Читать книгу In der Umarmung zwischen zwei Schritten - Антон Волков - Страница 5

Buenos Aires

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Es war kalt in Moskau und es wehte ein eisiger Wind, als ich Ende Februar den Koffer packte. Man brauchte schon einen starken Willen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass einem die stundenlang vom Himmel fallenden Schneeflocken am Ende des Winters noch romantisch erschienen. Insbesondere in dem gestressten und verkehrsdichten Moskau, als ich auf dem Weg zum Tanzsaal durch den Schneematsch watete. Wenn man – so wie ich – ein Mensch ist, der heiße Sommer liebt, ist es im Moskauer Winter verdammt kalt. Nicht nur das, aber auch die unwiderstehliche Leidenschaft, noch mehr zu lernen und Tango zu tanzen, drang immer mehr in jede einzelne Pore meines Körpers ein, und so fiel eines Tages der Entschluss, Buenos Aires zu besuchen.

Ich bin kein Typ, der explizite Reisevorbereitungen trifft. Ich trage einige Sachen zusammen, wofür ich denke, dass ich sie dringend brauchen werde, packe sie in den Koffer, prüfe die Flüge und sitze einige Augenblicke später dann auch schon im Flieger. Das Einzige, worüber ich Informationen bei meinen Moskauer Tangolehrern einholte, waren die Kontakte von argentinischen Maestros (Spanisch für „Lehrer“), die bereits in unserer Moskauer Schule unterrichtet hatten. Ich hatte die Entscheidung getroffen: Es sollte ein intensiver Aktivurlaub werden, ein Urlaub, den ich mir körperlich, psychisch und finanziell leisten konnte. Und dieses Paket umfasste den Plan, möglichst viele gute Tangolehrer zu besuchen und dem Tango auf den Grund zu gehen.

Als ich aus dem Flieger stieg, fühlte ich mich vom ersten Augenblick an heimisch. Die Luft in der Stadt fühlte sich so gut an, wie es deren Name versprach, bueno!

Anfang März neigt sich der Sommer in Buenos Aires dem Ende zu, was aber nicht bedeutet, dass einen wesentlich abgekühlte Lufttemperaturen erwarten. Für mich gerade aus dem tiefsten Winter kommend, eine ziemliche – aber doch erwartete – Umstellung. Hatte ich mich einen Tag zuvor noch versucht, mit einem dicken, wärmenden Mantel und Schal vor dem eisigen Wind zu schützen, so schaute ich am darauffolgenden Tag sehnsüchtig nach jeglichem Windhauch Ausschau, der mir etwas Abkühlung hätte bieten können. Ich stellte also schnell fest, dass 35 °C zu meinen 35 besten Freunden werden mussten, wenn ich mich hier wohlfühlen wollte. Da ich aus einer angespannten Großstadt kam, fühlte ich mich bei der Ankunft in Buenos Aires entspannt, denn man konnte es in der Luft spüren, die Dinge verliefen hier etwas lockerer, lässiger, gewissermaßen in Zeitlupe, insbesondere wenn man die Nachmittage in einem der guten einheimischen Gasthäuser verbringt und aus dieser Perspektive das lebhafte Treiben im Hafen beobachtet. Wenn man aus einer gefährlichen Stadt kommt, so empfindet man Buenos Aires nicht als besonders gefährlich. Trotzdem wollte ich mein Schicksal nicht herausfordern und dachte mir, „OK, verdächtige Straßen meidest du mal lieber und gehst auf Nummer Sicher, wählst sichere Wege.“ Einer Sache war ich mir sicher: Schritt für Schritt würde ich mich so der Zielgeraden nähern und die Eingangspforte zum Tangohimmel finden.

Natürlich hatte ich mir vorgestellt, das gesamte Buenos Aires sei im Zeichen des Tangos; allerdings bemerkte ich den Tango in der Stadt kaum. Tango ist zwar eines der Stadtmerkmale, aber bei weitem nicht das markanteste. Man könnte dies mit Japan und den dort beliebten Sportarten vergleichen. Wir Europäer verbinden Sport in Japan sofort mit Karate oder mit Sumo oder einer anderen Kampfsportart; der Beliebtheit nach erfreut sich aber dort allen voran Baseball. Karate liegt vielleicht an vierzigster Stelle und ist keinesfalls das Maskottchen der japanischen Sportarten. So ungefähr ist es mit dem Tango in Argentinien. Oder mit der Polka in Deutschland. Alle wissen, dass es diesen Tanz dort gibt, aber keiner beschäftigt sich ernsthaft damit. Wenn man aber das Beste vom Besten im Tango sucht, dann findet man das hier. In Buenos Aires.

Bestimmte Erledigungen sind einfach Pflichtprogramm. Dem kann man kaum ausweichen. Es gehört quasi zum Usus, dass man sich hier gute Tanzschuhe kauft; und in Buenos Aires gibt es die besten Geschäfte weltweit. Das ist einfach so. Als ich das erste Mal ein solches Geschäft mit Tangoschuhen betrat, fiel mein Blick zuerst auf den in der Mitte des Geschäfts liegenden Teppich und die darauf stehende Verkäuferin. Der nächste Blick fiel auf zahlreiche unwiderstehliche, schön geformte, erstklassige Schuhe. Ich war umgeben von Farben und Designs, von allem, was ein Tanguera- oder ein Tangueroherz höher schlagen lässt. Und nachdem ich mich entschieden und einige Exemplare anprobiert hatte, folgte das obligatorische Ritual. Auf dem Teppich, der nicht nur als Blickfang diente, sondern als Schutz für die neuen Schuhe, tanzte ich Probe mit der Verkäuferin. Erst nachdem ich das gemacht hatte und mich in den ausgesuchten Schuhen gut gefühlt hatte, wusste ich, dass ich die richtigen Schuhe für mich gefunden hatte.

Man sollte aber nicht erwarten, dass das Geschäft mit den besten Schuhen in einer angenehmen, lebhaften Straße liegt. Wie ich Jahre später entdeckte, legen die wahren Meister der Schuhherstellung ziemlich wenig Wert darauf, in der Gesellschaft von Armani- und Gucci-Geschäften in den Haupteinkaufsstraßen zu sein. Man muss sie eher wie die Nadel im Heuhaufen suchen. Einer dieser für meinen Geschmack in der Menge an Tangoschuhanbietern herausragenden Anbieter ist Carlos Farroni. Ich lernte ihn über Maria Trubba, eine meiner TangolehrerInnen kennen. Carlos lebt und arbeitet im Südwesten von Buenos Aires, dem Viertel Mataderos, was auf Deutsch „Schlachthaus“ bedeutet. Kein wirklich einladender Name. Dass dieses Stadtviertel aber seinem Namen offensichtlich alle Ehre macht, erfuhr ich am eigenen Leib, als ich – nichtsahnend und meine Traumschuhe schon vor Augen – ein Taxi anhielt, die Adresse nannte und vom Taxifahrer mir nichts dir nichts eine Abfuhr erhielt: „Nein, nein, dahin fahre ich nicht!“ Es sollten mehrere solche im Sand verlaufenen Versuche folgen, bis es mir endlich gelang einen Taxifahrer davon zu überzeugen, mich doch in dieses offensichtlich verrufene Viertel zu bringen. Die Fahrt dauerte fast eine Stunde. Ich schaute mich zwar neugierig um und versuchte in meinem Taxi wissbegierig alle Eindrücke der vorbeihuschenden Häuserfassaden und Straßen sowie eilenden Menschen einzufangen, aber ich muss zugeben, je weiter hinaus aus der Stadt wir fuhren, desto mulmiger wurde mir zumute. Die entschiedenen Worte des Taxifahrers „Ich warte nur fünfzehn Minuten!“ leisteten dann auch nicht wirklich einen motivierenden Beitrag zu meiner Stimmung. Das Geräusch des laufenden Motors in den Ohren, gedanklich in dem brutalsten Krimifilm aller Zeiten, machte ich mich auf den Weg…

Ich lernte das dritte Jahr Tango, als ich das erste Mal in der argentinischen Hauptstadt war und so vieles über den Mythos Tango noch nicht wusste. Außerdem kannte ich nicht wirklich jemanden in Argentinien. Deshalb wandte ich mich an einige Russen, von denen ich wusste, dass sie dort leben. Eine hilfreiche Quelle auf meiner Entdeckungsreise durch Buenos Aires war auch die Tangozeitschrift, die sog. El Tangauta, in der ich einige Artikel zum Thema Tango lesen konnte. Damals konnte ich bereits einige Fetzen Spanisch. Aber viel mehr als 15 bis 20 Sätze waren das nicht. Wohl aber genug, um am Ende dieser Zeitschrift die Übersicht aller Tangoereignisse in der Stadt entziffern zu können.

Bei der Unterkunft hatte ich mehr Anfängerglück als Verstand. Ich suchte mir das billigste Zimmer aus und besichtigte es. Ein kleines, überschaubares, eher trostloses, aber zumindest sauberes Zimmer von ungefähr acht Quadratmetern. In der Ecke rechts hinten, deren Wände mit aus aller Herren Länder stammenden Keramikfliesen belegt waren, befand sich meine Dusche, an die linke kahle Wand gegenüber vom Fenster standen ein Bett und ein Stuhl, dicht aneinander gepresst. Kein Schrank. Kein Tisch. Einladend ist etwas Anderes. Aber die Lage dieses Loches war einfach traumhaft, mitten in Palermo Viejo, am Plaza Serrano. Deshalb mietete ich es sofort, um so nah wie möglich bei den drei bekanntesten Tangoclubs zu sein, die ich bis dahin nur vom Hörensagen kannte: La Viruta, Villa Malcolm und Salon Canning.

Was ich bei meiner Ankunft auch nicht wusste, war, dass gerade in diesem Zeitraum das C. I. T. A.-Festival begann, das Event aller Events des Tangotourismus, wohin alljährlich zahlreiche Liebhaber des Tango Argentino aus der ganzen Welt reisen.

So trat ich am Abend völlig aufgeregt in den Salon Canning und stellte mich mit der ausgewählten Tanguera sofort in die Ronda. Mirada, Cabeceo, alles war perfekt gelaufen. Ich war ziemlich erleichtert. Der Anfang war schon einmal geschafft. Aber alle meinen bis dahin gesammelten Lebenserfahrungen hatten mir kurze Zeit später nichts genützt. Ich hatte naiverweise erwartet, man würde mich mit offenen Armen erwarten. Ich war doch so weit gereist! Was danach kam, damit hatte ich nicht gerechnet.

In den darauffolgenden Sekunden machten noch ungefähr mehrere hundert TangotänzerInnen genau das Gleiche, Touristen, die so wie ich nicht wussten, dass man als erfahrene Tanguera und erfahrener Tanguero nicht zu Beginn einer Milonga an der Eingangstür steht und bis Mitternacht versucht, so viele Tandas wie möglich aufs Parkett zu legen. Auch von den Códigos hatten viele von uns nicht wirklich eine Ahnung. Die Tanzfläche ähnelte eher einem mit Autoscootern überfüllten Rummelplatz. Da stand ich nun da. Gelähmt. Überfordert. Ich versuchte, Ruhe zu bewahren. Ich konnte nicht einmal den winzigsten Schritt aller Schritte machen. In keinste Richtung. Ich war eingequetscht zwischen verschwitzten Körpern, gefesselt in einer stehenden, pulsierenden Masse in dem – angenehm abendlich – auf 29 °C gekühlten Saal. Die einzigen Anlagen, die diese erhitzte Wolke an Fleisch und Blut hätten mildern können, waren riesige Ventilatoren, die unter der Decke hängend die Dunstigkeit, den Zigarettenqualm und die Seufzer der Tangueras in einen brennenden Cocktail meines Jungfernbesuches der glorreichen Milonga in der Wiege des Tango Argentino mixten. Meine Gedanken schweiften zu dem Morgen des Vortages im kalten Moskau und ich fühlte mich so, als ob ich eine Kugel Opium verschluckt hätte – ich war genau dort, wo ich seit Monaten sein wollte. Aber…

Ich versuchte, auf kleinstem Raum zu tanzen, wie mir das meine TanzlehrerInnen beigebracht hatten, und dachte mir, man müsse verdammt gut sein, um in einer solchen Sardinenbüchse überhaupt einen Schritt machen zu können. Wären alle TangotänzerInnen wie selbstfahrende Fahrzeuge mittels intelligenter Technologie miteinander vernetzt und würden wir uns kontinuierlich elektronische Signale miteinander austauschen, gäbe es keine Zusammenstöße. Und wären wir auch noch entsprechend vorprogrammiert, um in Richtung der vorgeschriebenen Ronda zu tanzen, wären meine ersten Tandas in Buenos Aires sicherlich etwas anders ausgefallen. So aber musste ich mich ausschließlich auf meinen gesunden Menschenverstand verlassen.

Das C. I. T. A.-Festival, das in die Stadt einen dichteren Tangopuls bringt und die damit verbundene Industrie zu einem um mehrere Umdrehungen schnelleren Tempo antreibt, dauert zehn Tage. In diesem Zeitraum gastiert das Festival bei den regelmäßigen Milongas der städtischen Tangoclubs, jeden Abend in einem anderen Club. Ganze Cliquen von TangotänzerInnen aus aller Welt wandern im fliegenden Wechsel durch die Stadt.

Was ich erst später lernte, um 2 Uhr morgens treffen sich die guten einheimischen Tangueras und Tangueros im La Viruta-Club, zu jener Stunde, zu der Otto Normalbürger den Schlaf des Gerechten schläft, und dort keine Eintrittsgebühr mehr erhoben wird. Das wahre Tango-Buenos Aires kann man also in der Regel erst ab 2 Uhr nach Mitternacht erleben, aber es gibt auch einige gute Nachmittagsmilongas, wo man den traditionellen Tango erleben kann.

Einheimische wird man auf den Festivalmilongas kaum treffen. Diese machen um die Milongas im Rahmen des C. I. T. A.-Festivals einen großen Bogen, außer Jenen natürlich, die versuchen werden, ihr Geld zu verdienen.

Dazu gehören die sog. Taxis, erfahrene Tangueros, aber auch Tangueras, die gegen eine bestimmte Gebühr für einen bestimmten Zeitraum als TanzpartnerIn engagiert werden können. Dadurch kann man also für mindestens vier Stunden zu je dreißig Dollar einen guten Tanzpartner bzw. eine gute Tanzpartnerin exklusiv an seiner Seite haben. Getränke und Speisen sind im Preis nicht inbegriffen; es versteht sich jedoch von selbst, dass ein Taxi-Tanguero oder Taxi-Tanguera auch essen und trinken muss. Dazu kommt noch die Eintrittsgebühr für die Milonga. Dafür wird man dann aber bei der gewünschten Veranstaltung von einem exklusiven Tanzpartner bzw. einer exklusiven Tanzpartnerin begleitet.

Taxitänzer sind in der Regel gute Tangueros bzw. gute Tangueras, einige unter ihnen sogar sehr, sehr gute. Einer von ihnen war Luis, Argentinier, den ich in Buenos Aires kennen lernte. Der Typ tanzte wie ein Wirbelsturm, er war ein wirklich außerordentlicher Tangotänzer. Ich wunderte mich, warum um Gottes Willen er als Taxitänzer arbeiten müsse. Ich fand ihn einfach zu gut dafür. Zwei Jahre später traf ich ihn in Moskau wieder. Dieses Mal als Tangolehrer. Als Taxitänzer lernte er eine Tangolehrerin und Organisatorin von Milongas aus Moskau kennen. Diese Bekanntschaft führte zu einer Einladung, mit der Dame einen Monat in Moskau zu unterrichten. Später zog er sogar nach Russland, heiratete und ist heutzutage als anerkannter Maestro auf Tourneen durch das ganze Land unterwegs. Mittlerweile war er sogar bereits zweimal in Folge Finalist bei den Tango-Weltmeisterschaften in Buenos Aires, dem sog. Festival y Mundial de Tango. Ja, auch ein Taxitänzer kann Geschichte schreiben.

Ich stellte also fest, dass man als Tourist in Buenos Aires Einheimischen begegnet, die Tangueras und Tangueros – Taxitänzer und Maestros – sind. Das sind jene Menschen, die einen mit offenen Armen empfangen. Auch luxuriöse Hotels und Restaurants, die keinen Gourmet-Wunsch offen lassen, freuen sich über den Besuch von Touristen. Man kann ausgezeichnet essen und trinken. Gut gekühlter Champagner fließt in Kristallgläsern, wenn man sich das leisten kann. Auch richtige Taxis der Marke Mercedes heißen dich willkommen, um dich von dem einen Maestro zum anderen zu fahren, oder zur Milonga. Geschäfte mit Tanzausstattung. Hauseigentümer, die Tanzräume zu Stundensätzen vermieten. Einen Tanzraum kann man sich für die eigene Privatstunde mit dem Lehrer in Häusern, Wohnblocks, Wohnungen mieten. Manch ein Vermieter wird nur die Möbel etwas auseinander rücken und die freigeräumten Quadratmeter für die Privatstunde zur Verfügung stellen. Oder nur ein halbes Zimmer. Manchmal hat man Glück und der gewünschte Maestro höchstpersönlich wird bei sich zu Hause die Möbel zur Seite schieben, den Teppich zurückrollen, um mit dir die Privatstunde durchführen zu können. Dann braucht man keine Miete zu bezahlen.

Etwas anders gestaltet sich die Sache, wenn man eine Milonga erleben möchte, wo Einheimische tanzen, für die der Tango keinen Verdienst darstellt. Da ich diesen ursprünglichen Tango, den von den Einheimischen getanzten Tanz kennenlernen wollte, ließ ich nichts unversucht, um dem Tango auf den Grund zu kommen. Erst in Buenos Aires stellte ich fest, dass die Einheimischen den Tango eifersüchtig bei sich halten und ihn nicht mit dem Tourismus infizieren möchten. Sie nennen diese Milongas traditionelle Milongas. Dort gibt es keine Abweichungen von den strengen Tangoregeln, den Códigos. Wenn man sich auf einer solchen orthodoxen Milonga einfindet, wird man um ein Jahrhundert zurückversetzt. Erst auf den traditionellen Milongas verstand ich, im wahrsten Sinne des Wortes, wie viele Überlegungen darin investiert wurden, um die Würde jedes einzelnen Menschen, der den Tanzabend besuchte, zu bewahren. Man verständigt sich wortlos und wahrt das Gesicht. So konnte ich – und werden alle Besucher – diesen Ort des Tangoursprungs erleben: einen sehr diskreten, intimen Ort eines angenehmen Beisammenseins. Die Tanzaufforderung erfolgt nur mittels Mirada und Cabeceo. Spricht man als Mann eine Frau an und fordert sie zum Tanz auf, zieht man sich wortwörtlich selbst aus dem Verkehr, und man kann dann warten, bis einem ein langer Bart wächst. Die Chancen nach diesem Fauxpas, eine Tanda zu bekommen, liegen bei null.

Ich hatte zwar darüber gelesen, glauben konnte ich es aber erst, als ich mich mit meinen Augen selbst davon überzeugen konnte: Frauen sitzen auf der traditionellen Milonga auf der einen Seite der Tanzfläche, Männer auf der gegenüberliegenden. Als ich den Raum einer solchen traditionellen Milonga betrat, konnte ich nicht verbergen, dass ich Tourist war. Auch wies mir der Organisator einen ziemlich ungünstigen Platz zu, wodurch ich mich zusätzlich als Tourist outete. Ja, in Buenos Aires muss man sich sogar einen guten Sitzplatz erarbeiten. Erst nachdem man sich als guter Tanguero auf der Tanzfläche bewiesen hat, wird man an einen besseren Platz versetzt. Ich hätte das nie geglaubt, wenn ich das nicht am eigenen Körper erlebt hätte.

Vielleicht sehe ich nicht auf den ersten Blick wie ein Russe aus; sicherlich gelte ich aber als großer Mann mit hellem Haar, der auch als Deutscher, Norweger, Engländer oder Pole durchgehen könnte. Auf jeden Fall ähnelt mein Äußeres keinesfalls dem Äußeren eines kleinen, dunkelhaarigen Argentiniers. Eine Gelegenheit zum Tanzen bekam ich weder auf dem ersten, noch auf dem zweiten, nicht einmal auf dem dritten Besuch. Enttäuscht war ich schon. Ich hatte doch bereits 3 Jahre Tango gelernt. Aber keine der Einheimischen wollte mit mir, einem Touristen tanzen, denn eine argentinische Tanguera ist in größtem Maße davon überzeugt, dass Touristen nicht tanzen können. Dass sie den Tango nicht verstehen, denn für sie gibt es keinen Tango außerhalb Argentiniens. Es stimmt, dass die Einheimischen eine sprichwörtliche Verachtung gegenüber allen hegen, die sich in den Tango verliebten, ohne ihn – deren Überzeugung nach – leben zu können, denn uns Europäern sei der Tango nicht in die Wiege gelegt worden. Irgendwie spürte ich diesen stillen Widerstand und respektierte ihn. Es blieb mir ja nichts anderes übrig. Ich musste ihn respektieren. Ich verstand, dass die Argentinier ihre Überlieferung in einer verborgenen Schublade in deren Urform bewahren möchten. Wie eine Großmutter, die den versteckten die Erinnerung an ihre große Liebe wachrüttelnden, schon etwas vergilbten Brief eines Liebhabers aus jungen Jahren gefühlvoll zweimal jährlich in ihre zarten Hände nimmt und darüber streichelt, den Brief eines Jünglings, der bereits seit langem am anderen Ende der Welt selbst von Enkelkindern umgeben ist; diesen Liebesbrief, der noch immer das Herz erwärmt, und das Auge belebt, manchmal mit einer Träne, ein anderes Mal mit einem Funken wie damals, als die Schmetterlinge im Bauch noch frisch und munter waren.

Tief in meinem Innern bin ich überzeugt davon, dass der Tango mit all seiner Tiefe auch von einem Deutschen, Österreicher, Schweizer, Briten oder Russen gefühlt werden kann. Und auch von einem Maori, Lappen, Papua. Ich bin überzeugt davon, dass sogar ein Spartaner den Tango fühlen würde, und auch Tutanchamun Tango hätte tanzen können, wenn er einen guten Tangolehrer engagiert hätte, mit dem der Pharao vor dem frühen Ableben schnell hätte lernen können.

Ich denke, jeder Mensch kann sich im Tango niederlassen, überall und jederzeit, denn jeder sucht im Tango seinen Sinn, seine Poesie, seine Herausforderung. Letztendlich entstand er unter Menschen aus aller Welt, unter den Zuwanderern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in den tristen Nächten ihres einstigen Traumlandes eine Erlösung von den schweren Tagen in Argentinien suchten.

Den Tango betritt man wie eine Schachpartie. Man betritt eine parallele Welt, die sich in derselben Zeit und in demselben Raum des Alltags abspielt. Innerhalb dieser Realität bleibt die Welt draußen unverändert und wartet auf dich, bis du in diese zurückkehrst. In der Zwischenzeit wirst du innerhalb des Tangos von Energiewirbeln getragen, einige Augenblicke lang wirst du zu ein und demselben pochenden Herz mit allem, was ist, was war und was sein wird. Ein zeitloser Augenblick. Ich würde mir eine Knochenarbeit auferlegen, wenn ich der Zeitlosigkeit eine Ursprungsbezeichnung aufsetzen wollte.

Ich würde nicht sagen, Tango gehört Argentinien. Für mich gilt eher, Tango ist ein Geschenk Argentiniens an die Welt.

Trotz der anfänglichen ablehnenden Haltung der argentinischen Tangueras gelang es mir, mein Herz offen und willig zu bewahren und darauf zu hoffen, dass es sich eine dieser begehrten Ladies anders überlegen und mein Cabeceo annehmen würde. Ich besuchte einige Abende die Ocho Prácticas, die eigentlich Milongas waren. Kleine Milongas, wohin sich Touristen nicht verirrten. Ich beobachtete die Einheimischen beim Tanzen und versuchte, den Wiedererkennungswert meines Gesichts unter ihnen zu festigen. Etwas Strategie war dazu natürlich erforderlich; also nahm ich eine Freundin zu dieser einheimischen Milonga mit, um mit ihr tanzen zu können und sich den kritischen Blicken der argentinischen Tangueras zu stellen. Danach begann ich serienmäßig auf der Milonga La Glorieta De Belgrano zu erscheinen. Diese am Stadtrand von Buenos Aires wird hauptsächlich von jungen Tangueras und Tangueros besucht, mitten im Park unter einem altertümlichen Sommerpavillon mit einer kunstvoll gestalteten Eisenkonstruktion. Auf einer zwischen Wohnblocks und verkehrsreichen Straßen eingepressten Grünfläche liegt ein Stück Erde unter dem Dach, überdeckt mit glattem Marmorstein. Und dort versammeln sich Tangobegeisterte und tanzen Tango.

Die Atmosphäre war entspannt. Freude lag in der Luft. Eine Stunde stand ich bestimmt da, bevor eines der argentinischen Mädchen in meine Richtung nickte. Ich ging los wie ein Startschuss, als ob ich voller Stolz das olympische Feuer auf dessen letzten Etappe tragen würde – und wir tanzten. Wir tanzten gut. Ich wusste es, dass es so sein würde, ich hoffte, dass es so sein würde, denn ich hatte sie bereits mehrere Abende hintereinander vom Rande der Tanzfläche beobachtet. Es war eine jener jüngeren Einheimischen, die gewillt sind, den Tango bei Lehrern zu lernen. Die älteren Einheimischen halten nämlich an der alten Überzeugung fest, dass man den Tango auf Milongas lernt. Für meinen Geschmack tanzen sie hauptsächlich nicht schön, zumindest nach außen hin sieht es nicht schön aus. Sich diesen Einheimischen zu nähern, ist quasi eine Mission Impossible, denn sie kommen in der Gesellschaft von Freunden, Ehepartnern, Familien – und tanzen fast ausschließlich untereinander. Milonga ist für sie eine Zeit des Beisammenseins, der Unterhaltung, des Abendessens und eines guten Getränks. Hand aufs Herz, ich hätte mich ziemlich seltsam gefühlt, wenn ich versucht hätte, in deren Welt einzudringen und mein Cabeceo an eine ältere Dame um die 70 gerichtet hätte, die mit ihrem Ehegatten beim Abendessen gewesen wäre. Dabei geht es gar nicht darum, dass ich nie mit einer 70-jährigen Dame getanzt hätte; dies ist in Europa vollkommen üblich. Aber in Buenos Aires sind diese Gesellschaften doch etwas verschlossener.

Die junge Argentinierin, mit der ich an jenem Abend tanzte, war eine der besten in ihrer Mädchenclique. Ich hatte das Gefühl, als ob unter den anwesenden Mädchen eine Art Stammeshierarchie herrschte; denn sobald wir unsere Tanda zu Ende getanzt hatten und ich sie zurück an ihren Platz begleitet hatte, steckten sie wie Sportteams vor einem bedeutenden Wettkampf beinahe ritualsmäßig ihre mit eleganten Tangofrisuren verzierten Köpfe zusammen und blickten zielstrebig und selbstbewusst in meine Richtung. Nach dieser offensichtlich für mich positiv ausgehenden Beratung wollten alle mit mir tanzen. Ach, das Leben ist so schön!

Mit großer Freude und einem siegreichen Lächeln im Gesicht kehrte ich nach dieser erstmals für mich wirklich erfolgreich verlaufenden Milonga in der mit morgendlichen Dämmerung gefärbten Stadt über alte Asphaltbürgersteige glücklich und motivierter als je zuvor in meine bescheidene Kammer zurück.

Wie ich bereits erwähnte, war mein erster Aktivurlaub in Argentinien – und eigentlich auch alle darauffolgenden – als harte Schufterei ausgelegt, mit dem Ziel, alles zu entdecken, was es im Tango zu entdecken gibt. Das gesamte Projekt war also gründlich und sehr straff konzipiert. Ich hatte 30 Tage zur Verfügung und meine Kalkulation der Aktivitäten war bis zum obersten Rand vollgefüllt. Vielleicht lief das geplante Programm schon fast etwas über. Ich stand um ein Uhr am Nachmittag auf, aß, duschte, zog mich an und begab mich zu den Unterrichtsstunden bei verschiedenen Maestros der Stadt. Ich nahm täglich 4 Einzelstunden, die bis gegen 9 Uhr am Abend dauerten, erholte mich kurz, und stand um halb zehn bereits vor der Tür zur Práctica. Nach der Práctica eilte ich zu meinem Zimmer zurück, aß eine Kleinigkeit, duschte, zog mich um, um gegen Halbmitternacht auf der Milonga zu sein, und bis zum Morgengrauen zu tanzen. So verlief mein Tagesablauf an fast allen 30 Tagen, außer an zweien, an denen ich so erschöpft war, dass ich mich vor der Milonga um Mitternacht zwar nur kurz etwas hinlegen wollte, dann aber bis 4 Uhr am Morgen so fest schlief, dass mich nicht einmal die beste aller argentinischen Tangueras hätte wachküssen können. Ich wusste, dass es nun keinen Sinn mehr hatte, sich auf den Weg zu machen. Ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich diese so wertvolle Zeit mit Schlafen vergeudet hatte.

Mit diesem Tempo verschlang ich die Kenntnisse, die mir von den besten Maestros der Stadt im Einzelunterricht übermittelt wurden, und die ich mit den Tangueras und Tangueros aller Art auf den Prácticas und den Milongas wiederholen und erforschen konnte. Ich lernte, tanzte, lernte, tanzte – wie auf einem Karussell, Tag für Tag, 30 Tage lang.

Nach Moskau kehrte ich vollkommen ausgelaugt zurück. Meine Heimatstadt, die mittlerweile den Wintermantel abgelegt hatte, begrüßte mich mit zarten Blumenknospen und jungfräulich grünen Frühlingsschatten. Mein Körper und mein Geist aber schienen eingefroren zu sein, den Zustand einer vollkommenen Starre erreicht zu haben. Als mich meine Freunde fragten, was ich gelernt hatte, kam wieder das wohlbekannte Blackout zum Vorschein. Nada. Nada de nada. Ich bekam keinen einzigen Schritt zusammen. Es war einfach alles zu viel für mich. Und als ich versuchte, alles Gelernte beherrscht in mein Tanzen einzubringen, hatte ich meine erlernten Körperbewegungen nicht mehr unter Kontrolle. Und so verging ein weiterer Monat, vielleicht sogar noch mehr Zeit, bis der Klumpen Eis in meinem Körper zu schmelzen begann und alles Erlernte nach und nach langsam und sicher in meinen Körper zurücksickerte. Als ob ich gezwungen worden wäre, die gesamte Zeit, die ich meinem Körper unter größten Strapazen in Buenos Aires entzogen hatte, zurückzuzahlen. Ich hatte meine Lektion gelernt. Im Tango kann man nichts überstürzen. Es gibt keine Abkürzungen.

In der Umarmung zwischen zwei Schritten

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