Читать книгу Im Schatten des Todes - Aris Winter - Страница 4
ОглавлениеJagd und Flucht
Nach einer schier endlos langen Nacht wurde es draussen wieder hell. Der Himmel war wolkenverhangen und es regnete noch immer. Mit dem Tageslicht hatte auch die Stärke des Windes wieder zugenommen. Es pfiff erneut durch die Ritzen des Fensters. Die Couch war ungemütlich und er spürte einen leichten Schmerz im Nacken. Er warf einen Blick ins Kinderzimmer und musste feststellen, dass sich in den letzten Stunden nichts verändert hatte. Glasscherben lagen über dem Fussboden verstreut herum. Das Fenster stand weit offen. Unter dem Fenster sammelte sich Regenwasser zu einer Pfütze und der Vorhang war vom Wind arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Das Bett stand leer und die Decke lag noch genau so zusammengefaltet auf der Matratze, wie sie Liam am Freitag zurückgelassen hatte. Ansonsten gab es keine Hinweise auf eine Entführung. Keine Schuhabdrücke, keine Stofffasern, keine auffälligen Gegenstände, nicht einen einzigen Anhaltspunkt. Vielleicht hätte die Spurensicherung der Polizei einen Hinweis liefern können, doch das Telefon lag mittlerweile kaputt in der Regenpfütze und liess sich nicht mehr einschalten. Er fragte sich, wie es die Typen geschafft hatten in die Wohnung einzudringen. Eine Frage, die ihm zum jetzigen Zeitpunkt niemand beantworten konnte. Vielleicht würde es sogar für immer ein Geheimnis bleiben.
Er ging zurück ins Schlafzimmer. Lena schlief. Für Liam war es ein absurdes Bild.
‘Wie konnte sie bloss schlafen?’ fragte er sich. Also rüttelte er sie unsanft aus dem Schlaf zurück in die bittere Realität.
“Wie sieht dein Plan aus?” fragte er direkt in ihr müdes Gesicht. Sie stöhnte.
“Ich weiss es nicht”, murmelte sie, während sie sich die Augen rieb.
“Wir brauchen ein Fahrzeug”, beantwortete Liam seine Frage. Lena setzte sich auf und stöhnte erneut.
“Wo willst du denn hin?”, fragte sie verwirrt umher blickend, “du wirst dich in Gefahr bringen.”
“Ich muss hier weg”, insistierte Liam. Er wurde sichtlich nervöser. Noch nie fühlte er sich so hilflos. Doch für ihn war klar, dass er nicht in der Wohnung bleiben konnte.
“Ohne Risiko gibt es keinen Gewinn”, sagte er sich.
“Ich frage meinen Nachbarn, ob ich mir seinen Wagen ausleihen darf”, sagte er bestimmt und verliess zielstrebig das Schlafzimmer. Er drückte zuerst sein Ohr gegen die Wohnungstüre und als er von draussen her keine Geräusche vernahm warf er einen prüfenden Blick durch den Türspion.
Vorsichtig drehte er den Schlüssel und öffnete das Schloss. Es klickte unmerklich. Danach drückte er die Türklinke nach unten und öffnete die Türe einen Spalt breit. Im Treppenhaus war es ruhig und düster. Die Lampe, die über ihm an der Decke des Treppenhauses hing, war ausgeschaltet. Die Wohnungstüre seines Nachbarn lag in etwa drei Meter Luftlinie direkt gegenüber. Langsam setzte er einen Fuss auf den grauen Steinboden des Treppenhauses, beugte sich nach vorne und klopfte leise an die Wohnungstüre seines Nachbarn. Er hörte in dessen Wohnung Fussschritte näherkommen. Die Türe wurde geöffnet und ein junger Mann mit wilder Frisur erschien im Türrahmen. Er trug bloss schwarze Boxershorts. Das Kabel seines Kopfhörers schlängelte sich seinem durchtrainierten und Sonnenbank gebräunten Körper entlang. Auf der linken Brust prangte ein grosses Tattoo eines Löwenkopfes, mit gefährlich aufgerissenem Mund und scharfen Zähnen. Um den Hals trug er eine goldene Kette mit einem dezenten Kreuz als Anhänger. Als er Liam erblickte zog er den linken Stöpsel seines Kopfhörers aus dem Ohr. Liam musterte ihn und verfolgte ungläubig das Kopfhörerkabel, welches in seiner Boxershorts verschwand. Er fragte sich zugleich, ob es wirklich bequem sein konnte, seinen Ipod in der Unterwäsche herum zu tragen.
“Guten Morgen Liam. Du siehst beschissen aus. Wie kann ich dir helfen?”, fragte sein Nachbar mit sarkastischem Unterton. Liam warf einen prüfenden Blick nach links in Richtung des Fahrstuhls. Der Nachbar tat es ihm gleich, ehe er ihn fragend ansah. Liam schüttelte eifrig mit dem Kopf, bevor dieser eine weitere Frage stellen konnte.
“Darf ich mir deinen Wagen ausleihen?”, fragte er beinahe flüsternd.
“Selbstverständlich”, antwortete der Nachbar, ohne die Lautstärke seiner Stimme auf den Flüsterton anzupassen und drehte sich zur Seite. Liam sah, wie er den Autoschlüssel von einem Nagel an der Wand entfernte. Nun wedelte er mit dem Schlüssel wild durch die Luft.
“Ich hoffe du bringst ihn mir unversehrt zurück. Er steht unten in der Garage. Ich habe bereits die Winterreifen montiert, falls du damit in die Berge willst” meinte er mit einem künstlich ernsten Unterton und einem breiten Grinsen.
“Natürlich”, antwortete Liam trocken, als er den Autoschlüssel entgegennahm. Er war froh, dass der Nachbar seinen Schlüssel nicht auch in den Boxershorts herum trug.
Er schloss die Wohnungstüre ab und ging zurück ins Schlafzimmer, um Lena klar zu machen, dass sie schnellstmöglich von hier verschwinden mussten. Glücklicherweise konnten sie mit dem Fahrstuhl die Garage direkt erreichen, ohne dazu das Haus verlassen zu müssen. Er ging noch immer davon aus, dass der Hauseingang von irgendwelchen Auftragskillern überwacht wurde. Lena trottete verschlafen durch den Flur ins Badezimmer und verschloss die Türe hinter sich. Liam verwarf genervt seine Hände in der Luft. Es war immer dasselbe mit den Frauen. Selbst wenn die Wohnung in Flammen gestanden hätte, die Frisur musste sitzen, bevor das Haus verlassen werden konnte.
Ungeduldig ging er im Flur auf und ab. Als Lena ihre Frisur gerichtet hatte verliessen sie, zielstrebig und ohne die Wohnungstüre hinter sich zu verriegeln, die Wohnung. Mit dem Fahrstuhl fuhren sie ins Untergeschoss, wo sich neben dem Keller auch die Garage befand.
Der silberne Hyundai Tucson stand rückwärts eingeparkt, bereit zur Flucht. Liam befahl Lena, sich auf die Rückbank zu setzen, damit sie nicht gesehen werden konnte. Die Scheiben im hinteren Teil des Wagens waren abgedunkelt. Er startete den Motor, drückte vorsichtig auf das Gaspedal und verliess unauffällig die Garage, welche hinter dem Haus auf eine Nebenstrasse führte.
Das miese Wetter spielte ihnen glücklicherweise in die Karten. Dank des Regens war die Sicht etwas beeinträchtigt und sollte der Auftragskiller tatsächlich den Wagen im Visier gehabt haben, so hätte er ihn hinter dem Lenkrad nur schwer identifizieren können.
Liam fuhr Richtung Stadtzentrum. In die Innenstadt waren es rund fünfzehn Kilometer. Er hoffte, dass er dort in der Menschenmasse untertauchen könnte. Noch immer war er planlos. Er war einfach nur froh, weg von der Gefahrenzone zu sein.
‘Wie würde die Polizei wohl vorgehen?’ fragte er sich.
“Ich brauche eine Schussweste und eine neun Millimeter”, sagte Liam zu sich selbst. In diesem Moment klingelte Lenas Telefon.
“Es ist Kevin”, sagte sie nach einem kurzen Blick aufs Display werfend.
“Ich will mit ihm sprechen”, sagte Liam unverzüglich. Sie hob ab und hielt sich das Telefon ans Ohr. Liam riss es ihr aus der Hand und presste es an sein Ohr. Seine Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Mit einer Hand lenkte er den Wagen, der auf der nassen Fahrbahn leicht ins Schlingern kam. Er konnte sich kaum noch auf die Strasse konzentrieren.
“Wo zum Teufel ist mein Sohn?”, brüllte er in den Hörer.
“Oh, ich glaube ich bin ein Medium”, provozierte Kevin, “ich glaube ich spreche gerade mit einem Toten.”
“Du bist ja ein richtiger Spassvogel”, schrie Liam ausser sich vor Wut “sag mir, wo du bist.”
“Ich bin weit weg. In einer anderen Dimension. Dein Sohn nennt mich jetzt Papa. Hast du gewusst, dass er heute Geburtstag hat? Willst du ihm nicht gratulieren?”, fragte Kevin mit einem frechen Unterton.
“Heute ist nicht sein Geburtstag, du Bastard. Wenn du sein Vater wärst, dann wüsstest du das auch”, schnauzte ihn Liam an, “ich werde dich jagen und finden. Lebendig oder tot”, drohte er ihm.
“Aber natürlich. Ich werde vielleicht auf dich warten”, antwortete Kevin gelassen.
In diesem Moment brach die Verbindung ab. Liam schleuderte das Telefon wütend auf den Beifahrersitz. Mit hohem Tempo brauste er in Richtung Innenstadt. Seine Hände zitterten vor Wut.
“Und diesen widerwärtigen Unmensch liebst du, verdammt?”, schrie er durch den Wagen.
“Konzentriere dich auf die Strasse, Liam!”, schrie Lena zurück. Sie kreischte laut und duckte sich hinter die Lehne des Beifahrersitzes. Liam kriegte sich nur langsam wieder ein und verlangsamte schliesslich das Fahrzeug. Das Adrenalin liess ihn die Kontrolle über seinen Körper verlieren. Immer wenn er sich über etwas aufregte, während er am Lenkrad eines Fahrzeuges sass, neigte er dazu, das Gaspedal durchzudrücken. Es war eine seiner schlimmsten Angewohnheiten. Ein übler Makel, welcher ihm immer erst im Nachhinein bewusst wurde. Vor allem wenn Bernard bei ihm im Fahrzeug sass, dann wurden solche Aussetzer zur Lebensgefahr, auch wenn sie nur wenige Minuten andauerten. Es gab schon ein paar solcher Aussetzer in der Vergangenheit. Meist reichte es aus, wenn sich ein Verkehrsteilnehmer nicht an die Regeln hielt oder ihn provozierte. Dann liess er sich zu gefährlichen Manövern verleiten und vergass seine Mitinsassen und die möglichen Konsequenzen. Glücklicherweise kam er bisher immer mit einem blauen Auge davon. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich das nächste Mal in einer ähnlichen Situation wiederfinden würde, und das war ihm bewusst.
Er hatte sich wieder beruhigt und warf einen Blick durch den Innenspiegel auf Lena. Sie schaute grimmig aus dem Fenster und schüttelte den Kopf.
“Es ist immer dasselbe mit dir”, entfuhr es ihr.
“Du hast Recht, es tut mir Leid”, antwortete er bedauernd, “ich werde mich beherrschen.”
“Ja, das sagst du nicht zum ersten Mal. Wie oft muss es noch passieren, bis du es endlich begreifst? Wir könnten hier beide dabei umkommen”, seufzte sie. Er nickte und konzentrierte sich auf den weiteren Strassenverlauf. Inzwischen waren sie im Nachbarort. Von seinem Wohnort her gab es zwei verschiedene Wege um zum Hauptbahnhof zu gelangen. Die eine führte über die Nebenstrasse durch zwei weitere Vororte und die andere führte über die Autobahn. Doch diese war tagsüber meist von Stau geprägt, darum entschied er sich für die Nebenstrasse.
Der Gedanke an die Schusswaffe kam ihm wieder in den Sinn. Bisher hatte er sich kaum für Schusswaffen interessiert. Ganz im Gegenteil zu Lenas Vater, für den er jeweils die Zollformulare für Ersatzteile seiner Jagdgewehre ausfüllen musste, die er sich regelmässig im Internet bestellte. Doch ein Jagdgewehr wäre ihm zu unhandlich gewesen, auch wenn das Schrot sicher effektiver gegen seine Auftragskiller gewirkt hätte. Er brauchte ein kleineres Kaliber. Eine Beretta oder eine Heckler und Koch. Er kannte sich bei den Marken nicht aus, doch er hatte eine gewisse Vorstellung. Es musste etwas sein, das er in der Hosentasche verstauen konnte und bei drohender Gefahr sofort einsatzbereit wäre.
Inzwischen hatte er einen weiteren Vorort des Stadtzentrums verlassen und das Autobahnende zur Innenstadt erreicht. Er musste die Autobahneinfahrt nehmen, um auf dieser weiter zu fahren. Der Hauptbahnhof war nicht mehr weit entfernt. Der Verkehr auf der Autobahn staute sich bereits. Schuld war ein Lichtsignal weiter vorne, das gefühlte fünf Sekunden auf grün stand, bevor es wieder für zwei Minuten auf rot umschaltete.
Obwohl er seit knapp zehn Jahren in Zürich lebte kannte er sich in der Innenstadt kaum aus. Einige Plätze oder Sehenswürdigkeiten waren ihm ein Begriff, doch wenn er nach einer Wegbeschreibung gefragt wurde hatte er nicht den Hauch einer Ahnung. Er kannte gerade mal die Bahnhofstrasse mit seinen masslos überteuerten Kleidergeschäften und Restaurants, den Paradeplatz mit seinen edlen Boutiquen, Banken und Fünf-Sterne-Hotels oder die Umgebung der Seepromenade, an welcher man im Sommer gemütlich entlang schlendern konnte. Doch jeder zweite Tourist kannte diese Plätze ebenfalls. Bei Schusswaffen kam ihm die Langstrasse in den Sinn. Es war die Drogen-, Sex- und Ausgangsmeile Zürichs. Alles was es dort zu Erwerben gab bewegte sich an der Grenze zur Illegalität oder bereits darüber. In der Nacht war die Langstrasse ein einmaliges Erlebnis. Vom Randständigen bis zum Bonzen in Anzug und Krawatte war alles vertreten. Zwielichtige Typen in Kapuzenpullovern und weiten Jeans versuchten an einer Hausecke eine Tüte Gras, Kokain oder Heroin unter die Passanten zu mischen. Ein paar leichte Mädchen in Miniröcken, Netzstrümpfen und High Heels stöckelten dem Bordstein entlang, auf der Suche nach einem zahlungswilligen Kunden und aus den Bars und Clubs dröhnte laute Musik. Alles leuchtete und blinkte in knalligen Neonfarben. Nicht selten kam es zu üblen Szenen mit der Polizei. Mit den Drogen kam auch die Gewalt und mit der Gewalt folgten die Verletzten und Toten. Es war jedes Wochenende dasselbe Drama. Die Langstrasse befand sich westlich des Hauptbahnhofes und verlief vertikal zum Limmatplatz im Norden und zur Badenerstrasse im Süden. Inzwischen fuhr er über das Sihlquai bis zur Kornhausbrücke, bog dort in die Limmatstrasse ein und überquerte den Limmatplatz. Dort begann die Langstrasse.
Er versuchte in der Nähe einen freien Parkplatz zu finden. Doch das war ein schwieriges Unterfangen. Das Auto war in der Stadt Zürich mit Abstand das mühsamste Verkehrsmittel, für das man sich entscheiden konnte. Eine reine Zumutung. Nebst dem hohen Verkehrsaufkommen gab es Dutzende von Fahrradfahrer, die sich nicht an die Verkehrsregeln hielten. Passanten, die blind durch die Strassen irrten. Tram und Busse, die auf ihren Vortritt beharrten. Ewige Baustellen, die zu Verkehrsbehinderungen und Umleitungen führten und es gab kaum freie Parkplätze. Liam wusste in jenem Moment, warum er normalerweise mit dem Zug zur Arbeit fuhr. Bei der Trennung wurde ihr gemeinsames Fahrzeug auf Lena überschrieben, da sie Bernard täglich zur Kindertagesstätte brachte und auf dieses angewiesen war. Somit hatte er keine andere Wahl, als den öffentlichen Verkehr in Anspruch zu nehmen. Mittlerweile schätzte er diesen. Nach gut zehn Minuten schien das Glück auf seiner Seite zu sein. Direkt neben einem kleinen Geschäft fand er eine freie Parklücke. Gekonnt zirkelte er seinen Wagen zwischen zwei geparkte Fahrzeuge und stieg aus.
“Ich bin gleich zurück. Du bleibst hier solange sitzen”, befahl er Lena. Er wollte sich alleine um die Schusswaffe kümmern und konnte keine dummen Fragen seiner Frau gebrauchen. Es gab oft Momente, in denen sie Dinge hinterfragte, von denen sie keine Ahnung hatte. Liam nervte sich jeweils ab diesem Verhalten. Vor allem wenn er merkte, dass ihre Gesprächspartner bereits mit den Augen rollten. Für den Kauf einer Schusswaffe musste er möglichst seriös wirken und dumme Fragen würden bloss zu weiteren Rückfragen und Skepsis führen. Er zupfte sich seinen Schal unter der Jacke zurecht und machte sich auf den Weg durch die Langstrasse. Tagsüber war es zwar ruhiger, doch der Müll, welcher auf der Strasse herumlag, verlieh dem Quartier etwas Schmutziges und Verruchtes. Es war mit Abstand die dreckigste Strasse der Stadt. Um die Ecke einer schmalen Seitengasse, erblickte er ein staubiges Schaufenster, welches Jagdbekleidung und Wanderschuhe ausgestellt hatte. Es war das einzige Geschäft in der Umgebung, das ihm passend schien, um sich eine Schusswaffe zu besorgen. Er betrat das Geschäft und stellte fest, dass er der einzige Kunde war. Obwohl es von draussen her einen heruntergekommenen Eindruck hinterliess, war es im Inneren des Geschäftes hell und modern eingerichtet. An den Wänden hingen Trophäen von geschossenen Tieren. Allerhand Geweihe von Steinböcken, Gämsen und Hirschen. Ausgestopfte Tierköpfe starrten ihn von den umliegenden Wänden aus an. An der hinteren Wand hingen Fischerruten und Jagdgewehre mit dazugehörigem Material. Im Mittelgang sah er diverse Kleiderständer mit Jacken, Hosen und Wanderschuhen sowie Gummistiefel und Regenpelerinen. Es roch eigenartig nach Natur, Holz und Kautschuk. Linkerhand neben der Eingangstüre befand sich die Kasse. Ein junger Verkäufer, ungefähr Ende zwanzig, mit schulterlangen, braunen Haaren und Brille mit breiter Umrahmung stand hinter einer Art Tresen aus schwerem Kirschholz. Mit seinem Vollbart und der Modekollektion des Geschäftes, die er trug, wirkte er wie ein Förster.
“Wie kann ich ihnen helfen?”, fragte er mit tiefer Stimme. Liam stellte sich vor den Tresen und räusperte sich kurz.
“Ich brauche eine Schussweste und eine neun Millimeter”, sagte er mit ernster Miene. Der Verkäufer lachte trocken.
“Was haben sie denn vor?”, fragte er schliesslich, als er bemerkte, dass die Frage ernst gemeint war.
Liam schwieg und warf ihm einen erwartungsvollen Blick zu.
“Ich habe eine Faustfeuerwaffe, aber für Schusswesten sind sie hier an der falschen Adresse”, meinte der Verkäufer zögerlich.
“Vielleicht probieren sie es weiter vorne bei der Polizeistation”, scherzte er. Liam grinste verlegen.
“Normalerweise schiessen die Tiere bei der Jagd nicht zurück, daher brauchen Jäger auch keine Schussweste”, erklärte er freundlich. Liam war es sichtlich peinlich. Er brauchte keine weiteren Erklärungen.
“Was haben sie für Faustfeuerwaffen?”, unterbrach er das Gespräch. Der Verkäufer verstummte und verschwand in die hintere Ecke, wo sich auch ein Lager befand. Als er wieder zurückkam legte er ihm eine schwarze Pistole auf den Tresen.
“Ich kann ihnen diese empfehlen. Es ist eine halbautomatische Pistole. Zur Nachladung verwendet sie die Rückstossenergie. Das erspart ihnen nach dem Abfeuern eines Schusses das mühsame Nachladen von Hand. Etwas anderes kann ich ihnen leider nicht anbieten”, erklärte der Verkäufer freundlich.
“Was ist das für eine Marke?”, fragte Liam. Die Waffe kam ihm bekannt vor.
“Das ist eine SIG P220. Sie wird vom Schweizer Militär verwendet”, antwortete der Verkäufer.
“Ich wusste gar nicht, dass ihr diese auch für die Jagd benutzt”, sagte Liam überrascht.
“Ehrlich gesagt machen wir das auch nicht. Eigentlich ist es meine persönliche Dienstwaffe. Da ich aber die Schnauze voll hatte von diesen Militärs leiste ich seit kurzem Zivildienst und deshalb brauche ich sie nicht mehr. Also dachte ich mir spontan, ich könnte sie auf diese Weise loswerden. Das Zeughaus ist mir einfach zu weit entfernt.”
Jetzt war es Liam der laut lachte. Der Verkäufer strich sich verlegen durch das Haar und richtete sich seine Brille zurecht.
“Gibt es auch Munition? Oder muss ich mir diese selbst besorgen?”, fragte er, nachdem er sich wieder eingekriegt hatte.
Der Verkäufer griff in seine Hosentasche und zog eine viereckige, graue Schachtel hervor.
“Natürlich. Ich habe damals eine aus der Kaserne mitgehen lassen”, meinte er stolz.
“Unglaublich”, sagte Liam kopfschüttelnd. Er starrte einen Moment lang auf die Waffe, welche auf dem Tresen lag.
“Wieviel wollen sie dafür?”, fragte er schliesslich interessiert.
“Nehmen sie es einfach mit. Ich bin froh wenn ich das Zeug los bin”, antwortete der Verkäufer und streckte ihm die Packung entgegen.
“Einen Waffenschein habe ich selbstverständlich nicht”, meinte Liam beiläufig, als er die Waffe in seinen Händen begutachtete. Der Verkäufer schmunzelte.
“Sehe ich aus wie ein Polizist?”, fragte dieser ironisch. Liam zuckte mit den Schultern und verabschiedete sich.
Er steckte die Waffe mitsamt der Munition in die Innentasche seiner Jacke und fühlte sich wie ein Gangster.
‘Der Gangster der Langstrasse’ dachte er für sich und grinste süffisant. Zielstrebig ging er der Strasse entlang, zurück zum Hyundai.
Lena musterte ihn unauffällig, als er sich wieder hinter das Lenkrad setzte.
“Wo willst du jetzt hin?”, fragte sie, nachdem er den Motor gestartet hatte.
“Zum Flughafen”, antwortete Liam, “ich habe während des Gesprächs mit Kevin in seinem Hintergrund eine Lautsprecherdurchsage gehört, welche ich nur vom Flughafen her kenne. Ich will ihn finden, bevor er uns entwischt. Sollte er sich ins Ausland absetzen sind wir erledigt.”
Lena schwieg. Liam fuhr aus der Parklücke und folgte der Langstrasse, über den Limmatplatz zum Sihlquai, wo er die Limmat erblickte. Die Fahrt würde ohne Verkehr maximal zwanzig Minuten dauern. Es war eine der wenigen Strecken, die er beinahe auswendig kannte. Er folgte dem Sihlquai bis zu deren Ende. Dort kreuzte sich die Museumsstrasse, welche den Bahngeleisen des Sackbahnhofs entlang führte. Auf der linken Seite sah er das Nationalmuseum. Ein pompöses Haus, das aussah wie ein Schloss. Der Verkehr war zäh. Überall gab es Lichtsignale. Er rollte im stockenden Verkehr über die Walchebrücke, welche die Limmat überquerte und bog nach links auf den Neumühlequai. Dieser führte entlang der Limmat, welche stadtauswärts floss. In der Mitte zwischen der Sihl und der Limmat, den beiden Flüssen, die sich dort in die Limmat vereinigten, befand sich eine kleine Grünfläche. Der Platzspitz. Dieser erlangte in den späten achtziger- bis anfang der neunziger Jahre internationale Bekanntheit. Dort befand sich die politisch tolerierte offene Drogenszene. Dieser Platz war für ihn so irrelevant, dass er ihn noch nie besucht hatte. Er verabscheute Drogen. Wiederum bogen sie links ab. Diesmal in die Wasserwerkstrasse, welche zum Milchbuck-Tunnel führte. Der knapp zwei Kilometer lange Tunnel verbindet den Norden Zürichs und die Flughafenregion mit der Innenstadt. Nach Verlassen des Milchbuck-Tunnels wurden sie auf den Autobahnzubringer Richtung Flughafen geführt. Der Verkehr auf der Autobahn kam erneut ins Stocken. Es war ein bekanntes Nadelöhr, mit vielen Baustellen. Die Strecke konnte teilweise nur auf einer Fahrspur geführt werden, was bei zu vielen Autos unweigerlich zum Chaos führte.
“Ich hoffe du hast Bernards Reisepass bei dir?”, fragte Liam skeptisch, während er den immer langsamer werdenden, vorausfahrenden Fahrzeugen hinterher rollte. Lena schüttelte den Kopf.
“Ich hatte Bernards Ausweispapiere in der Kommode von Kevins Wohnung verstaut. Ich hatte Angst, sie zu verlieren”, antwortete sie nachdenklich.
“Typisch”, sagte Liam knapp. Lena wusste sofort, was er damit meinte. Sie musste zugeben, dass sie manchmal etwas unüberlegt handelte. Sie war teilweise ein richtiger Tollpatsch.
“Ich gehe davon aus, dass Kevin wusste, wo sich die Papiere befanden?”, fragte er. Lena nickte verlegen.
Auf dem Flughafengelände wurde ebenfalls gebaut. Ein neuer, riesiger Bürokomplex stand in der Bauphase, direkt gegenüber der Parkhäuser. Daher war die Zufahrtsstrasse auch mit Umleitungen verbunden. Es gab vier verschiedene Parkhäuser, wovon sich eines etwas ausserhalb, beim ‘Drop-Off’-Bereich, befand. Das erste der vier Parkhäuser eignete sich für Besucher und Einkaufstouristen. Ein Kurzzeitparking, wenn man so wollte. Die anderen drei Parkhäuser dienten für Langzeitaufenthalte. Jedes der vier Parkhäuser hatte insgesamt zehn Stockwerke und zwei Untergeschosse. Die Auffahrt ging durch einen schier endlosen Kreisel. Liam mochte es, dort mit etwas höherer Geschwindigkeit hochzufahren. Lena hingegen hasste es. Ihr wurde schnell übel, vor allem wenn sie hinten im Fahrzeug sass und von der Fliehkraft gegen die Fahrzeugtüre gedrückt wurde.
Er entschied sich für das siebte Stockwerk. Lena stöhnte laut, als er das Lenkrad in die entgegengesetzte Richtung drehte, um den Kreisel zu verlassen. Eine freie Parklücke zwischen einem schwarzen Audi Q7 und einem silbernen BMW X6 schien ihm passend.
“Musst du immer die engste Parklücke nehmen?”, fragte ihn Lena kopfschüttelnd“und dann noch zwischen zwei grossen, teuren Fahrzeugen?”
“Ja, so können wir in dessen Schutz in Ruhe aussteigen”, antwortete er überzeugend, obwohl er sich keine ernsthaften Gedanken darüber gemacht hatte, als er die Parklücke erblickte. Sie schien ihm einfach sonst spontan passend, aber er mochte sich vor ihr nicht rechtfertigen. Als er den Wagen geparkt hatte und der Motor verstummte, griff er in seine Innentasche und zog die SIG P220 hervor. Das schwarze Metall glänzte im künstlichen Licht des Parkhauses. Mit der Fingerkuppe fuhr er über die geriffelte Oberfläche des Schlittens. Er betrachtete sie eine ganze Weile bevor er das Magazin aus dem Griff entfernte. Lange war es her seit er das letzte Mal eine Pistole in der Hand hielt. Es musste während der Dienstzeit im Militär gewesen sein, wo er sich sogar ein Abzeichen für seine aussergewöhnliche Treffsicherheit verdiente. Doch er wusste nicht ob er sie im Ernstfall wirklich einsetzen könnte. Ob er überhaupt den Mut dazu hätte, kaltblütig abzudrücken und einen Feind zu erschiessen. Im Militär schoss er ausschliesslich auf Zielscheiben und seelenlose Plastikpuppen, welche seinem Gewissen keinen Schaden zufügten. Die Packung mit der Munition war noch versiegelt. Er öffnete sie und füllte das Magazin randvoll auf. Die leere Packung steckte er in den Behälter bei der Fahrertüre. Nachdem er das Magazin in die Waffe zurückgesteckt hatte vergewisserte er sich, dass sie gesichert war. Im Militärdienst wurde ihnen oft genug eingetrichtert, wie wichtig eine gesicherte Waffe war und einen Blindgänger im Bein konnte er nicht gebrauchen.
“Schussbereit”, sagte er stolz und öffnete die Fahrertüre. Lena schwieg, doch sie sah in den Augen ihres Mannes eine Art Arroganz und Selbstüberschätzung aufblitzen. Es bereitete ihr Sorgen und sie hoffte insgeheim, dass er nicht versuchen würde, den Helden zu spielen.