Читать книгу Im Schatten des Todes - Aris Winter - Страница 2

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Prolog

Es war ein Freitagabend mitten im November. Schwacher Nieselregen fiel und ein kräftiger Wind blies durch die Strassen von Zürich. Ein regelrechter Herbststurm schien im Anmarsch zu sein. Das schlechte Wetter kam normalerweise aus dem Westen. Es zog vom nördlichen Atlantik her, über die britischen Inseln, nach Nordfrankreich bis es letztlich auch die Schweiz erreichte. Am Vortag wütete ein Orkantief über Frankreich, daher prognostizierten die Meteorologen, dass es heute die Schweiz treffen würde. Wenn auch nur in abgeschwächter Form. Auf der Webseite der französischen Tageszeitung gab es Bilder von entwurzelten Bäumen und abgedeckten Dächern. Diverse Flughäfen wurden zeitweise geschlossen. Auch das Bahn- und Strassennetz wurde vom Sturm stark beeinträchtigt. Autobahnabschnitte mussten gesperrt und über Nebenstrassen umfahren werden. Es gab dutzende Verletzte, aber glücklicherweise keine Toten. Immer wieder wirbelten leere Papiertüten und Blätter von den umliegenden Bäumen durch die Luft. Die Strassenlaternen schaukelten im Wind hin und her und die Glühbirnen flackerten teilweise so stark als würden sie nächstens durchbrennen. Ein klirrendes Geräusch der Seile, die gegen die Fahnenmasten des Vier-Sterne-Hotels peitschten, war dumpf durch die geschlossenen Fenster zu hören. Die Fahnen flatterten heftig im Wind und drohten von diesem mitgerissen zu werden. Noch trotzten sie ihm standhaft. Autos reihten sich auf der Strasse aneinander. Motoren heulten nervös auf. Räder quietschten beim Durchdrehen auf der nassen Fahrbahn. Hin und wieder ertönte ein lautes Hupen, wenn das vorderste Fahrzeug beim grünen Lichtsignal bei der Kreuzung nicht gleich losfuhr. Der Feierabendverkehr war in vollem Gange, doch die Menschen schienen nervöser zu sein als sonst. Es musste am Wetter liegen. Es war bereits dunkel und in den Fenstern der angrenzenden Häusern gingen die Lichter an. Die Menschen kamen müde und erschöpft von der Arbeit nach Hause und legten sich auf die Couch vor den Fernseher. Der Feierabend in ein stürmisches Wochenende wurde vom Kirchturm im Zentrum des Vorortes von Zürich eingeläutet. Es war sieben Uhr abends. Liam Brugger sass an seinem Laptop im Esszimmer und surfte seit gut einer Stunde durch das Internet. Er hielt seinen Kopf auf seine Hände abgestützt und liess seine Augen über die Zeilen eines Artikels gleiten. Sein blondes, kurzes Haar war zerzaust. Seine tiefblauen Augen glänzten im Licht des Bildschirms. Die Stirn lag konzentriert in Falten. Sein Dreitagebart machte einen etwas ungepflegten Eindruck und wucherte still vor sich hin. Kürzlich feierte er seinen neunundzwanzigsten Geburtstag mit einigen seiner Kollegen in einem nahegelegenen Restaurant. Es wurde gegessen, getrunken, angestossen und bis tief in die Nacht hinein gefeiert. Das Schonfristjahr, wie es seine Kollegen nannten, lief nun seit knapp einem Monat. Das letzte Jahr in welchem er noch unter dreissig sein würde. Von da an soll es angeblich abwärts gehen, ermahnten ihn seine Kollegen, ohne dabei konkrete Beispiele zu nennen. Seine Mutter prophezeite ihm bereits das Wohlstandsbäuchlein, das ihm enorme Sorgen bereitete. Beinahe täglich nach dem Duschen stellte er sich vor den Spiegel und fuhr sich mit der Hand über den flachen Bauch um zu sehen, ob er schon ein kleines Fettpolster angesetzt hatte. Sein äusseres Erscheinungsbild war ihm wichtig. Zwar war er nicht der Typ, der Dutzende Fotos von sich auf seinem Smartphone speicherte, oder irgendwelche Strandfotos in Badehose und mit Waschbrettbauch auf den sozialen Medien teilte. Dennoch mochte er sein Aussehen und betrachtete sich gerne im Spiegelbild. Obwohl er keine durchtrainierten Muskeln hatte wirkte er schlank und sportlich. Er trieb schon lange keinen aktiven Sport mehr. Früher spielte er Fussball in einem kleinen Verein. Er war ein ausgezeichneter Torhüter und träumte von einer Profikarriere, wie viele in seinem Alter, doch irgendwann kam die Zeit, wo er den Traum aufgeben musste. Er wurde zu alt und niemand interessierte sich für sein Können. Vielleicht fehlte ihm das gewisse Talent, oder er war einfach nie zur richtigen Zeit am richtigen Ort. An Neujahr dieses Jahres nahm er sich als Vorsatz, wieder regelmässig Joggen zu gehen. Er kaufte sich Laufschuhe und Sportbekleidung. Nach zwei Wochen warf er seinen Vorsatz bereits wieder über den Haufen. Die Laufschuhe lagen seither irgendwo im Keller und verstaubten. Die Sportbekleidung trug er nur noch, wenn er es sich zu Hause gemütlich machen wollte. Mit seinen knapp zwei Metern Körpergrösse lag er weit über dem Durchschnitt. Er trug ein graues Poloshirt und einen dunkelblauen Pullover darüber. Der Kragen des Polos hatte er elegant über den Kragen des Pullovers gefaltet. Die graue Sakko Hose gab einen gewissen Kontrast. Er hasste es, Kleider in den Geschäften zu kaufen. Sich in die Warteschlange vor den Umkleidekabinen zu stellen und stundenlang Kleider anzuprobieren die ihm nicht sonderlich gefielen. Doch kürzlich entdeckte er einen kleinen Onlineshop im Internet, der elegante Kleidung zu einem günstigen Preis anbot. Seither bestellte er seine Kleider nur noch dort und freute sich jeweils auf das Paket des Postboten. Am Freitag arbeitete er üblicherweise von zu Hause aus und somit begann für ihn das Wochenende bereits am Donnerstagabend. Obwohl er zu Hause produktiver arbeitete hatte er zwischendurch Freiräume, die er nutzte um Wäsche zu waschen, Kleider zu bügeln oder eine kurze Runde mit dem Staubsauger durch die Wohnung zu drehen. Doch heute musste er ausnahmsweise ins Büro, weil er eine Sitzung mit seiner Vorgesetzten hatte. Eine Besprechung über die neue Systemadministration. Eigentlich hatte er nichts gegen Sitzungen, doch er hätte lieber von zu Hause aus gearbeitet. Vor allem des schlechten Wetters wegen.

Seit er von seiner Frau verlassen wurde spürte er in regelmässigen Zeitabständen Depressionen aufkommen. Vor allem samstags und sonntags, insbesondere bei miesem Wetter, überfielen ihn diese plötzlichen Anfälle von Lustlosigkeit. Es fühlte sich an als würde er in ein imaginäres Loch gesogen und hätte nicht mehr die nötige Kraft um sich selbst wieder daraus zu befreien. Im Sommer zwang er sich üblicherweise zu einem längeren Spaziergang am nahegelegenen Fluss entlang. Der Fluss entsprang aus dem Zürichsee und verlief stadtauswärts durch ein langes Tal. Der Vorort, in welchem er wohnte, lag inmitten dieses Tals kurz vor der Kantonsgrenze. Das Flussufer befand sich nur gut hundert Meter von seiner Wohnung entfernt, direkt neben der Bahnlinie. Am Fluss war es idyllisch, ruhig und verkehrsfrei. Überall gab es kleinere Waldstücke, einzelne Bäume und Grünflächen, auf welchen man sich zur Rast setzen konnte. Einige nutzten die Flächen zum Grillen oder Picknicken, andere legten sich gemütlich auf ein Badetuch und sonnten sich. Auf dem Fluss trieben Menschen mit ihren Schlauchbooten flussabwärts bis zur kleinen Staumauer, welche sich am anderen Ende des Vorortes befand. Es gab viele Jogger und Fahrradfahrer, die am Wochenende ihre gewohnten Runden drehten. Einmal, an einem schönen Herbsttag, spazierte er bis zu seinem Arbeitsort in der Nähe des Stadtzentrums. Dieser lag etwa zehn Kilometer weit entfernt. Nur um zu sehen, ob er den Arbeitsort auch zu Fuss erreichen könnte, doch er machte sich nicht ernsthafte Gedanken diese Strecke jeden Tag zu laufen. Schon gar nicht im Winter bei eisigen Temperaturen. Seit Beginn des Novembers gab es kaum noch regenfreie Tage und die Temperaturen bewegten sich um den Gefrierpunkt. Die Meteorologen sagten bereits den ersten Schnee voraus, der bis anhin aber noch ausblieb. Liam hasste den Schnee. Besonders in der Stadt, weil er sich dort schnell einmal zu Matsch verwandelte und zur Rutschgefahr wurde. Seine Runden entlang des Flussufers wurden entsprechend kürzer und meist war er bereits nach dreihundert Metern tropfnass und zitterte am ganzen Körper. In diesen Momenten verfluchte er das Wetter auf das Übelste und trotzdem hörte der Regen einfach nicht auf. Der Fluss stieg merklich an und überschwemmte Teile des Weges und deren Unterführungen, so dass ein Durchkommen schier unmöglich war. Seine Spaziergänge kamen zu kurz und im Büro gab es kaum Möglichkeiten für einen gesunden Auslauf. Meistens sass er acht Stunden vor dem Computer und bewegte sich höchstens zum Drucker oder zur Kaffeemaschine, die bloss ein paar Fussschritte entfernt waren. Dafür kam der Griff zum Zigarettenpäckchen an diesen Tagen umso häufiger als sonst. Je länger er in der Wohnung sass, desto stärker wurde das einengende Gefühl. Es war als würde ihm nächstens die Decke auf den Kopf fallen. Da bot der Gang auf die Terrasse eine kleine Abwechslung und Frischluft. Knapp ein Jahr war es her, seit er und seine Frau die Scheidungspapiere beim Anwalt unterschrieben hatten. Im März dieses Jahres flammte noch einmal eine kurze Hoffnung auf, dass sich das Blatt ihrer Beziehung wenden würde. Doch es blieb bei der Hoffnung. Denn seine Frau hatte inzwischen einen anderen Mann kennengelernt. Noch immer wohnte er in der Viereinhalb-Zimmer-Wohnung direkt an einer Hauptstrasse des Vorortes von Zürich. Gegenüber eines Hotels. Inzwischen hatte er einige gemeinsame Bilder von ihm und seiner Frau von den Wänden abgehängt und sie mit Bildern seines Sohnes und seiner Familie ausgetauscht. Es war ein erster Versuch über sie hinweg zu kommen. Doch es klappte mehr schlecht als recht, da er seine Frau jedes zweite Wochenende sah, wenn sie ihren Sohn vorbei brachte oder ihn wieder abholte. Meist kam es zu einem kurzen Gespräch zwischen ihnen und er spürte, wie er sich wieder Hoffnung machte, wenn sie ihn dabei anlächelte oder ihm kurz auf die Schulter klopfte. Er musste sich zurückhalten wenn er den Drang verspürte, sie in den Arm zu nehmen oder ihr liebevoll über das Haar zu streichen. Sobald sie wieder weg war kam erneut die Ernüchterung und Hoffnungslosigkeit. Er merkte was er an ihr verloren hatte. Hin und wieder suchte er nach einer neuen Wohnung, doch er war nicht konsequent genug sich ernsthaft daran zu setzen. Insgeheim hoffte er, dass alles wieder so würde wie es einmal war. Dass sie eines Tages zurückkam und ihn um Verzeihung bat oder ihm eine letzte Chance gab. Er vermisste die guten, alten Zeiten. Wenn er im Internet eine freie Wohnung fand, die ihm auf den ersten Blick gefiel, dann suchte er immer irgendein Detail, das ihn davon abhielt, eine Bewerbung für die Wohnung einzureichen. Vielleicht war es auch die Angst vor der Veränderung oder vor einer Absage. Er wusste es nicht so genau. Daraufhin liess er wieder einige Tage nutzlos verstreichen und plagte sich mit Albträumen, die von seiner Frau handelten. Wenn er dann schweissgebadet aus dem Schlaf gerissen wurde fühlte er den unerträglichen Schmerz in seinem Herzen und ein flaues Gefühl in der Magengegend. Selbst die stillen Gebete zu Gott schienen nicht erhört zu werden. Er glaubte an gute Geister und an ein Leben nach dem Tod. Seine religiösen Ansichten hatten sich über die Jahre drastisch verändert. Aufgewachsen als Katholik mit einem gesunden Glauben an Gott kam er mit der Zeit immer mehr in die Berührung mit dem Buddhismus. Auch wenn er sich nicht an deren Lehren hielt gab es doch viele Punkte, in denen er eine grössere Wahrscheinlichkeit vermutete als er in den Überlieferungen der Bibel erkennen konnte. Kurz nach der Trennung hatte er begonnen, sich mit der Meditation zu beschäftigen. Er versuchte die Innere Mitte zu sich selbst zu finden. Stundenlang sass er auf seinem Bett und lauschte der esoterischen Musik, die aus seinem Kopfhörer drang. Er spürte, wie es ihm eine gewisse Ruhe verlieh. Manchmal schlief er dabei sogar ein. Doch alle Versuche, sein Inneres Licht zu finden, scheiterten kläglich. Es blieb dunkel und nichts veränderte sich. Irgendwann gab er die Selbstversuche auf. Vielleicht hatte er nicht die nötige Ausdauer oder den Willen aufgebracht, es wirklich zu wollen. Es hätte mehr Zeit benötigt, doch die wollte er sich nicht nehmen. Für ihn musste immer alles schnell gehen. Auf etwas zu warten, das ihm keine Garantie gab, auch Wirklichkeit zu werden, schien für ihn die reine Zeitverschwendung. Auch wenn er sich stark vornahm einen Psychologen aufzusuchen, blieb es meist beim Vorhaben. Er brachte nicht den nötigen Mut auf sich seinen Problemen zu stellen, stattdessen lenkte er sich mit Unwichtigem ab und vertrieb seine Zeit anderweitig. Mittlerweile glaubte er sogar, dass nicht er ein Problem hatte, sondern andere hatten ein Problem mit ihm. Mit seiner Art oder mit seiner Persönlichkeit. Er dachte oft über die letzten gemeinsamen Jahre mit seiner Frau nach. Manchmal fragte er sich, ob er wirklich so ein schlechter Ehemann war, wie alle Menschen in seinem Umfeld behaupteten. Freunde, die sich über die Zeit von ihm abgewandt hatten. Still und heimlich den Kontakt ins Leere laufen liessen, ohne sich bei ihm zu verabschieden. Keine Reaktion mehr zeigten, wenn er ihnen eine Nachricht schrieb und sie nach ihrem Befinden fragte. Er sah keine Gründe für dieses Verhalten. Sie hatten eine gute Zeit zusammen. Viel gelacht und dabei Spass gehabt. Und plötzlich waren sie einfach weg. Irgendwo im Alltag verschwunden. Es bereitete ihm Kopfschmerzen und er fühlte diese Leere in seiner Magengegend. Er stand alleine da und hatte es nicht einmal bemerkt, wie die Menschen um ihn herum langsam aus seinem Leben verschwunden waren. Dieses unerträgliche Gefühl von Selbstzweifel machte ihn verrückt.

Seit er alleine war hatte er angefangen, sich für Trading zu interessieren. Im Internet gab es zahlreiche Plattformen, auf denen er in Wertpapiere und Währungen spekulieren konnte. Als Finanzmanager einer Grossbank war er an der Quelle des Geschehens und konnte die Kurse tagsüber in Echtzeit verfolgen. Er kannte eine handvoll Arbeitskollegen, die sich damit in kürzester Zeit ein beträchtliches Vermögen aufgebaut hatten. Nicht selten verdoppelten sie mit ein paar guten Trades innerhalb von einer Stunde ihr Tagesgehalt. Trotzdem musste er feststellen, dass es sich dabei auch nur um eine Art Glücksspiel handelte. Ohne Strategie gab es keinen nennenswerten Erfolg und ihm fehlte oft das Glück. Er hätte auch ein Online-Casino besuchen oder Sportwetten abschliessen können und wäre mit höchster Wahrscheinlichkeit auf dasselbe Resultat gekommen. Das Lottospiel und die Hoffnung auf einen Millionengewinn begrub er bereits vor Jahren. Die Chancen waren derart gering, dass ihm der Preis für einen Lottoschein schlicht zu hoch war. Sein bester Freund Matt warnte ihn immer wieder vor den Risiken eines Verlustes, doch bei Liam ging Probieren über Studieren. Er glaubte, dass Matt bloss ein Weichei war, der sich nicht getraute ein Risiko einzugehen. Oder ein Heuchler, da ihn Liam manchmal dabei erwischte, wie er sich heimlich ein Gewinnlos am Kiosk kaufte und es dann unauffällig öffnete, um festzustellen, dass er wieder nichts gewonnen hatte. Liam wusste, ohne Risiko gab es auch keinen Gewinn. Wenn er wieder einmal sein Geld in den Sand setzte, dann versuchte er mit Ausreden sein schlechtes Gewissen zu besänftigen, obwohl es teilweise stärker an ihm nagte, als er es zugegeben hätte. Doch aufgeben kam für ihn nicht in Frage. Er war schon immer ein sturer Bock gewesen, wenn es darum ging, ein Ziel zu erreichen. Zumindest wenn das Ziel in einer gewissen Reichweite lag, oder er wenigstens daran glaubte. Er wollte sich aus seiner finanziellen Situation befreien, denn dies war seiner Meinung nach auch der Grund für das Scheitern seiner Beziehung. Er erinnerte sich an einen Satz, den seine Frau beim Abholen seines Sohnes einmal gesagt hatte. Sie würde am liebsten auswandern. Irgendwo in den Süden. Er fragte sie, ob sie mit ihm auswandern würde. Als sie bejahte, wusste er, dass er sie mit der Erfüllung dieses Wunsches zurückgewinnen könnte. Auch wenn es völlig absurd klang.

Mittlerweile hatte er sich eine Fertigpizza gegönnt und sich in die Welten des Tradings vertieft. Artikel um Artikel hatte er darüber gelesen. Je mehr er las, desto verwirrter schien er. Das Thema war ihm einfach zu abstrakt und er blickte nicht durch. So viele Informationen und Theorien, die er nicht verarbeiten oder denen er nicht folgen konnte. Er zweifelte an seiner Intelligenz und an seinem Verstand. Es war wie ein riesiges Puzzle, mit tausenden von Teilen, die wild verstreut auf dem Fussboden herum lagen und erst einmal sortiert werden mussten. Wie gerne hätte er diese eine Blitzidee gehabt und wäre damit reich geworden. Für immer befreit von seinen Schulden, welche sich über die Jahre mit seiner Ehefrau aufgebaut hatten. Er hätte sich ein Haus in Florida gekauft und wäre mit seiner Frau und seinem Sohn dorthin ausgewandert, um alle Sorgen hinter sich zu lassen und nochmals von vorne zu beginnen. Einen Neustart mit vielen neuen, schönen Erlebnissen, die sie erwartet hätten. Er hätte so vieles anders gemacht und seine letzte Chance voll genutzt. Ihr gezeigt, dass er doch zu mehr imstande war, als bloss in der Wohnung herum zu hängen und die Beine hochzulagern. Denn das war es, was er in den letzten Monaten ihrer Beziehung tat. Er hatte keine Kraft mehr. Keinen Willen mehr verspürt, etwas an seinem Dasein zu verändern. Die Kontrolle lag in den Händen seiner Frau und er war nur noch der stille Anwesende. Sie wollte ihm mehrmals klar machen, dass er an Depressionen litt, doch er ignorierte sie, weil er nicht wusste, wie er sich helfen sollte. Nun waren es diese Gedanken, die ihn antrieben sein Ziel zu erreichen. Doch es waren alles nur blasse Träume. Ein Blick aus dem Fenster genügte und er wurde zurück in die traurige Realität geholt. In diesen kalten, verregneten und stürmischen Novemberabend. Er beobachtete eine vorbeifliegende Plastiktüte, die beinahe auf seiner Terrasse zwischengelandet wäre, bevor sie der Wind im letzten Moment weiter trug. Sein Blick wanderte durch die Wohnung. Er lauschte der Stille im Esszimmer und hörte das Pfeifen des Windes durch die Ritze des Fensters. Auf einmal verspürte er Durst von der Pizza. Das Öl wirkte wie Feuer in seiner Kehle, das dringend gelöscht werden musste. Sein Blick wanderte über den Esstisch und suchte verzweifelt nach der Flasche Eistee. Sie hatte bloss noch einen letzten Schluck übrig. Als er die Flaschenöffnung an den Mund ansetzte und den letzten Schluck genüsslich in den Rachen kippte, sah er bereits den Plastikboden. Danach stand er auf und warf die leere Flasche in eine Plastiktüte, in welchem sich weitere leere Flaschen befanden. Er bezeichnete sich zwar nicht als Umweltschützer, doch die Flaschen trennte er vom übrigen Müll. Das hatte er von Kind auf so gelernt und für ihn ergab es auch Sinn.

Sein Durst war immer noch nicht gestillt, doch er hatte keine weitere Flasche Eistee in der Wohnung. Wohl oder übel musste er das Haus verlassen, um sich im gegenüberliegenden Supermarkt eine Neue zu kaufen. Er warf einen kurzen Blick auf seine silberne Armbanduhr, die er von seiner Frau zur Verlobung geschenkt bekommen hatte. Noch zwanzig Minuten bis Ladenschluss. Danach gäbe es nur noch Wasser aus dem Hahn und darauf hatte er keine Lust, obwohl es weitaus gesünder gewesen wäre. Gedanklich sah er erneut seinen Kollegen Matt vor sich, der seit ein paar Jahren ausschliesslich Wasser trank. Immer wenn er bei ihm zu Besuch war und dort übernachtete musste er sich überwinden, das öde, bittere Wasser aus dem Hahn zu trinken. Nicht selten erwachte er mitten in der Nacht auf dessen Couch und verspürte die unbändige Lust nach einem Süssgetränk. Doch er wusste sofort, dass es bei Matt bloss Wasser gab.

Liam band sich den Schal um den Hals, streifte sich die Jacke über und zog sich die Schuhe an. Mit einem kurzen Griff an die hintere Hosentasche versicherte er sich, dass er seine Geldbörse eingesteckt hatte. Nicht selten kam es vor, dass er erst an der Kasse bemerkte, dass seine Geldbörse zu Hause lag. Eine unglaublich peinliche Situation. Der Supermarkt befand sich nur wenige Gehminuten von seiner Wohnung entfernt, auf der anderen Strassenseite. Über dem Supermarkt gab es moderne, grosse und helle Eigentumswohnungen, die sich parallel der Strasse entlang zogen. Die Hälfte der Wohnungen standen jedoch leer, da die Mieten in den letzten Jahren ins Unermessliche gestiegen waren. Eine Familie mit Kindern konnte sich diese Preise nicht mehr leisten. Stattdessen zogen sie in Altbauwohnungen, in ländliche Gegenden oder bauten sich gleich selbst ein Haus nach ihren Wünschen und Bedürfnissen. Liam hörte es von seinen Arbeitskollegen aus dem Immobiliensektor, die täglich damit rechneten, dass es bald zum gefürchteten Platzen der Immobilienblase käme. Einige von ihnen rieben sich bereits aufgeregt die Hände, in der Hoffnung auf einen günstigeren Mietzins. Doch die Preise waren noch immer im unermüdlichen Steigflug.

Draussen prasselte ihm der kalte Regen ins Gesicht. Der Wind blies ihm um die Ohren und er zog den Kragen seiner Jacke schützend über das Halstuch. Die Böen waren teilweise so stark, dass er wie ein Betrunkener über den Bürgersteig torkelte. Niemand kam ihm entgegen. Der Bürgersteig schien wie ausgestorben. Unter dem runden Vordach des Eingangs zum Hotel stand eine kleine Gruppe von Hotelgästen, die eine Zigarette rauchten und das stürmische Wetter beobachteten. Ein leerer Reisebus stand auf dem Parkplatz vor dem Hoteleingang und schaukelte im Wind leicht hin und her.

Der Supermarkt war klein und überschaubar. Die Lebensmittel waren hier deutlich günstiger als in den üblichen, grösseren Supermärkten, da die Produkte vorwiegend aus dem nahen Ausland importiert wurden. Er ging durch die Schiebetüre und warf einen Blick durch die leeren Gänge. Es gab kaum noch Kunden. Die Regale sahen aus als wären sie soeben geplündert worden. Einige Mitarbeiter waren bereits mit dem Aufräumen beschäftigt und stapelten reihenweise Kisten aufeinander. Eine vorbeigehende Mitarbeiterin musterte ihn auffällig, als wäre sie überrascht, dass es noch Kunden gab. In den Fruchtkörben lag ein letzter Haufen verfaulter Früchte. Als er daran vorbei ging flogen ihm ein paar Fruchtfliegen entgegen. Er fuchtelte mit den Händen wild vor seinem Gesicht herum. In den Brotkörben herrschte gähnende Leere. Die letzten Brote vom Morgen wurden in einem separaten Korb vor der Kasse zum halben Preis verkauft. Eine letzte Flasche Eistee stand auf einem einsamen Palette, so als ob sie nur auf ihn gewartet hätte. Mit der Flasche in der Hand ging er zur Kasse und schaute einer müde dreinblickenden Kassiererin in die Augen, die nur darauf wartete, endlich Feierabend zu machen. Versehentlich tippte sie die Flasche zweimal und entschuldigte sich gleichgültig dafür. Er drückte ihr das Geld in die Hand und machte sich auf den kurzen Rückweg. Neben dem Supermarkt befand sich eine Apotheke, die bereits geschlossen hatte. Er warf einen Blick in das schwach beleuchtete Schaufenster. Diverse Pflegeprodukte standen in einem Regal, bereit für die nächsten Kunden. Danach überquerte er den Zebrastreifen, der im schwachen Licht der Strassenlaterne, die noch immer heftig flackerte, kaum sichtbar war. Nachdem er die Strasse überquert hatte, welche sich zwischen seiner Wohnung und dem Supermarkt entlang zog, hörte er auf einmal schnelle Schritte hinter sich. Er beschleunigte seinen Gang, da ihm der Regen nach wie vor ins Gesicht prasselte. Die Schritte hinter ihm wurden ebenfalls schneller. Er vermutete, dass es die Schritte eines Kindes waren, das beinahe rannte. Doch da waren noch weitere Schritte im Hintergrund. Durch die rauschenden Geräusche der Umgebung konnte er nicht eindeutig sagen, wieviele es waren. Dann hörte er eine ihm bekannte Stimme über dem Rauschen des Windes und den vorbeifahrenden Autos.

“Papa, warte”. Er drehte sich nicht um und wollte zum Hauseingang gelangen, der nur noch wenige Meter von ihm entfernt war. Das Gemisch aus Regen und Kälte wurde unerträglich und seine Jacke war bereits durchnässt. Er hörte eine zweite Stimme. Eine weibliche Stimme. Sie war ihm ebenfalls bekannt. Doch sie rief nicht nach ihm, sondern nach ihrem Sohn. Er konnte die Worte, die sie sagte, nicht verstehen. Es war bloss ein undeutliches Gemurmel. Kurz vor dem Hauseingang griff er in seine Jackentasche und zog den Schlüssel hervor. Er erreichte die Überdachung des Hauseinganges, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Türe zum Treppenhaus. Nun drehte er sich um und erblickte seinen dreijährigen Sohn, gefolgt von seiner Frau. Bevor er etwas sagen konnte drückte sie ihn ins Innere des Treppenhauses und schloss die Türe hinter sich zu.

Im Schatten des Todes

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