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Wie ich von einem Fettnäpfchen ins nächste trat

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Zeit ist wie ein spiralförmiges Schneckenhaus. Man kann sie nicht überspringen, überholen, löschen, verlängern – alles, was man tun kann, ist, sich wie eine Schnecke dem Schneckenhaus anzupassen, und darauf zu warten, zusammen zu wachsen.

Als TangotänzerIn wirst auch du einmal die Weisheit von Aníbal Troilo hören: „El Tango te espera.“ Der Tango wartet auf dich. Das stimmt. Sachen kommen und gehen. Es kommen ständig neue Sachen. Aber du wirst sie erst dann verstehen und spüren, wenn du dafür bereit bist. Wenn in deinem Häuschen genug Platz dafür sein wird. Nachdem du lange genug ausgeharrt – lange genug geübt, getanzt, gelernt – hast, eine angemessen große Anzahl an Menschen getroffen hast, ordentlich enttäuscht oder zur Genüge begeistert nach Hause gegangen bist. Sobald du genug Durchhaltevermögen aufgewiesen, dich in genug Bescheidenheit geübt hast. In diesem Sinne wird der Tango immer auf dich warten… dich erwarten. Eine große Masse an Inhalt, die allmählich und tropfenweise in dein Bewusstsein rinnt und in deinen Körper überfließt, in alle Fasern, Zellen und Neuronen. Neue Erkenntnisse. Wie jede Weisheit. Tango ist das Leben im Kleinen. Oder im Großen. Wie man's nimmt.

Gegen Ende meines zweiten Jahres, in dem ich noch immer versuchte, dem Tango auf die Spur zu kommen, versuchte mein Tangolehrer mich dazu zu überzeugen, eine der Milongas zu besuchen. Am Kursende trat er gewöhnlich zu jedem Einzelnen von uns und lud uns mit Begeisterung zu der einen oder anderen Milonga in der Stadt und zeigte dabei – nicht im Geringsten – jegliche Spur eines Zweifels, dass jemand von uns nicht auf eine Milonga gehören würde. So verspürte auch ich nach fast zwei Jahren Lernens, wie meine Neugier langsam begann, die Angst zu verdrängen. Mein Selbstbewusstsein war anfangs zu einem Haufen Asche verbrannt, um danach zu einem Baum zu sprießen. Mein Schneckenhaus hatte eine neue Kurve genommen. Dieses Momentum wollte ich aufgreifen… einmal muss man eben den Sprung ins kalte Wasser wagen.

Als ich begann, Tango zu lernen, wurden Milongas in Moskau ziemlich selten organisiert. Höchstens mal eine alle vierzehn Tage, oder zu besonderen Anlässen. Ich wusste, dass Milongas stattfanden; allerdings spielte ich im ersten Jahr überhaupt nicht mit dem Gedanken, zu einer Milonga zu gehen. Wenn ich gegangen wäre, hätte ich mich höchstwahrscheinlich nicht davor drücken können, tanzen zu müssen. Und tanzen konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht.

Ehrfurcht – in ihrer primärsten und aufrichtigsten Form – das empfand ich Milongas gegenüber. Nur hin und wieder, und auch das nur von sehr weitem, ging ich mit einer Milonga auf Tuchfühlung.

Ich erinnere mich nicht mehr daran, wo meine erste Milonga stattfand. Wohl kann ich mich aber noch an das Lampenfieber davor erinnern. Fast schon etwas kindisch fühlte ich mich, hatte ich doch zuvor auf unzähligen Zweikämpfen die Welt bereist, und doch erwischte auch mich dieses bis dahin fremde Gefühl. Ich fühlte mich nicht auf heimischem Terrain. An jenem Abend rasierte ich mich in meinem Badezimmer und wunderte mich über mich selbst: „Was ist nur los mit dir? Vielleicht könntest du dir noch die letzte Erlösung vom Himmel erhoffen? Eine Münze werfen? Bei Kopf – Geh! Bei Zahl – Geh nicht!“ Wenn ich zu Hause bleiben würde, würde ich nur das Schmoren im eigenen Saft auf das nächste Mal verschieben. Diese süß-saure Tatsache, den Gedanken, dass ich mich früher oder später für eine Milonga werde zusammenreißen müssen, hatte ich bis zu diesem Abend in den Hintergrund geschoben, wie eine drohende Notwendigkeit, eine rituelle Initiierung, wenn der Vorhang aufgeht, wenn man das erste Mal auf die Bühne tritt, sich präsentiert, entblößt, zeigt, wer man ist und was man kann. Zum Tanguero wird… Ein letzter Blick in den Spiegel, ob ich den strengen Regeln eines Tango-Herrn entspreche. Dann machte ich mich auf den Weg.

Bereits von weitem hörte ich die Tangomusik, wie sie sich einladend und verführerisch über den Korridor zog, meinen Ohren schmeichelte. Und wie ich so in Richtung Tanzsaal schritt, verspürte ich in mir noch immer den ermüdenden Kampf zwischen den beiden Wünschen: weiterzugehen oder lieber umzukehren… Noch bevor ich es mir noch einmal überlegen konnte, stand ich vor der offenen Tür zum Tanzsaal, trat ein, und erblickte Menschen tanzen.

Ich musste alle meine verfügbaren Kräfte mobilisieren, um möglichst entspannt auszusehen. Ich setzte mich auf den ersten freien Stuhl, der in der Reihe am Rande der Tanzfläche stand. Eine lächelnde Maske überdeckte vollkommen mein gesamtes stürmisches und schwankendes Inneres. Meine Herzfrequenz hätte nur ein erfahrener Graf Dracula, der aufmerksame Jäger auf pulsierende Halsadern, bemerken können. Mein Gesicht war überzogen mit einem aus der Achillessehne gezogenen Erscheinungsbild Paul Newmans aus dessen heftigsten Höhepunkten der spannungsvollen Gelassenheit. Kurzum, dort saß ich nun, halb angelehnt mit dem Rücken an den Stuhl, halb in Alarmbereitschaft, die Beine und Hände lässig am Körper wissend, ohne meine Absichten offenzulegen, die Moskauer Tango Szene mit dem erfahrenen Blick eines Tangueros musternd, einem Blick, um den mich jeder alte Hase, jeder Carlos oder Miguel, der bereits alle Milongas dieses Planeten – nein, des Universums –, unter Dach und Fach gebracht hatte, beneiden würde.

Relativ schnell bemerkte ich auf der gegenüberliegenden Seite des Tanzsaals eine Bar. „Ach, das trifft sich ja gut“, dachte ich mir – wie ein Balsam für meinen von den Anstrengungen und dem Stress geschlagenen sowie im Adrenalin marinierten Körper. Also stand ich kurzentschlossen auf und überquerte zielgestrebt, möglichst elegant die Tanzfläche. Langsam, in einer schönen, akkuraten Geraden über die Mitte der Tanzfläche… mit meinem Ziel – die Bar – im Auge, aber doch auch auf die entgegenkommenden TänzerInnen achtend. Ich war richtig gut. Rempelte weder einen Tanguero noch eine Tanguera an. Erst später lernte ich aus der Tango-Etikette, den sog. Códigos, dass ich mich gerade mit dieser Handlung verraten – wie eine Stripteasetänzerin total entblößt – hatte.

Vielleicht standen in den Moskauer Schulen zu Beginn die Códigos – eine wesentliche, prinzipiell unausgesprochene Sammlung von Tangoregeln und -ritualen – nicht auf dem Programm. Vielleicht aber hatte ich einfach nur alles überhört. Bis zu diesem Augenblick hatte ich allerdings nicht den leisesten Schimmer von einer Tango-Etikette, wo wirklich klipp und klar steht: „Überquere nie, wirklich nie die Tanzfläche! Gehe immer den Tanzflächenrand entlang, wenn du nicht tanzt! Überquere nie die Tanzfläche! Tango ist etwas Heiliges. Tango darf nicht gestört werden!“ Jeder orthodoxe Tanguero hat diese Regel tief in seinem Unterbewusstsein verankert. So tief, dass er sogar im Falle eines Brandes, Erdbebens oder jeglicher sonstigen Naturkatastrophe, einschließlich eines Atomangriffs, den Raum immer den Tanzflächenrand entlang verlässt. Denn, vielleicht wirst auch du einmal verstehen, wahre Tangueras und Tangueros würden sogar unter solchen Randbedingungen unglücklicher Umstände ihre Tanda ungestört bis zum Ende tanzen. Davon bin ich heute überzeugt. Aber später ist man ja immer klüger.

Wie gesagt, ich war richtig stolz auf mich, wie geschickt es mir doch gelungen war, das besagte heilige mit glattem Parkettboden verlegte Gebiet bis zur Bar – quer durch die Mitte, den kürzest möglichen Weg nehmend – zu überqueren. Ich stieß mit niemandem zusammen, ich berührte niemanden. Zwischen den Tanzenden glitt ich mit der Leichtigkeit eines Samurais, was von mir das Rekrutieren aller Fertigkeiten abverlangte, die ich in meiner Karategeschichte erlernt hatte. Ich blockierte wirklich niemanden; aber in jenen endlos dauernden Sekunden konnte ich das stechende Gefühl nicht loswerden, dass mich alle bemerkt hatten. Vorwurfsvolle Blicke bohrten sich in meinen Rücken, als ich vor die Theke der Bar trat.

Meine Premiere auf der Tangoszene mit dem Überqueren der Tanzfläche wiederholte ich an diesem Abend noch einige Mal, als ich von einem Bekannten zum anderen ging und lässig plauderte. An diesem Abend tanzte ich nicht. Kein einziges Mal. Zwar versuchte ich, Ruhe zu bewahren, vorzugeben, es sei meine Entscheidung gewesen, an diesem Abend nicht zu tanzen. Allerdings stellte ich mich mit meinen bis dahin nicht existierenden Kenntnissen der Códigos in der ersten Minute meiner jungfräulichen Anwesenheit auf der Milonga bloß. Quasi jedem im Raum war sonnenklar, dass ich ein totaler Anfänger war; oder zumindest nur ein Gast, der nicht tanzen konnte, ein Eindringling auf der Bildfläche. Und das obwohl ich doch wirklich den ganzen Abend alle bis dahin ungeahnten Bemühungen einsetzte, um aus meinem Körper die letzten einfallsreichen Fertigkeiten herauszupressen, um entspannt, etwas unzugänglich auszusehen, wie ein erfahrener Tanguero, der an diesem Abend nur etwas desinteressiert am Tanzen war, nur der Musik lauschen wollte.

So kam es also, dass ich die Códigos mehr oder weniger in der Praxis lernte. Auf die nächste Gelegenheit, meine Tanzkünste zum Ausdruck zu bringen, wollte ich dann aber doch lieber etwas warten. Nach meiner ersten Milonga war mir die Lust am Neue-Erfahrungen-Sammeln etwas vergangen. Ich hielt an unseren Kursen und Prácticas fest. Ab und zu gestaltete unser Lehrer die Prácticas zu Milongas um und lud die Moskauer Tangueras und Tangueros in unsere Tangoschule ein. Für uns Tangoküken war das wesentlich einfacher, denn wir beendeten den Kurs und konnten dann vor Ort, auf der Milonga, unseren Flaum trocknen lassen. Wohl oder übel befanden wir uns mitten auf der Tanzfläche, als die restlichen Tangueras und Tangueros eintrafen.

So kam eines Abends auch eine hinreißende Dame, die ich bereits zuvor beim Tanzen bewundert hatte. Für unsere Clique war sie damals ein unerreichbarer Juwel, eine Ehrfurcht auslösende Tango-Diva, für die wir uns wohl noch lange durch den Tangolern-Dschungel würden kämpfen müssen. Ich lehnte sicher am Rand der Tanzfläche, als ich ihren Blick einfing. Mein ganzes Innere zuckte. Mein Blick glitt ruhig, mit der Beharrlichkeit eines Seemanns, der das Meer vor dem Gewitter beobachtete, weiter über den Raum. Dass es eine Mirada und ein Cabeceo gab, die spielerische Einladung zum Tanz, ohne das Gesicht zu verlieren, das wusste ich damals noch nicht. Unsere Blicke trafen sich noch einige Male. Und jedes Mal nickte sie mit dem Kopf. „Was in aller Welt…?, dachte ich bei mir. Ich hielt nach einem Bekannten Ausschau, wem auch immer, um mich in den sicheren Hafen eines Gesprächs zu verstecken, als ich direkt mit ihr – aus dem Nichts erscheinend und vor mir stehend – zusammenstieß. Sie lächelte mich mit ihrem süßen Lächeln an, wir stellten uns vor, wechselten einige höfliche Worte… und ich wollte gerade zum Small-talk-Thema Nr. 1 übergehen, die ins Land ziehende Wetterfront und den unglaublich kühlen hinter uns liegenden Sommer erörtern, als sie mich fragte: „Möchtest du mit mir tanzen?“

Ich hatte nicht wirklich Lust, meine mangelhafte Tanzvergangenheit und die ungemütliche Wahrheit über meine Jungfräulichkeit offenzulegen, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie zuvor auf einer Milonga getanzt. Noch weniger war ich gewillt, sie – diese umwerfend aussehende Tanguera – mit einem Korb zu versetzen. In letzter Minute durchströmte mich ein Gedankenblitz, dass es im Tango keine Fehler gebe, und führte dieses Juwel – angespornt durch den unerwartet zusammengenommenen Mut – auf die Tanzfläche.

Ich war beunruhigt. Ich würde mit einer richtigen Tanguera tanzen. Wow! Und zugleich neugierig darüber, was der wahre Tango sei. Heute würde ich es endlich entdecken.

Wir standen da, die Musik erklang; ich hatte das Gefühl, es werde gehen. Wir umarmten uns… und ich wollte gerade zum ersten Schritt ausholen, als sie sich mit ihrem ganzen Körper an mich lehnte. Das war keine leichte Neigung in der Umarmung, das war nicht nur ein kleiner Teil ihres Körpers, der an meinem Körper lehnte. Nein, das war die Übertragung ihrer gesamten Masse in einen nahezu horizontalen Vektor auf meine Wirbelsäule.

Wir begannen zu tanzen bzw. ich gab mein Bestes, sie – so gut es ging – rund herum durch den Tanzsaal in der Ronda zu schieben, überrascht wegen des unerwarteten Erlebnisses, mit unzähligen stechenden Fragezeichen in den Augen: Ist dieses Leiden und Unbehagen etwa dieser in Mythen und Legenden umhüllte Tanz voller Leidenschaft und das Verschmelzen zweier Herzen in eines? Dieser bulldozerartige Tanz, ich als Bulldozer,… das Marschieren von tausenden von Pferdestärken? Vielleicht ist das eine noch schwierigere Sportdisziplin als jene, der ich gerade mit aller Freude Lebewohl gesagt hatte, als ich meinen schwarzen Gürtel in eine Schublade ablegte und mit einer Leichtigkeit und Freude das Anziehen von Tanzschuhen in Angriff nahm?

Schweißgebadet war ich nach dem letzten Takt Musik gerade dabei, meine Freude darüber zum Ausdruck zu bringen, dass wir uns kennen gelernt hatten, und begann mich zu verabschieden, als sie mir mit ihrem Zeigefinger winkte: „Nein, nein, nein! Man tanzt bis zur Ende der Tanda.

Bis zum Ende von was?“ fragte ich völlig außer Atem.

Bis zum Ende der Tanda. Einer Reihenfolge von vier Liedern. Insgesamt vier. Also noch drei.

Das war eine schlechte Erfahrung. Und das war absolut nicht meine Schuld. Allerdings war ich mir dessen dann doch auch nicht mehr so sicher. Und nahm die Schuld für den erfolglosen Versuch nach tiefgründigem Überlegen auf meine Schulter. Dieser etwas unschöne Startversuch meiner Tanzkarriere störte mich dann aber doch so sehr, dass ich der Sache auf den Grund gehen wollte. Noch mehr. Ich wusste aus Erfahrungen, die ich in meinem Leben bis zu jenem Zeitpunkt gesammelt hatte, dass ich ausharren und alle Hindernisse, die mit unzureichenden Kenntnissen gleichzusetzen waren, überwinden musste. Das ist nichts anderes als ein Minenfeld, das nur jenem Zweck dient, dass man lernt, einer voreiligen Begeisterung oder Enttäuschung auszuweichen. Und ans Glück zu glauben. Ich wusste, dass – wie im Kampfsport, wo meine Bewegungen mit viel Training und Wiederholungen leicht und effektiv wurden – sich auch im Tango irgendwo am Horizont Zufriedenheit abzeichnen würde. Das wollte ich auch glauben. Obwohl ich mich an diesem Abend doch etwas entwaffnet fühlte und grübelte, wie ich in dieses Fettnäpfchen treten konnte und warum überhaupt….

Wiederum verging einige Zeit, bevor ich erneut auf die Tanzfläche trat, gefolgt von zahlreichen fehlschlagenden Tanzversuchen, intensiven Tanzkursen, schweißtreibenden Prácticas, erfrischenden Milongas,…

… und dann öffnete sich eines Tages auch für mich das Himmelstor, als ich immer häufiger Engeln begegnete, die mit mir in der Umarmung mit federleichten Schritten im Einklang mit der Musik dahinschwebten.

Ich war endlich im Tangohimmel angekommen. Fest entschlossen, weiterzumachen. Und den Tango in mir selbst zu finden.

In der Umarmung zwischen zwei Schritten

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