das Grabmal Demetti war eine von einem Engel gekrönte Kapelle; in S. hatte sich einmal auf der Durchreise eine italienische Operntruppe aufgehalten; eine der Sängerinnen war hier gestorben und ruhte unter dieser Kapelle. In der ganzen Stadt erinnerte sich ihrer kaum ein Mensch, aber das Lämpchen über dem Eingang glitzerte im Mondlichte und schien zu brennen.

Niemand war da. Wer wird auch zur Mitternachtsstunde herkommen? Aber Starzew wartete. Das Mondlicht erhitzte gleichsam seine Leidenschaft, und er wartete mit Sehnsucht und träumte von Umarmungen und Küssen. So saß er etwa eine halbe Stunde am Grabmal, ging dann, den Hut in der Hand, einmal durch die Seitenalleen und dachte an die vielen Frauen und Mädchen, die hier in diesen Gräbern ruhen, die schön und bezaubernd waren, die liebten und in Liebesnächten vor Leidenschaften verbrannten. Wie grausam macht sich doch Mutter Natur über den Menschen lustig, und wie kränkend ist es, dies zu fühlen! So dachte sich Starzew und zugleich wollte er aufschreien, daß er es nicht wolle, daß er die Liebe um jeden Preis erwarte; was vor ihm schimmerte, war kein Marmor mehr, es waren schöne Körper, er sah die Formen, die sich verschämt im Schatten der Bäume versteckten, er fühlte ihre Wärme, und dieses Gefühl wurde zu einer unerträglichen Qual ....

Plötzlich fiel der Vorhang: der Mond verschwand hinter den Wolken, und alles war auf einmal dunkel. Starzew fand mit Mühe den Ausgang, – es war schon so dunkel wie in einer richtigen Herbstnacht, – und suchte dann eine halbe Stunde die Gasse, wo er seinen Wagen stehen gelassen hatte.

»Ich bin so müde, daß ich mich kaum auf den Füßen halte,« sagte er zu Pantelejmon.

Und als er sich mit einem Wohlgefühl in den Wagen setzte, dachte er sich:

– Ach, es ist wirklich nicht gut, wenn ich noch mehr zunehme! –

Die bekanntesten Novellen, Dramen und Erzählungen von Anton Pawlowitsch Tschechow

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