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Liebe auf den ersten Blick

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In der Umarmung

zwischen zwei Schritten

Tango Argentino ist mein Leben

Anton Volkov


Impressum

Texte: © Copyright by Anton Volkov

Übersetzung: © Copyright by Helena Hribar Marinšek

Verlag: Anton Volkov

Miklošičeva cesta 14

1000 Ljubljana

Slowenien

volkov_anton@hotmail.com

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Printed in Germany

Wenn du diesen Raum betrittst – und dort lange genug verweilst –, verspürst du diese gute Stimmung. Die Wärme, die Freude, die Nähe. In diesem angenehmen Raum und in allen Anwesenden verspürst du es: ich erobere die Höhen der Berge, den Berggipfel… und werde auch morgen noch dort sein.

Ich verspüre sowohl die Wärme als auch die Erbarmungslosigkeit des Parketts. Ich verspüre die Musik, die erklingende Stille mit ihrer Vielfalt an Musikinstrumenten und Sängern. Und die Tänzer, die sie tanzen. Die Stille des Geistes. Die Gemütsruhe in ihrer unermesslichen Freude und Lebendigkeit. In ihrer Sinnlichkeit, im Körper, in dessen Freude und Leid, in der Einfachheit des Augenblicks, in dem du einfach nur bist. Wo du bist und wo du nicht bist.

Ich liebe das Meer. Ich liege gern auf kleinen, verwaschenen, ovalen Steinchen an der Küste des Meeres und lausche dessen Rauschen. Ich liebe es, wenn mich der Klang des Meeres wegträgt, Welle für Welle, und alle Unannehmlichkeiten des Alltags wegspült. Ich liebe gutes Essen, Fische und Meeresfrüchte. Ich liebe Wein.

Und ich liebe Frauen.

Wenn du mich fragst, wo und wann ich leben wollte, so würde ich antworten: „Hier und jetzt.“ Gekleidet in bequeme Ledermokkasins, eine dünne fein gewebte Denimhose und ein luftiges Hemd, hellblau, eventuell sandfarben. Ich liebe unbeschwerten Komfort, das Gefühl von Luft auf der Haut und diese vollen Zuckerseiten des Augenblicks, hier und jetzt.

Vielleicht wurde ich gerade deshalb Lehrer des argentinischen Tangos. Weil ich Tango so sehr in mein Herz geschlossen hatte, weil ich zum Tango wurde. Mit all meinem Körper, mit all meinen Gedanken, mit meinem ganzen Herzen. Mein Leben – dem Tango gewidmet. Ich tanze, um zu leben, um in mir selbst frei zu sein, um zu sein.

Als ich noch sehr jung war, tanzte ich nicht. Damals widmete ich mich dem Kampfsport. Ich war immer gern Eins mit meinem Körper, fühlte ihn, beherrschte ihn meisterhaft. Seit eher liebe ich das Gefühl, dass ich mich auf meinen Körper verlassen, dass ich diesen mit vollkommener Kontrolle drillen kann. Mein halbes Leben lang kämpfte ich gegen Männer. Es waren Körper meiner Rivalen, nah an Meinem, und ich wehrte mich gegen sie. Aber die wahre Nähe eines anderen Körpers, nahe dem Meinem... diese verspürte ich erst, als ich mit dem Tangotanzen begann. Deshalb werde ich durch die zweite Hälfte meines Lebens mit Frauen tanzen.

Davor spürte ich nur Kraft. 23 Jahre meines Lebens feilte ich als Profisportler am Kyokushin Kaikan Karate, trainierte, strapazierte meinen Körper bis zum Äußersten, mit vollkommener Kontrolle über jeden Muskel und wartete nur auf den richtigen Augenblick, korrekt zuzuschlagen. Ich kämpfte. Wollte gewinnen. Und ich gewann. Ich war wie ein Tier. Ein wildes Tier. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich kämpfte.

Und dann holten mich die Jahre ein, als ich den schwarzen Gürtel ablegen musste. Meine Mitstreiter wurden immer jünger. Ich verfügte zwar über Weisheit und die Fähigkeit des Kampfes, ich hatte Kraft und das Know-how, aber auch eine Reihe an gebrochenen und schnell verheilten Rippen, einen geschlagenen, erschöpften Körper. Nach jedem Kampf brauchte ich immer mehr Zeit, Erholung und Heilung, um den Generationen an jüngeren Gegnern gewachsen zu sein, die – so wie ich einst zuvor – vehement und Hunger verspürend auf den Kampfplatz traten.

Ich begann, mein Leben neu zu sortieren, mein Training zu reduzieren, meinen Körper auf einen Ruhezustand vorzubereiten. Ich überlegte, Jugendliche und Heranwachsende auf den Kampf vorzubereiten, zu trainieren, nun deren – wie einst die eigenen – Muskeln bis zum Rande der Fähigkeiten zu strapazieren, sie gut auf die Wettkämpfe vorzubereiten, zu motivieren, zu drillen, deren Sportgeist anzuheben, deren Herzen emporzuheben, sie auf dem Weg zu selbstbewussten Männern zu begleiten. Willensstarke Männer in den Zweikampf zu schicken, junge Gladiatoren, die bereit sind, alles zu ertragen. Alles über mich selbst konnte ich nun in ihnen sehen. Sie standen vor mir, wie ein offenes Buch. Und hatten nur ein Ziel vor den Augen – den Sieg am Ende des Zweikampfes. Nur einen Gedanken  den Sieg am Ende des Kampfes. Nichts Anderes. Alles andere muss man während des Kampfes ausschalten. Dass wusste ich. Dass wussten sie. Den ganzen Schmerz, den man in seinem Gehirn bis zur Stummheit erstickt, wenn man den eigenen sich brechenden Knochen hört. Den Schmerz, der da ist, aber nicht sein darf. Den Schmerz, den man nicht zulässt. Dem man nicht lässt zu sein.

Diese Welt des Kampfes und die Anforderung nach vollkommener Verlässlichkeit des Körpers schlägt dich in den Bann, nimmt deinen Magen-Darm-Trakt ein. Du wirst Eins damit. Alle diese körperlichen Dinge sind so. Sind wahr. Sind hier und jetzt. Und es gibt nicht wirklich genügende Ausgänge, du kannst einfach nicht davor fliehen, verneinen, dass sie bestehen. Dich davon abgrenzen. Nein, du kannst dem nicht entfliehen.

Und vielleicht habe ich gerade deshalb den Tanz aller Tänze gewählt. Den Tango, den Tango Argentino, der von mir die vollkommene Widmung meiner Aufmerksamkeit meinem Körper gegenüber forderte. Als ich meinen Körper mehr und mehr kennen lernte, lernte ich ihn auch lieben, schätzen, und widmete ihm auch meinen Geist und mein Herz. Wie einst dem Karate. Er ging in meine Adern über. In der Tat, in die Adern. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, von Drogen, Zigaretten, Alkohol abhängig zu sein. Vom Würfelspiel. Vom Fernsehen. Und was es sonst noch alles gibt. Ich weiß aber, wie sich die Sucht nach dem Tango anfühlt.

Es gibt immer etwas mehr dort drinnen. Etwas, was man von sich selbst entdecken kann; was man entdeckt, wenn man mit einer Frau tanzt, auf die man reagiert, die auf einen reagiert, die deine Wellenlänge auffängt, die mit dir im Einklang steht. Dies ist wie eine Vibration. Sobald man die Vibration einfängt und frau diese einfängt, vibrieren beide in einer Umarmung. Wie bei der Liebe auf den ersten Blick.

Stell dir vor, du sitzt in deinem Cabrio, fährst spazieren. Es ist Sommer. Nicht zu heiß. Gerade die richtigen Temperaturen. Der Himmel strahlend blau. Du lauschst dem Einklang der Musik im Radio. Es ist entspannend. Auszeit. Du genießt dein Leben. Dabei fährst du durch grüne Landschaften, umgeben von blühenden Wiesen, farbenfrohen Blumen, schattenspendenden Bäumen, gebirgigen Schlupfwinkeln, engen Talengen. Und während dieser Fahrt lauschst du der Musik. Zumindest versuchst du es. Du versuchst, die Musik im Radio einzufangen. Du bist aber von Bergen umgeben. Und Berge begrenzen das Signal, das Radio krächzt. Die Musik entfernt sich. Sie ist einfach – mir nichts dir nichts – weg.

So ungefähr verläuft meine Reise im Tango, den ich tanze. Ich versuche, die Wellenlänge mit meiner Tanzpartnerin einzufangen. Uns in Einklang zu bringen. Zuerst gibt es nur mich. Und Troilo. Rodríguez. D'Agostino. D'Arienzo. Ich halte meine Partnerin in der Umarmung, sie ist da, aber noch nicht bei mir. Wir versuchen, die gleiche Wellenlänge einzufangen, in Einklang zu kommen.

Hier und da hörst du den Gesang, der sich mit anderen Radiostationen vermischt. Du erahnst den Gesang, für einige Augenblicke ist er da, um im nächsten Moment wieder zu verschwinden, zu rauschen.

Die Musik ist da, aber nicht hier. Sie versucht, sich dir zu nähern. Kämpft. Sie nähert sich. Sie bleibt dir treu, bleibt bei dir… und du weißt, sie ist gut und sie wird auf dich warten. Die Musik ist da, meine Partnerin ist da, sie versucht, sich mir zu nähern. Kämpft. Sie nähert sich. Sie bleibt mir treu, bleibt bei mir… und ich weiß, sie ist gut und sie wird auf mich warten.

Und dann... plötzlich öffnet sich der Blick in die Weite, du siehst ein weites grünes Tal, einen reinen wolkenlosen Himmel. Du verspürst den Wind in den Ohren, die frische Luft an deiner Haut, die wärmende, strahlende Sonne. Der Gesang aus dem Radio wird klar, kristallklar wie der Tropfen im Wasser des frischen Bergbaches und das Lied erklingt im Freiraum, in der Weite der Landschaft. Fein und klar. Frei. Als ob sie sich in dich einnisten würde, tief drinnen in deinem Körper, sie ist hier und bleibt hier. Sie versucht nicht zu fliehen, sie flieht nirgendwohin, weil sie hier sein möchte. Du bist im Einklang mit der Musik. Atmest ein. Atmest aus. Schließt deine Augen. Nur für einen kurzen Moment. Du genießt den Moment.

Wir sind Eins. Eins mit der Frau. Wir atmen ein. Wir atmen aus. Im Einklang mit der Musik. Schließen die Augen. Genießen den Moment. Die Umarmung. Für mich gibt es nichts Schöneres als dieses Gefühl zu erleben, wenn ich mich mit meiner Tanzpartnerin auf gleicher Wellenlänge treffe; nichts Schöneres, als das Gefühl zu verspüren, dass sie mir in meiner Umarmung vertraut und wir zusammen im Rhythmus der Musik dahingleiten.

Wie soll man da nicht süchtig werden?!

Es war aber nicht immer so. Es passierte nicht von heute auf morgen, von sich aus.

Es heißt, alles im Leben hat seinen Sinn.

In der Tat musste ich auch für meine ersten Tanzschritte kämpfen. Und vielleicht waren dies die schwierigsten Schritte meines Lebens überhaupt. Meine Beginne im Tango waren kein bisschen göttlich. Im Gegenteil. Ich verwickelte mich eher darin, nein, eigentlich stolperte ich regelrecht hinein. Und dies – sagen wir mal – ziemlich ungeschickt. Dazu etwas später… aber wie kam es überhaupt zu meiner ersten Begegnung mit dem Tango? Dem hin und weg sein? Der Liebe auf den ersten Blick?

Als ich nur noch drei- bis viermal pro Woche Karatetraining hatte, wusste ich plötzlich einfach nicht, wohin mit der vielen überschüssigen Zeit. Drei Tage Ruhezeit pro Woche können für einen bis dahin aktiven und übertrainierten Körper sehr anstrengend sein. Ich musste mich mit etwas ablenken. Um nicht zu viel in den naheliegenden Gasthäusern zu hocken, schlug einer meiner Freunde, ein Tangotänzer, mir vor, einen Abend mitzugehen. Dieser Abend sollte mein Leben verändern.

In dieser Zeit war in Moskau alles der Außenwelt und Neuem zugewandt, alles, was mit seiner Andersartigkeit mein Heimatland betrat. Wir atmeten diese neuen Dinge ein wie Damen, die begehrlich durch Parfümerien schweifen. Dies war die Zeit, als auch der argentinische Tango, der sog. Tango Argentino, seinen Weg nach Moskau fand. Valentina Ustinova lernte ihn während ihres Studiums in den Niederlanden kennen und lieben. Und als sie nach Hause zurückkehrte, vermisste sie in dem Moskauer Grau den Tango. So wurde die Idee geboren, einen kleinen Tangosalon zu eröffnen. Sie begann mit einem Dutzend an Begeisterten, die den Tango Argentino erleben wollten, die den Willen nach einem langfristigen Verhältnis zum Tango verspürten.

Es waren einige kalte russische Winter vergangen, in denen das Feuer entfachte, brannte, diese Menschen wärmte, die zu einer verbundenen und freundschaftlichen Gemeinschaft aus bereits ungefähr 150 Tangotänzerinnen und Tangotänzern, den sog. Tangueras und Tangueros, zusammengewachsen waren. Es gab also bereits eine gewisse Tangoszene in Moskau, als mich mein Freund Aslan an diesem besagten Abend einlud, ihn zu seinem Tangokurs zu begleiten. Es war der 25. Januar, der in Russland als Studententag und als Namenstag aller Tatyanas gefeiert wird. Winter. Eiskalt. Die eisglatten Straßen Moskaus bedeckt mit schmutzigem Schnee, von den Dächern der Gebäude hingen Eiszapfen, in der Luft war starke Feuchtigkeit zu verspüren, minus 15 °C. Dunkel. Sehr dunkel. Kalt. Eiskalt. Es war 19 Uhr, als wir vor dem Gebäude standen und kurz darauf den Raum betraten. Ich ohne jegliche Erwartungen. Nur neugierig wie ein Teenager, denn ich verband die ganze Sache – ich gebe es zu – doch mehr oder weniger mit einer interessanten Gesellschaft von hübschen Frauen. Von all dieser Welt des Tangos wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich viel, nur das, was mir Aslan erzählt hatte, der es bei jedem unserer Treffen immer wieder schaffte, Tango in das Gespräch einzubinden, in ein Gespräch über Gott und die Welt, das wir bei unseren allmorgendlichen Kaffees nach seinen durchgetanzten Nächten führten, an jenen Morgen, als sein Körper noch immer mit einer Art emporgehobener Energie durchtränkt war, von einer mir bis dahin unbekannten Energie, die sich regelrecht in seinen glitzernden Augen widerspiegelte und die auch ich verspüren konnte. Was auch immer wir bei diesen morgendlichen Treffen von Mann zu Mann bearbeiteten, es gelang ihm, in eine Erzählung über den Tango abzuschweifen. Ich kannte ihn und ich ahnte, dieser Tango musste es in sich haben, ich musste der Sache auf den Grund gehen. Komme, was wolle.

Und so stand ich dann da – in dem mit Tangomusik gefüllten Raum – die Musik zog mich in den Bann, sie übte eine mir bis dahin unbekannte Wirkung auf mich aus. Ich verfolgte das Lehrerpaar – den ersten Tangotanz meines Lebens. Ich war angetan. Sie tanzten einen Tanz,… zwei Tänze. Die beiden – so lernte ich später – improvisierten. Sie erzählten vieles über den Tango. Tango sei Lifestyle. Ein Gehen in der Umarmung. Ich verstand nichts. Ich hörte nur zu. Staunte. Ein Tanz, der im Augenblick entstehe, in dem hier und jetzt. Sie zeigten einige Figuren und wie sie sich verständigten. Ich war sprachlos. Vor Verwunderung erstarrt. Nein, nein. Das war unmöglich. Sie konnten das nicht ohne ein Szenario getanzt haben. Vor mir geschah eine Zauberei, etwas Wunderschönes, das mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Nein, darauf war ich nicht vorbereitet. Aber es war mir sofort klar. Das war noch besser als Karate.

Meine Anfänge… na ja, ich muss zugeben, meine ersten Schritte auf dem Tanzparkett waren nicht wirklich die Schritte eines Einhorns. Nein, sie waren etwas niederschmetternder. Da brauche ich nicht um den heißen Brei herumzureden. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich zwar noch nicht, dass man alles hinter sich lassen muss und dass man nichts Anderes mehr machen kann, als nur zu tanzen, zu tanzen und nochmals zu tanzen. Ob man an sein Unterfangen glaubt oder nicht, ob das gesamte Universum an dein Handeln glaubt oder nicht. Tanzen. So landete ich im Anfängerkurs 1. Und lernte den Lernstoff bzw. versuchte ihn zu lernen. Immer wieder von neuem. Lernte und lernte. Ich gab wirklich mein Bestes, unermüdlich wiederholte ich jede Stunde mit meiner Tanzpartnerin die Schritte: Linkes Bein nach vorne, rechtes Bein anschließen, Gewicht verlagern, …. linken Arm hochhalten, nicht zu weit nach hinten, nicht zu weit nach vorne, linke Hand in Augenhöhe der Partnerin, nicht zu fest drücken, rechte Hand auf ihrem Rücken, nicht zu sehr an dich drücken, …. die Anspannung, Verspannung, Verzweiflung waren regelrecht in der Luft zu verspüren. Wir wiederholten und wiederholten.

Aber es war unvermeidbar. Bis zum nächsten Mal hatte ich bereits alles wieder vergessen. „Das Gedächtnis verloren“, würde mein Schwiegervater sagen… Ich erinnere mich immer wieder an ihn, wenn es meinem Gehirn erfolgreich gelingt, das so hart Erlernte nachhaltig zu löschen. Die Geschichte ist nicht wirklich komisch, eher eine Science-Fiction aus meiner Jugend, die – wenn man den Worten meines Schwiegervaters glauben will – absolut auf wahrhaften Ereignissen beruht und mich noch heute zum Schmunzeln bringt. Mein Schwiegervater ging 54 Jahre lang zur Arbeit. In ein und dieselbe Fabrik: Jeden Tag die ein und dieselbe Tätigkeit. Generell nichts Verblüffendes. Aber eines Abends kam er erst um 22:00 Uhr nach Hause.

Damals arbeitete er in einer Gießerei. Und es trug sich nun mal eben zu, dass er sich nach Feierabend nach der anstrengenden Arbeit auf dem Nachhauseweg „aus Versehen“ in eine Kneipe verirrte. Es gelang ihm zwar – mehr oder weniger – diesen Irrtum gut unter Kontrolle zu halten, wenn hier die Rede von der Pünktlichkeit der Ankunft zuhause ist; allerdings lief ihm die Zeit einmal aus dem Ruder. Damals lebten meine Frau und ich – wir waren noch sehr jung – bei meinen Schwiegereltern. Und die Nachmittage, an denen wir auf ihn warteten, vergingen mehr oder weniger routiniert, vorhersehbar und ruhig. Falls er nicht mit dem Omnibus um drei nach Hause kam, kam er eben mit dem Nächsten. Mit Ausnahme an jenen Tagen, an denen er weder um fünf noch um sechs zu Hause erschien. Dann begann sich meine Schwiegermutter, Sorgen zu machen. Sie sagte zwar, sie sei nur deshalb besorgt, weil ihr Mann Herzbeschwerden habe. Ich verstand sie. Sie war nervös, ihre Beklommenheit nach außen hin äußerte sich mit einem stetig steigenden Nörgeln – bis zu jenem Moment, an dem es im Türschloss knarrte. Wenn es also nicht spätestens bis sieben am Abend im Schloss knarrte, zog sie sich um und machte sich auf den Weg – in entgegengesetzte Richtung des Nachhausewegs meines Schwiegervaters. Oft brauchte sie gar nicht so weit zu gehen. Sie fand ihn bereits im zweiten oder dritten Stockwerk unseres Wohnblocks. Ruhend auf dem Treppenpodest. Mit leerem Blick auf die grauen Wände. Manchmal war er im Treppenhaus eingeschlafen. Er hatte es also fast bis nach Hause geschafft. Wir lebten damals im sechsten Stockwerk und der Weg von der Gießerei bis zu uns nach Hause war ziemlich lang. Mit dem Omnibus eine halbe Stunde. An jenem Abend aber, als sich mein Schwiegervater so fühlte wie ich in meinen ersten Tangostunden, war er – wie ich bereits erwähnte – bis zehn Uhr am Abend nicht nach Hause gekommen. Auch auf dem Podest lag er nicht, als meine Schwiegermutter mehrmals das Treppenhaus unter uns überprüfte. Wir waren bereits sehr besorgt und diskutierten gerade darüber, ob wir ihn nun in der Stadt suchen sollten, als er durch die Tür in den Gang trat. Es reichte ein Blick. Es war uns klar, dass der Wodka sein schwaches Herz schwer getroffen hatte. Er blickte uns an und ich konnte sehen, wie er einige Augenblicke lang versuchte, irgendwie auf vernünftige Weise sein Gesicht zu wahren. Er war offensichtlich verwirrt, überrascht, als ob er sich selbst fragen würde, wo er eigentlich gelandet war. Meine Schwiegermutter war ziemlich verärgert, begab sich in seine Richtung, äußerte mit strengem Blick Worte zu den Themen Verantwortung, Gesundheit, Herz und eigenem Schmerz, als ihr Mann bestürzt aushauchte – mit Müh und Not aus sich heraus tuschelte –, er hätte hier nicht die Finger im Spiel, absolut nicht. Er sei im Omnibus gesessen, in Richtung Zuhause, Altuf'yevskoye Shosse, als er – zusammen mit dem gesamten Omnibus – von Außerirdischen gekidnappt worden sei. Ehrenwort! Man habe die gesamte Gesellschaft entführt, alle seine Freunde. Und das gesamte Gedächtnis gelöscht. Alles! Ja, wir sollen doch bitte Jurij, Sergej und Boris fragen; alle würden die gleiche Geschichte erzählen.

In meinen ersten Tangostunden hätte ich mir öfters ein festes Alibi gewünscht, so wie sich mein Schwiegervater und seine Trinkbruderschaft dieses zusammengereimt hatten. Immer wenn wir die Inhalte der vorigen Kursstunde wiederholten, war es für mich Neuland. Völliges Neuland. Ich erkannte nichts wieder. Wusste nicht, wohin mit dem linken Bein, wohin mit dem rechten. Nichts. Nada. Nada de nada. Meine Kollegen aus dem Anfängerkurs 1 besuchten mittlerweile bereits den Anfängerkurs 2; zu mir in den Anfängerkurs 1 gesellten sich neue Tangobegeisterte. Alle verließen mich nach und nach, wurden quasi versetzt in die nächste Stufe, während ich irgendwie einen Stammplatz im Anfängerkurs 1 zu haben schien. Meine Beine wie festbetoniert. Ich versuchte noch immer, das Geheimnis hinter dem Cross zu lüften. Wie ich meine Tanzpartnerin ohne mündliche Vorankündigung dahin bekommen sollte, war für mich ein großes Rätsel. Ich fühlte mich nicht gut in meiner Haut. Ich fühlte mich wie in der Folterkammer, mitten im Mittelalter. Mein Tanzselbstbewusstsein unterlag den grausamen und finsteren Ritualen in verborgenen schimmligen Kellern schlechter Gedanken, ziemlich nah am Boden, am Boden zerstört; das erste Mal im Leben geriet ich irgendwie zum wiederholten Male in ein und dieselbe Schlinge, abgesehen davon, wie ich mich bemühte, diese Erkenntnis von mir zu schütteln und etwas zu tun, was man als Fortschritt bezeichnen könnte. Wie ein scheues Reh versuchte ich Gesprächen mit meinen früheren „Mitschülern“ auszuweichen, TangoschülerInnen, die mittlerweile bereits bei den Anfängerkursen 2 und 3 und sogar schon bei den Fortgeschrittenen 1 und 2 ihre Tanzbeine schwangen. Ehrlich gesagt, die Letzten traute ich mich nicht einmal mehr zu grüßen. Es war einfach zu peinlich. Generationen von Tangueras und Tangueros überholten mich von links und von rechts. Unser Lehrer teilte in meiner Anwesenheit die Tänzer nach den Kenntnissen in Gruppen ein, und ich… rührte mich nicht vom Fleck. Traute mich nicht einmal zu fragen, wie es denn eventuell mit meinen Aufstiegschancen stünde, denn es war mir ziemlich klar, ok, zumindest das war für mich kein Neuland, dass es nicht gehen würde und dass ich definitiv nirgendwohin gehen würde. Ja… und ich wechselte auch eine schöne Anzahl an Tänzerinnen, die ich später auf den Schulmilongas bewunderte, wie sie unglaubliche Sachen ausführten, ihre Beine um sich schwangen, einmal nach hinten, dann mal wieder nach vorne, um die Knie herum… und manch eine dieser sympathischen Ladies lud mich ab und zu auch freundlich zu einem Kaffee ein. Nach der ersten Verwunderung, dass mich überhaupt jemand irgendwohin einlud, lehnte ich alle Einladungen in der Regel ab und zog mich vorsichtig zurück. Das war auf jeden Fall sicherer. Ich musste zumindest hier auf Nummer Sicher gehen. Dieser seltsame Zustand, in dem ich irgendwie in all dem gesellschaftlichen Beisammensein dieser Personen nicht anwesend war und wo ich selbst nicht wusste, wie mir geschah, man könnte es wahrscheinlich Blockade nennen, überraschte sogar mich selbst. Denn in einer anderen Umgebung hätte ich diese reizenden Ladies doch serienmäßig auf einen Kaffee, ins Kino, ans Meer, zum Skifahren eingeladen, alles auf einmal, alle auf einmal oder hintereinander. Nur ja keine Chance auslassen. Aber zu diesem Zeitpunkt meines Daseins war mein Selbstbild völlig im Schema des Umfangs meiner Tangokenntnisse eingefangen, am Boden zerstört, verbannt in dem ungeschickten Nicht-Fortschreiten, die Schritte des einst erfolgreichen Karatekämpfers eher jenen eines scheuen Rehs ähnelnd, der einst selbstbewusste Mann höflich demütigend, sich in die Erde verkriechend, auf dem Boden der Tatsache bleibend. Nein, mein Leben war kein Wunschkonzert. Weit davon entfernt.

Deshalb fiel es mir – nicht einmal im Traum – ein, zu einer Milonga, der abendlichen Tangoveranstaltung von Tangobegeisterten, zu gehen, zu einer richtigen Milonga, nicht nur zu den Schulpráctica-Milongas, wo sich TangotänzerInnen zum Üben treffen. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit dauerte sicherlich ein oder zwei Jahre. Ich hatte mehr als genug damit zu tun, ein zumindest ausreichender Tanzpartner für die von null auf beginnenden Tangobeginnerinnen zu sein. Und für einige Lektionen gelang mir dies sogar, bis auch diese – von der ersten bis zur letzten – wie in einer Staubwolke, die ein Präriemustang hinter sich lassen würde, den Anfängerkurs 1 verließen.

Ich fühlte mich wie ein zartes Pflänzchen, das immer wieder gepflanzt wird und stirbt. Und neu gepflanzt wird und erneut stirbt. So wurden die Leben von zahlreichen zarten Pflänzchen verbrannt, bis eines Tages ein zartes Wesen trotz allem am Leben blieb – und aus dem zarten Pflänzchen eine schlummernde Knospe entsprieß. Nach mehr als einem Jahr passierte es: Aus meinem Körper und völlig unbewusst entglitt meinem Körper ein verbundener Tanzversuch. Ein verbundener Tanzversuch erblickte das Licht der Welt… im Einklang mit der Musik, mit meiner Tanzpartnerin, mit mir und mit der gesamten unsichtbaren Landschaft an Unterbewusstsein, das das Steuer an sich riss und die Macht über meinen Gedächtniskrampf übernahm.

Ich sprieß aus. Ja, das ist ein gutes Wort. Ich liebe solche Wörter. Von da an begann ich zu wachsen, wie ein Baum. Ich begann, die Sache ernst zu nehmen, sie als eigene anzunehmen. Wenn ich zuvor stur ausharrte, weil ich das als Profisportler so beim Karatesport gelernt hatte, nicht einmal einen Millimeter nachzulassen, sondern bis zu jenem Zeitpunkt zu wiederholen, bis ich ein gewisses Ergebnis zeigen konnte, so begann ich von diesem Moment an wirklich zu fühlen. Wirklich zu tanzen. Ich begann Tango zu tanzen.

Dieses Glücksgefühl könnte ich auch mit dem Erfolgserlebnis an einem Getränkeautomaten vergleichen, bei dem man monatelang zwar den Knopf Nr. 74 drückt, statt der gewünschten Pepsi Cola aber immer wieder AriZona-Eistee herausbekommt. Man steht wie gelähmt da, ist einfach nicht mehr überrascht, dass man – egal was man drückt – nicht das gewünschte Getränk erhält. Und dann plötzlich, total unerwartet, kommt wie ein Wunder Pepsi Cola raus. Ja, in der Tat zahlte sich mein monatelanges beharrliches Wiederholen der ein und derselben Schritte plötzlich aus.

Wenn ich heute AnfängerInnen unterrichte, so erkenne ich mich wieder; ich betrachte mein Spiegelbild in deren fragenden Augen. Empfinde deren Gefühl nach, denn dort, wo sie heute stehen, stand einst ich… und stehe immer wieder erneut da, zusammen mit ihnen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, Neuland zu spüren, Bahnhof zu verstehen, wenn dich Außerirdische entführen, dir dein Gedächtnis löschen – wie dies mein armer Schwiegervater und seine Kollegen am jenen besagten Abend am eigenen Leib erfahren mussten. Ich sehe sie, wie sie in ihrem Gedächtnis stöbern, versuchen, den Kern der Sache zu treffen. Wir alle wissen, Übung macht den Meister. Deshalb bin ich ja so glücklich, wenn sich meine TangoschülerInnen entscheiden, mehrmals wöchentlich Tango zu lernen. So begannen auch meine Lernerfolge Fuß zu fassen.

Ich selbst erlebte es am eigenen Körper. Besuchte ich ganz zu Beginn meine Tangokurse nur ein- oder zweimal wöchentlich und ließ ich diese manchmal sogar aus, weil mir alles einfach zu viel, unerträglich wurde, so erblickte ich das Licht am Ende des Tunnels erst dann, nachdem ich begonnen hatte, die Sache etwas ernster zu nehmen und mehrmals wöchentlich zum Kurs zu gehen. Ich lernte mehrmals pro Woche, wiederholte, übte, tanzte, versuchte es immer wieder von neuem, gab nicht auf. Als ich in all diesem Geschehen etwas mehr spürte und als dieses Mehr Teil mir selbst wurde, begann ich Fortschritte zu verzeichnen, Tango zu tanzen. Vier- bis fünfmal pro Woche. Ich lernte und lernte.

Dies war der erste Wendepunkt in meinem Tangoleben. Ich hatte den Schnellzug genommen.

In der Umarmung zwischen zwei Schritten

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