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Jeremias

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Der Junge war nicht so klein, wie er sich jetzt in seiner Geschichte ausgibt, wo er nicht älter als elf oder zwölf sein will, in dem Alter aber schon mit einigem Ehrgeiz zu schreiben anfängt. Der Junge war auch gar kein Junge, sondern ein Mensch von dreißig, einunddreißig Jahren, vielleicht sogar mehr. Man sieht den Menschen ja heutzutage kaum noch an, wie alt sie wirklich sind. Und mich interessiert es auch eigentlich nicht. Ich weiß nicht mal, wie alt ich bin.

Er war irgendwann aus dem Nichts aufgetaucht, wie man so sagt, hatte plötzlich vor mir gestanden, vor meiner Bank, zwischen mir und dem Supermarkteingang, und hatte mir das bisschen Sonne geraubt, das morgens auf meine Bank gefallen war. Er hatte behauptet, er fahre oft hier vorbei. Ich hatte mich gleich gefragt, was mir diese Information jetzt bringen sollte. Ich saß auch oft hier auf dieser Bank. Und? Er war einer von tausenden Radfahrern, die täglich an mir vorbeifuhren und ich war nur ein einziger Obdachloser, an dem sein Weg in die Innenstadt ihn vorbei führte. Auf dem Weg zurück sah er mich vermutlich nicht mehr. Nachmittags vertrat ich mir gerne die Beine und schlenderte im Viertel herum. Kunststück also, wenn ich ihm, er mir aber keineswegs aufgefallen war.

Er sei Schriftsteller, hatte er mir erklärt, nachdem er gerade von seinem gepflegten und schön verkehrssicheren Rad gestiegen war. Ob es teuer gewesen sein mochte, konnte ich nicht erkennen. Ich kenne mich mit Rädern nicht aus. Sauber war es irgendwie. Später dachte ich: Es kann nicht teuer gewesen sein. Er sei Schriftsteller, aber er habe keinen Verlag oder so, sagte er. Wieso er dann Schriftsteller sei?, wollte ich von ihm wissen.

„Wenn man keinen Verlag hat, verdient man doch auch kein Geld, mit dem, was man schreibt“, sagte ich. „Warum sollte man sich dann die Arbeit machen und etwas schreiben?“

Es ginge ihm nicht darum, sagte er, um Geld oder Ruhm, falls ich das denken würde. Ich sagte, ich würde gar nichts denken, das sei nicht meine Sache. Das Denken, betonte ich noch, vielleicht, um einen Witz zu machen, ich weiß es selbst nicht. So wenig, wie ich weiß, wie alt ich bin, weiß ich, wann ich Witze mache. Der junge Mann lächelte unsicher. Er konnte auch nicht einschätzen, ob es ein Witz sein sollte, weil ich keine Miene verzog, während ich sprach. Seit ich nicht mehr in Spiegel blicke, ziehe ich auch keine Mienen mehr.

Er würde jedenfalls gerne meine Geschichte aufschreiben, beharrte der junge Mann, vor mir stehend, noch immer die Sonne abschirmend, in der ich mir gerne die Kälte der Nacht aus den Gliedern vertrieben hätte. Dass er mir die ohnehin in diesem Juli seltenen Sonnenstrahlen raubte, machte ihn mir nicht gerade sympathisch.

Sein Blick glitt über meinen ganz in der Nähe stehenden Handkarren, auf dem ich meine Habseligkeiten vertäut und verknotet hatte. Darüber würde er gerne eine Geschichte schreiben, sagte er und wandte den faszinierten Blick nur mühsam von meinem Wagen ab.

„Da gibt’s keine Geschichte“, sagte ich.

Für sein es gibt immer eine Geschichte fand ich ihn dann auch noch lächerlich, affig, albern. Schnösel, dachte ich, Freunde werden wir hier aber nicht, du.

„Was ist mit der Puppe?“, wollte der Schnösel wissen.

„Nichts ist mit der Puppe“, sagte ich, „wie heißt du eigentlich?“

„Jarne“, sagte der Schnösel und ich dachte mir später, dass er sich den Namen ausgedacht haben musste, denn der Junge im Buch würde dann genauso heißen. Als er den Namen nannte, war mir aber gleich klar, dass was mit dem Namen war, ich war ja nicht blöde. Also dachte ich na gut, du Schnösel und ich dachte mir auch einen Namen aus, das tat ich ohnehin immer, aber jetzt tat ich’s umso lieber.

„Mein Name ist Jeremias“, sagte ich.

„Interessanter Name“, sagte der Schnösel grinsend. „Bedeutungsvoll“, sagte er. Bevor er noch ironisch hätte sagen können und weil ich jetzt schon genug von dem Spiel hatte, fragte ich:

„Wovon lebst du, wenn du als Schriftsteller kein Geld verdienst?“

„Sozialhilfe“, sagte der Schnösel. Ich reagierte nicht darauf, zündete mir eine Zigarette an, mehr nicht. Entweder, er ist ein noch größerer Loser als ich, dachte ich, oder ein Genie. Aber mit Genies kannte ich mich nicht aus, so wenig wie mit Fahrrädern und Witzen.

„Hier gibt’s keine Geschichte und mit der Puppe ist nichts“, nahm ich den Faden wieder auf und beabsichtigte, ihn gleichzeitig abzuschneiden, indem ich dann noch sagte:

„Und jetzt geh mir aus der Sonne.“

„Oh, Entschuldigung“, sagte der Schnösel und trat einen Schritt zur Seite.

Er kam wieder. Am nächsten Tag kam er und brachte mir eine Thermoskanne voll Tee. Kräuter. Ich hätte gerne widerstanden, ich war ja nicht käuflich, aber ich konnte nicht, jeder ist schließlich käuflich. An heißen Kräutertee war auf der Straße kein leichtes Rankommen und schon gar nicht zum Einteilen in Thermoskannen. Ich durfte die Kanne behalten und bekam am nächsten Tag eine neue geliefert. Wieder voll. Wieder heiß. Wieder Kräuter.

Aus der Puppe, in die er sich wie ein kleines Mädchen verliebt zu haben schien, machte er dann eine ganz abstruse Story. Ich soll verheiratet gewesen sein, soll meine Frau bei der Geburt unseres Kindes verloren haben, soll mit dem Leben nicht mehr klar gekommen sein, soll daraufhin meine Arbeit, mein Kind, meine Wohnung verloren haben und auf der Straße gelandet sein. Meinetwegen. Wenn ich Einspruch eingelegt hätte, hätte er mich nur weiter genervt.

Im Laufe der Zeit brachte dieser Jarne mir hier und da etwas zu Essen oder Hundefutter für Sunny, dem er im Buch einen ganz abenteuerlichen Namen gab, was Französisches. Am meisten irritierte mich später die Geschichte meiner tausendfach geflickten Hose.

Nachdem ich den Schnösel schon Monate nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte - Sozialhilfeempfänger haben schließlich Wohnungen, in denen sie es im Winter schön warm haben - bemerkte ich zunehmend Blicke, die mir von Passanten zugeworfen wurden und Finger von Kindern, die auf meine Hose deuteten, so dass ich mich genötigt sah, das Kleidungsstück auf ein möglicherweise obszönes Loch hin zu untersuchen. Einmal fragte mich ein Mädchen, ob meine Schwester Suse die Flicken wirklich aus dem Theater mitgebracht und auf meine Hose genäht hätte. Kindern gegenüber lächele ich nur, wenn ich nicht weiß, wovon sie reden. Das hab ich schon immer so gemacht, weil Kinder mir irgendwie Angst machen. Wenn Kinder einen ansehen, muss man die Wahrheit sagen, sogar denken muss man auf einmal die Wahrheit, wenn einen der Kinderblick trifft. Darum gehe ich ihnen lieber aus dem Weg. Als mir später jemand das Buch vorgelesen hatte, fand ich die Geschichte der Hose zwar immer noch irritierend, aber dann auch amüsant. Wenn jetzt Kinder meine Hose begutachten, lache ich manchmal und sage: Es ist nicht meine Geschichte, aber ich finde, es ist eine gute Geschichte.

Im Frühling war der Schnösel wieder aufgetaucht. Er habe dieses Kinderbuch geschrieben, erklärte er mir also und er habe es zu Weihnachten kostenlos auf seiner Homepage angeboten. Die Leser sollten so viel spenden, wie ihnen das Buch und die Geschichte wert sei, erklärte er mir. Ich glaube, er war stolz auf diese Geschichte mit den Spenden. Kein Wunder, dass der von Sozialhilfe lebt, dachte ich. Er reichte mir eine Teedose, die sich leer anfühlte, hätte es darin nicht geraschelt in der Bewegung.

„Wundert mich übrigens nicht, dass es euch nicht besser geht“, sagte der Schnösel und klang jetzt nicht mehr so stolz. „Ich habe zwei Vereine zur Unterstützung von Obdachlosen kontaktiert und gefragt, was ich mit dem Spendengeld machen soll und ob wir zusammenarbeiten wollen, damit es mehr wird. Von denen hat sich keiner auch nur gerührt. Das Geld liegt jetzt seit drei Monaten bei mir rum und darum bekommst du es jetzt komplett.“

„Ich kann nichts Schlechtes daran finden, dass ich’s bekomme“, sagte ich.

Ich widerstand der Versuchung, einen Blick in die Dose zu werfen, solange der Schnösel noch dort stand, den Supermarkteingang im Rücken, aber diesmal ohne die ersten März-Sonnenstrahlen abzuschirmen.

„Willst du dich setzen?“, fragte ich und rückte meinen Rucksack ein wenig zur Seite.

„Keine Zeit“, sagte der Schnösel. „Die vom Sozialamt wollen, dass ich mich heute blicken lasse und ihnen erkläre, was ich in den letzten Monaten so getrieben habe.“

Er deutete auf das Buch, das er mir mit der Dose zusammen ausgehändigt hatte und das ich höflich in der Hand hielt.

„Das muss ich abliefern“, sagte er, „damit sie mir glauben, dass ich noch immer Schriftsteller bin und darum unvermittelbar. Ich kann halt nichts anderes als das.“

Ich nickte, vielleicht aus Einverständnis, vielleicht auch nur zum Zeichen der Kenntnisnahme, ich kann es nicht mehr genau sagen und meistens weiß ich auch nicht genau, warum ich nicke. Man nickt halt, wenn man nichts zu sagen weiß und manchmal ist es auch nur ein Zucken mit dem Kopf.

„Kriegen die auch ne Widmung?“, fragte ich nach ein paar Sekunden, in denen ich mir schweigend die vollkommen unleserliche Schrift ansah, mit der er mir irgendwas in das Buch hinein gekritzelt hatte.

„Sicher nicht“, sagte er und lachte, auch wenn ich nicht wusste, was es da zu lachen geben sollte. „Was sollte ich da wohl schreiben?“, sagte er. „Danke für die Almosen?“

Wieder nickte ich, diesmal zum Zeichen, dass ich verstand, glaube ich, denn ich glaubte zu verstehen immerhin, hob die Dose ans Ohr, schüttelte sie leicht und gestattete mir ein Lächeln in seine Richtung, das er vermutlich ebenfalls verstand oder zu verstehen glaubte, denn er nickte.

Als der Schnösel weg war, öffnete ich die Dose. Gute 20 Mittagessen, dachte ich, 40, wenn ich zurück in die Innenstadt gehe, wo es Mensen und Kantinen gibt, die Essen für fünf Euro anbieten. Von Suppenküche hatte ich schon lange die Nase voll, dieser eintönige Fraß, dachte ich. Schnösel, dachte ich und lachte leise in mich hinein, während meine Finger über die unleserliche Schrift fuhren. Selbst wenn ich hätte lesen können, hätte ich wohl nichts entziffert, soviel wusste ich von Schriften, wenn ich ansonsten auch so wenig davon wusste wie von Fahrrädern und Genies und von Witzen.

Als ich eine Anwohnerin, die über dem Supermarkt wohnte und die mir fast jedes Mal irgendwas mitbrachte, wenn sie dort einkaufen ging, bat, mir bei Gelegenheit das Buch vorzulesen, tat sie es mit wachsender Begeisterung.

„Verstehe ich das jetzt richtig“, sagte die Supermarktanwohnerin, deren Namen ich jetzt auch schon wieder vergessen habe, weil er nicht sehr bedeutungsvoll war und weil wir uns danach nie wieder mit Namen angesprochen haben, „da kommt einfach so ein Typ in dein Leben geschneit, sagt dir, ich schreibe dein Buch, bringt dir Tee und Essen, du unterhältst dich ein bisschen mit ihm und vier Monate später kommt der Typ wieder und schenkt dir 200 Euro, die er für sein Buch gesammelt hat?“

Ich nickte, vermutlich um zu sagen: Ja, so war’s. Vielleicht aber auch, weil ich grad keine Stimme hatte. War ein bisschen erkältet, da bleibt die Stimme auch mal weg.

Ich hörte der Supermarktanwohnerin ein paar Tage lang zu und dachte: Ich bin nicht mal schlecht getroffen. Wieso lebt der Kerl eigentlich von der Sozialhilfe, statt sich mal anzustrengen? Und dann dachte ich: Naja, muss ja auch jeder selbst wissen, wie er sein Leben leben will.

Als die Supermarktanwohnerin mich fragte, ob das wirklich meine Geschichte sei, sie meine, ob ich wirklich einen kleinen Sohn hätte, dem die Puppe gehört habe, war ich dann doch bedient. Die Fragerei der letzten Monate und immer wieder das mit der Puppe, das hatte mich auch gewaltig genervt. Dose hin, Dose her, die ganze Fragerei, und dass die Leute jetzt denken mochten, das sei tatsächlich ich in dem Buch, das wurde mir deutlich zu viel. Jetzt bemitleideten sie mich wegen einer erfundenen Geschichte.

„In Wirklichkeit hab ich mich mit dem nicht unterhalten“, sagte ich. „Erzählt hab ich jedenfalls nichts. Die Geschichte hat der sich ausgedacht. Der ist doch Schriftsteller. Die machen das so.“

Dass die Anwohnerin enttäuscht wirkte, war mir dann auch egal. Zu viel ist zu viel.

„Glaub mir“, sagte ich, die wahre Geschichte ist kein Kinderbuch und wenn die Puppe reden könnte, würden alle mit den Ohren schlackern. Also ist es gut, dass sie’s nicht kann und dass ich es nicht erzählen will und dass es Leute gibt, die sich Geschichten ausdenken können, die besser sind als das Leben.“

Die Anwohnerin wirkte zwar noch immer enttäuscht, sagte aber im Aufstehen: „Für mich ist es jetzt deine Geschichte.“

Als sie gegangen war, hoffte ich, sie würde mir beim nächsten Mal wieder was vom Supermarkt mitbringen, jetzt, wo sie glaubte, meine Geschichte zu kennen.

Lebensteilchen

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