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Jarne

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Den Mann anzusprechen hatte ich nicht auf Anhieb gewagt. Man weiß ja nie, in was man hinein gerät. Hätte er irgendwo in der Innenstadt gesessen, ein Mensch unter vielen, hätte ich es vielleicht sogar gelassen. Aber er saß dort. Gegenüber der Ampel, die fast immer rot war, wenn ich ankam, dort gegenüber auf der Bank, den Supermarkteingang im Blick. Allein. Neben ihm auf dem Asphalt lag sein Hund. Der Wagen mit seinem ganzen Kram stand etwas entfernt, aber in Sichtweite. Ich hatte schon beobachtet, dass Leute stehen blieben, um dem Mann ein paar Euro zu geben, eine Bäckereitüte, einen Becher Kaffee. Manchmal betrachteten sie auch etwas, das an einem der Griffe des Karrens baumelte und das ich etwas später als Stoffpuppe identifizierte. Die Ampel, an der ich stand und auf Grün wartete, befand sich in seinem Rücken, so dass ich das Gesicht des Obdachlosen auf der Hinfahrt nicht sehen konnte, auf der Rückfahrt schon eher und am späten Nachmittag stand er auch häufig im Hauseingang des Supermarkts, mit verschränkten Armen an der Wand lehnend oder er schlenderte die Straße hinunter. Dann konnte ich seine ungewöhnliche Erscheinung in Gänze zur Kenntnis nehmen.

„Guter Platz“, erklärte Jeremias mir später. „Hier bekommt man wenigstens was ab vom Leben, paar Krumen hier und da.“

Jeremias. Ich versprach dem Obdachlosen namens Jeremias, den Schauplatz der Geschichte zu verlegen, den Hund anders zu nennen und nicht wirklich über ihn zu schreiben. Ich begann am Ende des Sommers mit der Arbeit, als es mir ohnehin zu kalt wurde, mich stundenlang neben den Mann ohne Obdach zu setzen. Und zum Winter verschwand er auch. Ich vermutete, er habe vielleicht ein Winterquartier, obwohl er mir darüber nie etwas gesagt hatte. Er hatte mir diese und viele andere Fragen nicht beantwortet und zwischendurch hatte ich die verrückte Idee, der Mann müsse ein Undercoveragent vom Geheimdienst sein, der hier in der Gegend irgendwen observierte. Nicht nur, dass er sich erstaunlich kultiviert ausdrückte, auch Kommentare über die Passanten abgab, die von tiefem Nachdenken zeugten, mir war auch aufgefallen, dass seine Schuhe ziemlich gepflegt aussahen. Gepflegter als meine jedenfalls.

Einmal hatte er mich gefragt, ob er eigentlich stänke und ich hatte gelacht, aber mir fiel in dem Moment erst auf, dass ich die Frage auch ganz gut hätte verneinen können. Seine rückenlangen, zum Zopf gebundenen Haare waren so gepflegt wie seine Hände. Selbst bei der Kleidung registrierte ich Ordnung. Die Hose war nicht einfach zerrissen, sondern geflickt. An vielen Stellen sorgfältig mit Flicken besetzt. Wenn mein Blick über die Hose glitt, die mich sehr interessierte, wurde er nervös und fragte, was es da zu sehen gäbe.

Überhaupt dieses Misstrauen. Jeremias rückte keine Information heraus, die er sich nicht vorher genau überlegt hatte. Da das Überlegen jedes Mal eine Weile in Anspruch nahm, fiel meine Ausbeute zum Schluss zwangsläufig mager aus. Tiefe Einblicke in das alltägliche Leben eines Obdachlosen hatte ich jedenfalls nicht erhalten. Ich machte sein Verschwinden im Winter dann zum Ausgangspunkt meiner Geschichte.

Die Puppe am Wagen des Obdachlosen, das Etwas, das auch manche Passanten neugierig machte, hatte mich vom ersten Augenblick an bewegt, vielleicht sogar dazu bewegt, den Obdachlosen näher in Augenschein zu nehmen, ihn schließlich anzusprechen. Jeremias verweigerte mir jede Auskunft über die Puppe, die manchmal im Wind schaukelte und die er eilig aufhob, als sie einmal sogar zu weit nach vorne gerutscht war, sich beim nächsten Windstoß gelöst hatte und in den Dreck gefallen war.

„Du brauchst meine Geschichte nicht, um dein Buch zu schreiben, falls du überhaupt eins schreibst. Du bist doch Schriftsteller, denk dir halt was aus“, sagte er.

Ich nahm den spöttischen Ton zur Kenntnis, ließ ihn aber nicht an mich ran. Über mich spotteten die meisten, ich war das gewöhnt und hatte lernen müssen, damit umzugehen. Keine Einnahmen, kein Ruf. Jeremias forderte mich auf, ihm heißen Tee vorbei zu bringen. Nur, wenn es mir nichts ausmache, sagte er, aber Tee bekäme er hier einfach nie. Die Leute würden ihm eimerweise Kaffee bringen, manche brächten ihm auch Buttermilch - er wolle doch mal wissen, wer denn bitte Buttermilch trinken könne, ohne kotzen zu müssen - aber Tee, das sei schon etwas Luxus für ihn. Aber so, sagte Jeremias, so liefe das mit den Almosen nun mal. Ein empfindlicher Magen sei nichts für einen ohne Obdach. Vorlieben erst recht nicht. Aber nach Kräutertee, sagte er, würde er sich sehnen. Alkohol dagegen käme für ihn nicht in Frage. Höchstens mal, wenn er tatsächlich nur zwei, drei Euro in der Tasche habe und wüsste, heute würde nichts mehr rein kommen. An den Feiertagen sei das so. Sonntage, die seien auch ganz schlimm. An Sonntagen sei die Standortfrage entscheidend. Kirchennähe sei noch immer ganz gut eigentlich. Das wundere ihn zwar, aber er würde diese Dinge auch schon lange nicht mehr hinterfragen, sagte er. An allen anderen Orten gäbe es sonn- und feiertags wenig, als würden sie meinen, das Elend mache Wochenende. An solchen Tagen jedenfalls käme er von den Kalorien her mit einer Flasche Bier besser zurecht als mit ein oder zwei Brötchen, erklärte er mir. Grundsätzlich aber lehne er Alkohol ab.

„Der macht mich doch wie Watte im Hirn. Ich muss aber wach sein, die Leute beobachten, um vorbereitet zu sein für das, was kommt.“ Er sagte, er beobachte die Leute schließlich nicht aus Spaß oder weil er über deren wetterabhängige Stimmungsschwankungen nachdenken wolle.

„Angepöbelt zu werden, vom Platz verwiesen, bestohlen, bedroht oder beschenkt, darauf muss ich vorbereitet sein, um reagieren zu können.“

Ich wusste, dass meine Frage naiv war, aber ich fragte dennoch, weshalb er sich auf das Beschenktwerden vorbereiten müsse. Jeremias hatte bei solchen Fragen einen ganz bestimmten Blick für mich, den ich später erst zu deuten wusste und den ich ins Buch einbrachte, wo ich den fiktiven Obdachlosen den ebenfalls fiktiven Jungen Jarne Schlaumeier nennen lasse, was der Junge nicht leiden kann.

„Ich muss doch wissen, was die Leute erwarten“, sagte der reale Obdachlose, „das bringt man sich hier auf der Straße schon gegenseitig bei oder man lernt es eben allein aus Erfahrung. Aber man lernt es schon.“ Was da gefordert sei, sagte Jeremias, das sei keineswegs immer der überschwängliche Ausbruch von Dankbarkeit. Manchmal, sagte er, sei es das kurze Nicken, das gefragt sei, nur leicht, als Zeichen, dass der Spender gesehen wurde. Das Problem der meisten Menschen, sagte er, sei, dass sie sich nicht gesehen fühlten. Die würden dann auch leicht aggressiv, wenn man nicht den Blick hebe, egal, ob sie einem Almosen gegeben hätten oder nur vorbei gingen. „Selbst wenn sie sich in der U-Bahn dir gegenübersetzen“, sagte Jeremias, „wollen sie wenigstens kurz angesehen werden, dann sind sie auch ruhig. Siehst du nicht hin, wenn sie deine Reihe betreten, geht die ganze Fahrt lang etwas Ungehaltenes von ihnen aus, das sich bei erst bester Gelegenheit entlädt. Dann pöbeln sie herum und beschimpfen meine Kleider oder meinen Geruch oder mein Dasein. Das ist peinlich.“

Hin und wieder, fuhr Jeremias fort, sei aber auch ein Lächeln das Richtige. Die Leute, die sich darüber im Klaren seien, dass sie Almosen gäben, die fühlten sich durch ein laut hinaus posauntes Danke dann erst beschämt. Es gäbe, sagte Jeremias, nur wenige, denen man die Rührung über die eigene Großzügigkeit von weitem schon ansehen könne, die den Dank des Bettlers sogar erwarteten, als könnten ein paar Cents, einen Beitrag zur Linderung der Not leisten. Oder als würde man sich mit ihren Cents heimlich ein Vermögen aufbauen, für das man ihnen dankbar sein müsste.

„Auf alles“, sagte Jeremias, „muss ich vorbereitet sein“, und er machte eine seltsame Geste, als würde er durch ein imaginäres Fernrohr sehen. „Darum entgeht mir hier nichts“, sagte er, „weil ich immer klar im Kopf bin.“

Über seinen Alltag schwieg der Mann ohne Obdach beharrlich, beantwortete mir keine meiner Fragen nach Waschgelegenheiten, medizinischer Versorgung, Winterquartier, Kleidungsbeschaffung. Warum er den Supermarkt nicht betreten dürfe, fragte ich ihn, aber er antwortete nicht.

Hin und wieder erzählte er eine Anekdote, mal eine Ausnahmesituation. Das waren Geschichten, die Jeremias mir mit leiser Stimme erzählte und von denen ich selten einschätzen konnte, ob sie wahr oder erfunden waren, erfunden, damit ich Ruhe gäbe, aber ohne mich abzuwenden. Dass ich mich nicht abwenden sollte, das spürte ich mit der Zeit. Oder glaubte es zu spüren.

Einmal sei er krank gewesen, erzählte Jeremias, Bauchschmerzen, das bliebe ja nicht aus, auch wenn er von robuster Gesundheit sei und ein bisschen Schimmel am Essen ganz gut vertrage und die Witterung ihm auch nur hier und da mal Erkältungen beschere. Aber einmal habe es ihn erwischt und er habe versucht, die sanitären Einrichtungen in einem Sportvereinsheim aufzusuchen.

Vielleicht weil Jeremias ganzer Zorn auf dieser Geschichte lag, entschied ich, den fiktiven Schauplatz meines Kinderbuchs an einen Sportplatz zu verlegen. Ihm sei sofort mit der Polizei gedroht worden, als man ihn auf der Toilette erwischt habe, die er vor Durchfall so schnell nicht habe verlassen können, erzählte Jeremias. Man müsse sich die Situation einmal vorstellen, sagte er. Du willst, aber du kannst nicht weg. Die drastische Wortwahl, in der Jeremias die Rede des Sportwarts wiedergab, wiederholte ich in der Kindergeschichte nur zum Teil.

Ansonsten nannte Jeremias mich Schnösel, als ich versuchte, ihm zu erklären, dass man im Leben nichts geschenkt bekäme. Nicht er und nicht ich. Für Nudeln und Kräutertee wären Informationen angemessen, erklärte ich ihm, Informationen, die ich verwerten könnte oder wenigstens Fotos, bat ich. Ich hätte das Buch gerne illustriert und zwar mit Fotos, weil ich zeigen wollte, dass es den Obdachlosen wirklich gab, dass er keine Fiktion war. Ich sagte: „Kräutertee gegen Fotos.“

„Schnösel“, antwortete er und schwieg beharrlich. Er sagte, er müsse vorsichtig sein, er habe Feinde. „Und entweder“, sagte er, „du gibst freiwillig, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, oder du lässt es.“ Und ob er hier und da mal einen Kräutertee bekäme, sagte er, das mache den Braten jetzt auch nicht fett. So bedeutend sei eine Kanne Kräutertee nun auch nicht.

Die Kinder interessierte am Ende ohnehin nur, wohin ich den Obdachlosen hatte verschwinden lassen und ob er wieder auftauchen würde. Fotos brauchten sie keine, sie kannten den Obdachlosen ja, der vor dem Supermarkt auf der Bank saß und der diesen großen Hund hatte, den sie alle gerne streichelten. Und also blieb ich den Sommer über mit dem Obdachlosen zusammen, fuhr so gut wie täglich bei ihm vorbei und beobachtete, was die Gesellschaft sich im Umgang mit einem Vertreter ihrer untersten Schicht so alles leistete.

Am Ende des Sommers blieb ich zu Hause oder schrieb im Café an meinem Lieblingstisch am Fenster, von dem aus ich Jeremias auf seiner Bank sitzen sah und brachte zu Papier, was ich den Sommer über beobachtet hatte.

Das Buch wurde zunächst ein Flop. Mehr als 200 Euro kamen nicht herein. Ich wollte es später noch einmal überarbeiten, mit Abstand, dachte ich, aber dann kamen viele andere Dinge dazwischen und es dümpelte zwei Jahre vor sich hin, in denen es vielleicht eine Handvoll Leser fand, aber was machte das schon. Ich schreibe nicht für Ruhm oder Geld, das hatte ich dem Obdachlosen auch erklärt und ich denke, das stimmt auch. Ich denke, wer für Ruhm oder Geld schreibt, der sollte nicht über Obdachlose schreiben.

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