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Jeremias

Der Junge war nicht so klein, wie er sich jetzt in seiner Geschichte ausgibt, wo er nicht älter als elf oder zwölf sein will, in dem Alter aber schon mit einigem Ehrgeiz zu schreiben anfängt. Der Junge war auch gar kein Junge, sondern ein Mensch von dreißig, einunddreißig Jahren, vielleicht sogar mehr. Man sieht den Menschen ja heutzutage kaum noch an, wie alt sie wirklich sind. Und mich interessiert es auch eigentlich nicht. Ich weiß nicht mal, wie alt ich bin…

Jarne

Den Mann anzusprechen hatte ich nicht auf Anhieb gewagt. Man weiß ja nie, in was man hinein gerät. Hätte er irgendwo in der Innenstadt gesessen, ein Mensch unter vielen, hätte ich es vielleicht sogar gelassen. Aber er saß dort. Gegenüber der Ampel, die fast immer rot war, wenn ich ankam, dort gegenüber auf der Bank, den Supermarkteingang im Blick. Allein. Neben ihm auf dem Asphalt lag sein Hund. Der Wagen mit seinem ganzen Kram stand etwas entfernt, aber in Sichtweite. Ich hatte schon beobachtet, dass Leute stehen blieben, um dem Mann ein paar Euro zu geben, eine Bäckereitüte, einen Becher Kaffee. Manchmal betrachteten sie auch etwas, das an einem der Griffe des Karrens baumelte und das ich etwas später als Stoffpuppe identifizierte. Die Ampel, an der ich stand und auf Grün wartete, befand sich in seinem Rücken, so dass ich das Gesicht des Obdachlosen auf der Hinfahrt nicht sehen konnte, auf der Rückfahrt schon eher und am späten Nachmittag stand er auch häufig im Hauseingang des Supermarkts, mit verschränkten Armen an der Wand lehnend oder er schlenderte die Straße hinunter. Dann konnte ich seine ungewöhnliche Erscheinung in Gänze zur Kenntnis nehmen…

Suse

Doch, mich gibt es eigentlich schon, wenn auch nicht so richtig, oder richtig ja, aber nicht so wie im Buch. Ich heiße nicht Suse und ich bin nicht die Schwester des Obdachlosen und doch habe ich mich ganz klar wiedererkannt, als ich anfing, dem Obdachlosen unten auf der Bank, dieses Kinderbuch vorzulesen. Der Autor muss mich (und mein blümchenbemaltes Fahrrad) irgendwann mal dort gesehen haben, vielleicht mal abends, als ich nach der Arbeit noch in den Supermarkt rein gesprungen bin oder sonntags auf dem Rückweg vom China-Mann, denn das Blümchenfahrrad findet sich im Text wieder. Es ist ganz eindeutig mein Fahrrad…

Der Großvater

Jarne, mein Jarne, sagte ich immer zu meinem Jungen und er wusste dann schon, was ich meinte. Dass diese Leseratte mal Schriftsteller werden würde, das war mir vollkommen klar gewesen. Schon seit ich den Jungen aufgenommen hatte, hatte ich es gewusst. Beinahe seine ganze Kindheit lang hat er sich Geschichten erdacht, wie es hätte sein können, wenn seine Eltern nicht gestorben wären. Seine Eltern wären klug und lustig und kein bisschen streng gewesen. Solche Geschichten…

Candide

Dass Hunde in einem Roman zu Wort kommen, sei unmöglich, sagte der Autor von Jarne und der Obdachlose, aber dem hätte der Hund mühelos entgegen gehalten, dass sich normalerweise im Roman auch keine Leute zu Wort meldeten, die behaupteten, sie seien die Figuren oder die vorgaben, zumindest Vorbild der Figuren gewesen zu sein und die dann auch noch ihren Senf zu dem abgäben, was über sie als angebliche Figurenvorlagen erzählt worden sei. Das wäre die erste Rede des Hundes gewesen…

Helge

Ich hatte das Buch ganz zufällig in die Hand bekommen. Ich kaufe seit Jahren alles, was mit den Begriffen obdachlos, Bettler, Penner, Biwak, Platte machen und so weiter getaggt ist und eines Tages war dieses Kinderbuch darunter gewesen.

Mein Name ist Helge Schönholz alias Urs Baumgarten. Ich habe mit dem Helge im Buch nichts zu tun, aber bin Jeremias Bruder, der richtige Bruder vom richtigen Jeremias…

Bernadette

Die Frisörin bin ich. Ich heiße zwar nicht Bernadette sondern Birgit, aber ich bin Jarne Schneiders Frisörin. Alle vier Wochen waschen, schneiden, föhnen für 32 Euro. Und dabei ein bisschen Plaudern. Mit diesem intellektuellen, komischen Menschen gar nicht so unanstrengend für mich. Die neuesten Videos auf youtube hat er nicht gesehen. Youtube interessiert ihn auch gar nicht, ich glaube, der kennt das nicht mal, so dass ihn meine Erklärung der Videos auch nicht interessiert. Das merkt man ihm auch gut an. Da tut der gar nicht erst so, als würde er sich nicht langweilen. Und jedes Gespräch endet ganz schnell wieder, weil der auch nicht in den Urlaub zu fahren scheint, keine Weihnachtsgeschenke kauft, keine Feiertagspläne hat, nicht mal Filme ansieht, zumindest nicht solche, die man auch kennt…

Der Kellner

Um den Gast, der wochenlang am Tisch Nummer 32 am Fenster gesessen hatte, hatte ich dann auch angefangen, mir so etwas wie Sorgen zu machen. Vielleicht auch nicht direkt Sorgen, aber Gedanken. Vielleicht auch nicht Gedanken. Fragen. Vielleicht waren da nur Fragen gewesen. Vielleicht auch nur die eine Frage: Was tut dieser Typ da und wieso muss es immer dieser Tisch Nummer 32 sein? Wenn der Tisch nicht frei war, ging er wieder, ohne einen anderen Tisch zu wählen. Aber es schien die Nummer 32 am Fenster zu sein, die es ihm dermaßen angetan zu haben schien und ich fing dann eben an, mir Gedanken zu machen…

Nora

Ich habe ihm schon gesagt, dass er mich ruhig hätte fragen können, bevor er meinen Namen für die große Schwester verwendet. Ich finde auch sonst viel wieder, in der Figur der großen Schwester, viel von mir, was mich eigentlich überrascht. Mich überrascht, dass er diese Eigenschaften überhaupt so wahrgenommen hatte, dass er sie jetzt hat zu Papier bringen können. Ich dachte immer, er habe mich doch gar nicht gesehen. Nicht mich jedenfalls, nicht im Innern. Nicht Nora und wer Nora eigentlich ist…

Fiete

Also mich. Mich gibt’s gar nicht. Ich bin von allen Figuren diejenige, die vom Autor komplett erfunden ist und ich frage mich, ob das nötig war. Natürlich war es nötig. Mich braucht es, um den Obdachlosen in der Kindergeschichte sympathisch zu machen, um ihm eine erzählbare Geschichte zu geben natürlich auch, und um nicht stehen lassen zu müssen, dass die Dinge halt sind wie sie sind, ohne große Geschichte dahinter. Den Gedanken, dass es womöglich keine Geschichte hinter den Dingen gibt, den ertragen Menschen nicht. Sie müssen immer versuchen, dahinter zu sehen. Hinter die Zeilen, auf der Suche nach dem verborgenen Sinn. Hinter die Geschichte, auf der Suche nach dem Autor. Hinter den Autor, auf der Suche nach den realen Menschen hinter den Figuren, die der Autor zeichnet…

Der Literaturprofessor

Er hat mich also auf Platte geschickt. Ich werte das mal als kleine Rache an mir, weil es mit mir nicht so gelaufen ist für ihn, wie er es gerne gehabt hätte. Er kann am Ende froh sein, dass er seinen Abschluss überhaupt hat und nicht selbst auf der Bank sitzt. Wobei, vielleicht tut er es sogar…

Die Puppe

Puppen haben nichts zu sagen. Sie haben keine Bedeutung. Es steckt nichts in ihnen. Keine Botschaft, kein Sinn. Sie sind nicht absurd und nicht sinnvoll. Puppen sind einfach nur.

Puppen liegen, sitzen, hängen, werden getragen. Nichts können sie selbst tun, nichts aus sich selbst heraus sein. Sie sind Materialansammlungen von Stoff, Plastik, vielleicht auch Porzellan. Aber fast nie wird eine Puppe auf den Müll geworfen. Damit bekommen sie schließlich doch ihre Bedeutung. Ich auch.

Ich bin ganz aus Stoff, runder Kopf, aufgemalte Augen, Wollhaare und die Tatsache, dass ich an dem Handkarren des obdachlosen Mannes hänge, der sich dem Autor dieses Kinderbuchs als Jeremias ausgegeben hat, statt auf dem Müll gelandet zu sein, hat schon eine Menge Neugier entfesselt…

Lebensteilchen

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