Читать книгу Im Schatten des Todes - Aris Winter - Страница 3

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Die Entführung

Liam hatte noch nie zuvor einen solch panischen Gesichtsausdruck gesehen, wie ihn seine Frau in jenem Moment aufgesetzt hatte. Lena war eine starke Persönlichkeit. Sie wusste was sie wollte und sie liess sich kaum einschüchtern. Auch wenn sie einen Kopf kleiner war als Liam konnte sie ihn mit Karate locker zu Boden ringen. Sie lernte diese Kampfsportart in ihrer Jugendzeit von ihrem Vater, der inzwischen den schwarzen Gürtel besass. Er wollte ihr beibringen, wie sie sich gegen körperliche Angriffe zur Wehr setzen konnte. Es war eine Zeit, in welcher es in den Nachtclubs häufig zu Schlägereien und sexuellen Übergriffen kam. Manchmal setzte sie es auch spasseshalber gegen Liam ein, der nach kürzester Zeit mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden lag. Nicht selten traf sie ihn ungewollt in seine Weichteile, was zu üblen Unterleibsschmerzen führte.

Doch nun sah es nicht so aus als mache sie Witze und er wusste, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.

“Was ist passiert?”, fragte er eifrig, nachdem er beinahe rückwärts über die erste Stufe der Treppe gestolpert war. Lena kam näher und umarmte ihn ungefragt.

“Wir brauchen deine Hilfe”, sagte sie verzweifelt. Liam war überrascht. Er hatte ihre Umarmung nicht erwidert, sondern stand wie ein Fels im Treppenhaus, die Arme an die Seite seines Körpers gedrückt und den Kopf leicht zur Seite gedreht, wo er seinen Sohn erblickte, der ihn unentwegt anstarrte. Bisher suchte sie bei Problemen jeweils die Hilfe der Familie. Ihr Vater war Gefängnispsychiater für Schwerverbrecher, Menschen mit gespaltenen Persönlichkeiten und Suchtpatienten. Ihre Mutter arbeitete als Krankenschwester im Universitätsspital. Er jedoch war nur ein kaltherziger, egoistischer und verschuldeter Banker. Zumindest wenn man Lenas Worten Glauben schenken wollte. Ihre Eltern wohnten bloss einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernt. In einem schönen, grossen Einfamilienhaus. Trotzdem stand sie mit ihrem gemeinsamen Sohn Bernard nun in seinem Treppenhaus. Zusammen fuhren sie mit dem engen Fahrstuhl ins vierte Stockwerk und betraten die Wohnung. Seit der Trennung hatte er seinen Haushalt etwas vernachlässigt, doch Lena schien sich daran nicht zu stören. Sie sah aus, als wäre sie erleichtert darüber, wieder in der ehemaligen Wohnung zu sein. Bernard, der seinen Vater bisher an jedem zweiten Wochenende besucht hatte, zog wortlos seine Jacke aus und hängte sie an den Haken, den ihm Liam auf dessen Höhe an die Wand geschraubt hatte. Danach zog er sich die Schuhe aus, stellte sie auf das Schuhmöbel im Flur, holte seine Spielkiste aus dem Spielzimmer und verzog sich damit in sein Kinderzimmer. Liam schaute ihm misstrauisch hinterher während er ein paar schmutzige Klamotten vom Fussboden aufhob. Er merkte sofort, dass Bernard unter einem gewissen Umstand litt, doch er konnte die Situation noch nicht richtig einschätzen. Bernard war sonst ein aktives Kind, das für sein Alter bereits über einen ausgeprägten Wortschatz verfügte und sich auszudrücken vermochte, wenn es Probleme hatte. So wie jetzt verhielt er sich nur wenn er an Fieber litt und krank war.

Lena, die Frau die er in den letzten Monaten so schmerzlich vermisst hatte, stand plötzlich vor ihm und bat ihn um Hilfe. Früher musste ihr Liam jeweils einen Maulkorb verpassen, damit das ewige Gerede ein Ende nahm und nun stand sie neben ihm und schwieg. Ihr Gesicht war farblos. Die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Eingepackt in einer dicken, schwarzen Daunenjacke wirkte sie wie ein kleines, unschuldiges Mädchen. Liam selbst war völlig irritiert und mit der ganzen Situation komplett überfordert. Er hätte an diesem Abend so ziemlich alles erwartet, aber mit ihr hätte er nicht im Traum gerechnet. Er machte eine kurze Handbewegung zum Wohnzimmer, während er die Jacke auszog und den Schal löste. Von der Wohnungstüre her ging es durch einen schmalen Flur, auf welchem sich links drei Zimmer und rechts zwei Badezimmer befanden. Direkt hinter der Wohnungstüre Bernards Spielzimmer, welches mit Spielsachen vollgestopft war. In der Mitte Bernards Schlafzimmer mit dem Jugendbett, dem Kleiderschrank und dem Wickeltisch sowie das grössere Zimmer mit dem Ehebett, in welchem er sich seit der Trennung so alleine und einsam fühlte. Am Ende des Flurs erstreckte sich links das Wohnzimmer und rechts das Esszimmer. Eigentlich war es ein einziger, grosser Raum. Doch der Fussboden im Wohnzimmer war mit Parkettbelag und der des Esszimmers mit Keramikplatten ausgelegt. Die schwarze Ledercouch im Wohnzimmer bildete die hintere Ecke. Davor stand ein kleines, rundes Tischchen mit einer Glasplatte auf einem grossen, weissen Teppich. An der Wand gegenüber, direkt neben dem Fenster, hing ein Flachbildfernseher, den er seit Monaten nicht mehr eingeschaltet hatte. Darunter stand ein rechteckiges Möbel, in welchem Liam seine DVDs verstaute. Das Esszimmer bot Platz für einen rechteckigen Holztisch und vier schwarzen Lederstühlen. Eine Lampe mit drei Leuchten hing tief darüber und erhellte den Raum. Dahinter befand sich eine kleine, moderne Küche. Liam war ein grauenhafter Koch und die Küche sah aus, als wäre sie seit langem nicht mehr benutzt worden. Dafür stapelten sich ein Dutzend leerer Pizzaschachteln eines Lieferdienstes in der Ecke. Vom Esstisch her sah man direkt auf die kleine Terrasse. Dort stand ein Sessel aus Rattan mit weichen Kissen zwischen zwei kleinen Palmen und verlieh ihr einen Hauch von Urlaubsstimmung. Zumindest wenn die Sonne auf die Terrasse schien.

Liam trank einen kräftigen Schluck Eistee und stellte die Flasche in den Kühlschrank. Danach setzte er sich auf die Couch und wartete auf eine Reaktion seiner Frau. Seit sie ihn im Treppenhaus umarmte hatte sie kein einziges Wort mehr gesagt. Sie stand mittlerweile hinter einem der Stühle am Esstisch und starrte wortlos auf den Bildschirm seines Computers. Im Kinderzimmer hörte er seinen Sohn mit den Spielzeugautos spielen. Der Regen prasselte wieder stärker gegen die Fensterscheibe.

Plötzlich klingelte es an der Wohnungstüre. Lena zuckte zusammen, setzte sich auf den Stuhl vor dem Computer und deutete Liam wild gestikulierend an, sitzen zu bleiben. Wieder klingelte es an der Türe. Diesmal mehrmals hintereinander. Liam blickte zu Lena und sah eine Träne über ihre Wange kullern. Einen Moment lang wurde es still. Liam erhob sich aus der Couch und löschte sämtliche Lichter in der Wohnung. Obwohl sie im vierten Stockwerk waren hätte man das Licht von draussen her gesehen. Die Besucherparkplätze befanden sich direkt unter seinem Wohnzimmerfenster. Langsam verstand Liam den Ernst der Lage, auch wenn er noch keine Details der Geschichte kannte. Der Gesichtsausdruck seiner Frau sprach Bände. Er hatte sie noch nie derart verängstigt erlebt. Regungslos sass sie auf dem Stuhl und starrte auf den Bildschirm.

“Er will ihn holen und dich töten”, murmelte Lena plötzlich und ohne ihren Blick vom Bildschirm zu lösen.

“Was?”, fragte Liam ungläubig. Er stand im dunklen Flur und schaute nach rechts zum Esszimmer. Der Bildschirm war nun die einzige Lichtquelle in der Wohnung. Er sah nur noch die Umrisse ihres Kopfes, welcher über der Stuhllehne hervor lugte.

“Wer?”, fragte Liam weiter, “wer will mich töten?”

Es klang so surreal und trotzdem spürte er, wie sein Puls schlagartig in die Höhe getrieben wurde. Einerseits war da Lena, die noch vor ein paar Tagen gesagt hatte, dass sie über ihn hinweg sei und ein neues Leben begonnen habe. Und andererseits das mysteriöse Klingeln an der Haustüre sowie die Tränen in Lenas Gesicht.

“Was sollen wir jetzt tun? Die Polizei rufen?” fragte Liam schockiert.

“Nein” sagte Lena. Nun löste sie endlich den Blick vom Bildschirm. Liam sah ihre funkelnden Augen als sie den Kopf zu ihm umdrehte. Es war eine Mischung aus Angst und Panik. Eine Träne glitzerte auf ihrer Wange.

“Wenn wir die Polizei rufen, wird alles nur noch schlimmer.”

Liam musterte sie skeptisch.

“Was würde schlimmer werden?”, wollte er wissen.

“Die Verfolgung”, antwortete Lena und deutete mit dem Zeigefinger auf die Wohnungstüre. “Sie werden dich solange suchen, bis sie dich gefunden haben. Bis die Polizei aktiv wird, bist du längst tot.”

“Das ist noch nicht die ganze Geschichte, oder?”, fasste Liam zusammen. Nie zuvor hatte sie sich derart merkwürdig verhalten. Mit ihrem vom weissen Licht des Bildschirms angestrahlten Gesicht in der dunklen Wohnung sah sie aus, als wäre sie gerade einem Horrorfilm entsprungen. Lena schüttelte den Kopf und senkte ihren Blick zu Boden.

“Was ist los, verdammt?”, fragte Liam. Seine Stimme klang mittlerweile deutlich verzweifelter.

Unverhofft klopfte jemand gegen die Wohnungstüre. Nun war es Liam, der zusammenzuckte. Ein Schauer lief ihm kalt über den Rücken. Seine Knie zitterten unweigerlich. Er fragte sich zugleich, wie die Person, die nun vor seiner Wohnungstüre stand, überhaupt ins Treppenhaus gelangte. Jemand musste ihr die Eingangstüre ins Haus geöffnet haben, denn normalerweise war diese verschlossen. Lena kroch unter den Tisch. Wieder hämmerte jemand mit der Faust gegen die Türe. Das Holz knarrte und vibrierte unter dem heftigen Schlag. Liam hörte eine männliche Stimme.

“Ich weiss dass ihr hier drin seid. Also öffnet gefälligst die Türe.” Lena deutete Liam an, dass er still sein soll. Liam nickte ihr zu. Er legte sich langsam auf den Fussboden und robbte vorsichtig zum Kinderzimmer. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Es war das Mittlere der drei Zimmer. Etwa drei Meter von der Wohnungstüre entfernt. Als er dort ankam, streckte er den Arm nach oben, um die Türklinke herunter zu drücken und die Türe zu öffnen. Als ihm dies gelang musste er beinahe die Augen zusammenkneifen, da ihn das Licht, welches aus dem Kinderzimmer flutete, unweigerlich blendete. Er erblickte seinen Sohn auf dem Fussboden sitzend vor seiner Spielzeugkiste. Bernard inspizierte konzentriert die Details seiner Spielzeugautos. Mindestens ein Dutzend verschiedener Autos lagen neben ihm auf dem Fussboden. Diverse Typen und Marken im Miniaturformat. Offenbar hatte er nicht bemerkt, dass Liam die Türe geöffnet hatte und ihn beim Spielen beobachtete. Behutsam zog er die Türe wieder zu und kroch zurück zum Esszimmer. Der Unbekannte hämmerte ein letztes Mal kräftig gegen die Wohnungstüre. Der Schlüsselbund, welcher im Schloss steckte, gab ein lautes, klirrendes Geräusch von sich. Lena kauerte unter dem Tisch. Es machte den Anschein, als würde sie kaum noch atmen.

“Ich komme wieder, das schwöre ich euch”, sagte die Stimme vor der Wohnungstüre mit einem verbissenen Unterton. Liam hörte wie sich die Schritte entfernten. Er atmete auf und legte sich auf den Rücken. Den Blick gegen die Decke gerichtet. Die Hände auf der Brust liegend. Er fühlte seinen pochenden Herzschlag bis zum Hals. Nie zuvor fühlte er eine solche Panik in sich. Lena kauerte noch immer unter dem Tisch. Es dauerte einige Minuten bis sie sich wieder auf den Stuhl gesetzt hatte.

“Soll ich das Licht anmachen?”, fragte Liam nach einer Weile der Stille. Er flüsterte nun beinahe, da er der Stimme des Unbekannten nicht vertrauen konnte. Vielleicht stand er wieder vor der Wohnungstüre und lauschte ihren Stimmen. Das ganze Haus war enorm ringhörig. Solange er nicht wusste, was hier vor sich ging, versuchte er sich ruhig zu verhalten und keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Er warf einen fragenden Blick zu Lena, doch er erhielt keine Antwort. Sie sass einfach regungslos da und starrte aus dem Fenster hinter dem Esstisch. In die Dunkelheit hinaus. Er stand im Wohnzimmer und liess seinen Blick durch die dunkle Wohnung schweifen, ohne einen bestimmten Punkt zu fixieren. Danach betätigte er den Lichtschalter.

So schnell er konnte schloss er die Rollläden vor den Fenstern. Er wollte nicht, dass sie gesehen wurden. Falls ihn wirklich jemand umbringen wollte, dann wäre er am Fenster zu einer leichten Beute geworden. Das Hotel gegenüber hatte genügend Zimmer, die einen guten Blick in seine Wohnung gewährten. Liam mutmasste, dass sich der Unbekannte dort ein Zimmer gemietet hatte und sie vielleicht bereits beobachtete.

“Wer war dieser Typ?”, fragte Liam flüsternd. Lena zuckte mit den Schultern.

“Ich weiss es nicht. Die Stimme war mir nicht bekannt. Wahrscheinlich hat ihn Kevin angeheuert”, sagte sie mit zittriger Stimme. Ihre Wangen waren rot und noch immer hatte sie eine Träne im Gesicht. Liam kannte Kevin, den neuen Freund von Lena, nur vom sehen her. Sie hatten bisher noch nie ein Wort gewechselt. Kevin war etwas kleiner und fester gebaut als er. Als Liam ihn zum ersten Mal gesehen hatte dachte er prompt an einen Pitbull. Die Haare trug er als Millimeterschnitt unter einer Mütze versteckt. Die breite Nase und der schmale Mund hatten etwas von einem Boxer. Meist lief er mit Trainerhosen und weitem Shirt herum. Absolut ohne Stil. Er war ihm von Anfang an unsympathisch. Liam hingegen wurde von seinem Umfeld oft als attraktiv bezeichnet, auch wenn er sich dafür schämte. Kurzes, blondes Haar, blaue Augen, schmale Nase, starke Wangenknochen, gross gewachsen und schlank. War etwa Eifersucht im Spiel? Liam setzte sich wieder auf die Couch, lehnte sich erschöpft zurück und atmete ein paar Mal tief durch. Er wusste nicht, was er sonst hätte tun sollen. Kurz zuvor war er noch alleine und studierte Berichte über das erfolgreiche Traden im Internet und nun war er in einer völlig neuen Situation. Innert ein paar Minuten hatte sich die Lage zugespitzt. Es herrschte der totale Ausnahmezustand und er wusste nicht, wie diese Nacht für ihn enden würde. Lena sass noch immer auf dem Stuhl am Esstisch. Bernard spielte ungewöhnlich ruhig in seinem Kinderzimmer. Er starrte an die schwarze Mattscheibe seines Fernsehers, fühlte seinen starken Herzschlag und liess seinen wirren Gedanken freien Lauf. Draussen wurde es ruhiger. Der Feierabendverkehr nahm sein gewohntes Ende. Der Regen hatte etwas nachgelassen und auch der Wind beruhigte sich. Es war dunkel und still. Fast bedrohlich still.

Das unverhoffte Geräusch von zerschmetterndem Fensterglas riss Liam und Lena aus ihren Gedanken. Liams Herzschlag verdreifachte sich beinahe. Lena lag mit einem Schlag wieder unter dem Tisch. Das Geräusch kam aus dem Kinderzimmer. Ihm wurde sofort bewusst, dass er dort den Rollladen nicht heruntergelassen hatte, weil er Bernard nicht beim Spielen stören wollte. Zudem brannte dort das Licht. Er wollte zum Kinderzimmer rennen, doch seine Beine fühlten sich an wie gelähmt. Er wusste nicht, ob jemand in die Wohnung eingedrungen war, oder ob nur ein Gegenstand durch das Fenster geschleudert wurde. Nach einigen Sekunden des Zögerns rannte er schliesslich zum Kinderzimmer und öffnete die Türe. Der Fussboden war mit Glassplittern übersät. Das Fenster wurde von innen geöffnet. Die Spielzeugkiste stand in der hinteren Ecke und die Spielzeugautos lagen über dem Fussboden verstreut. Der Wind wirbelte den Vorhang wild durch die Luft, doch Bernard war spurlos verschwunden. Nur der kalte, elende Regen prasselte ihm erneut ins Gesicht. So schloss er die Augen und hoffte, aus diesem Albtraum zu erwachen.

Als Liam die Augen nach ein paar Sekunden wieder öffnete, prasselte ihm noch immer der kalte Regen ins Gesicht. Er wusste, dass dies kein Traum war. Lena sass im Flur vor dem Kinderzimmer. Ihre Arme hielt sie eng um ihre Unterschenkel umschlungen, das Gesicht in den Armen vergraben. Sie weinte. Bernard war spurlos verschwunden und Liam stand auf der Todesliste eines unbekannten Auftragskillers. Er griff in die hintere Hosentasche, zückte sein Telefon und wählte den Polizeinotruf. Gerade als er den Hörer ans Ohr nehmen wollte schlug ihm Lena das Telefon aus der Hand. Es fiel zu Boden, das Glas des Bildschirms zersplitterte und es schaltete sich aus. Liam drehte sich erschrocken um und blickte in das tränenüberströmte Gesicht von Lena.

“Ich habe dir doch gesagt, dass die Polizei alles nur noch schlimmer macht”, sagte sie mit zittriger Stimme.

“Und was sollen wir nun deiner Meinung nach tun?”, schrie er sie an. Seine Stimme bebte. Er verliess das Kinderzimmer, löschte das Licht hinter sich und verriegelte die Türe vom Flur her. Irgendwo da draussen war dieser gefährliche Typ und hatte ihren Sohn unter Gewalt.

“Was will der Typ von mir? Und warum hat er nun Bernard entführt? Das macht doch gar keinen Sinn, verdammt”, stöhnte Liam. Lena folgte ihm zurück ins Wohnzimmer.

“Setz dich hin, ich werde dir die ganze Geschichte erzählen”, antwortete sie noch immer mit zittriger Stimme.

Liam setzte sich erneut auf die Couch. Jedoch sass er diesmal aufrecht und sein Oberkörper versteifte sich merklich. Er rutschte ungeduldig hin und her. Seine Beine wollten eigentlich ein paar Schritte zurücklegen, doch er hätte nur im Wohnzimmer auf und ab gehen können. Also blieb er stattdessen sitzen und rieb sich nervös mit den Händen über die Oberschenkel. Lena setzte sich neben ihn auf die Couch und versuchte vergeblich Blickkontakt herzustellen.

“Kevin und ich kennen uns nun seit drei Jahren. Er war mein Arbeitskollege, doch dann wurden unsere Gefühle füreinander immer stärker. Nachdem ihn seine Freundin verlassen hatte tat er mir Leid und ich habe ihn wieder aufgebaut. Wir haben uns mit der Zeit ineinander verliebt. Gleichzeitig wurden wir uns fremd und du hast mich mehrmals im Stich gelassen, mich belogen und betrogen. Ich habe ihm sein Selbstwertgefühl zurückgegeben, während du mir meines genommen hast. Eines Abends, als wir mit den Arbeitskollegen zu Abend gegessen haben, vertraute er mir ein Geheimnis an. Er hatte in seinem bisherigen Leben alles erreicht was er wollte, jedoch konnte er aus gesundheitlichen Gründen keine eigenen Kinder kriegen. Er träumte von einer Familie. Von einem Kind. Und ich hatte dieses Kind, das er sich so sehnlichst wünschte. Daraufhin hatte er mir angeboten, meine Schulden zu begleichen, sofern ich bei ihm einziehe. Ich habe ihm einen Vertrag unterschrieben, weil ich aus dieser beschissenen Schuldenspirale heraus wollte. Ich wollte endlich wieder frei sein, wieder reisen können und mein Leben geniessen.” Lena hielt inne. Liam blickte ihr unentwegt in die Augen. Seine Stirn lag in Falten. Inzwischen hatte er seine Nervosität unter Kontrolle. Er sass noch immer aufrecht und steif auf der Couch und lauschte der Geschichte seiner Frau.

“Und dann?”, fragte er nach einer Weile der Stille.

“Ich habe den Vertrag nicht durchgelesen, weil ich dachte es würde sich nur um diese eine Leistung handeln. Doch er wollte noch mehr. Er wollte Bernard adoptieren. Und er wollte, dass Bernard den Kontakt zu seinem geliebten Vater verliert.”

Liam schauderte unweigerlich bei diesem Gedanken.

“Wie kann ein Mensch eine solche Forderung stellen?”, fragte er ungläubig.

“Er wird dich töten”, sagte Lena bestimmt.

“Er hat Kontakte zur Mafia und ich glaube, der Typ der soeben an der Türe gestanden hatte, war einer von ihnen.” Lena schlug sich die Hände vor das Gesicht und weinte erneut.

“Ach das ist wieder einmal typisch für dich. Du unterzeichnest Papiere, die du nicht hinterfragst und über die du dir keine Gedanken machst. Weil du keine Geduld hast, sie vollständig durchzulesen. Du glaubst immer, alle würden dir etwas schenken, doch im Leben ist nicht immer alles Gold was glänzt und alles hat seinen Preis. Meist einen höheren, als man überhaupt bezahlen kann. Und nun soll Bernard diesen Preis bezahlen? Ist es wirklich das, was du willst?”, tobte Liam unverhofft los. Lena schüttelte heftig mit dem Kopf und versuchte ihn erfolglos zu beruhigen.

“Wo wird er Bernard hinbringen?”, fragte Liam weiter und rutschte wieder ungeduldig auf der Couch hin und her.

“Er nimmt ihn bestimmt als Druckmittel. Wenn du also die Polizei einschaltest wird er in grosser Gefahr sein. Ich will nicht, dass ihm etwas zustösst”, schluchzte Lena.

“Wenn ihm etwas zustösst, dann ist das einzig und alleine deine Schuld und das würde ich dir niemals verzeihen”, entfuhr es Liam. Er war völlig in Rage und nervlich am Ende.

“Wenn die Polizei wirklich alles schlimmer macht, dann müssen wir es eben auf die eigene Faust regeln”, meinte er schliesslich und schlug sich mit eben dieser bestätigend auf den Oberschenkel.

In dieser Nacht hatte er kein Auge zugedrückt. Die Gedanken an seinen Sohn waren ständig präsent. Er hörte den Wind im Kinderzimmer. Der Vorhang peitschte gegen die Wand. Lena lag neben ihm im Bett und schluchzte vor sich hin. Liam wusste nicht, ob er sie trösten oder hassen sollte. Er hatte schnell einmal Mitleid wenn jemand um ihn herum anfing zu weinen. Wie konnte sie ihm das nur antun? Er hatte immer pünktlich die Alimente beglichen, sich um seinen Sohn gekümmert und sich regelmässig nach dem Wohlbefinden bei ihr erkundigt. Zum Dank kam sie mit einer verworrenen Geschichte und machte ihn zur Zielscheibe der Mafia. Er wälzte sich im Bett hin und her. Er musste sich einen Plan ausdenken. Doch er wusste nicht, wo er überhaupt hätte anfangen sollen. Die Gefahr lauerte an jeder Ecke. Nicht einmal in seiner Wohnung schien er mehr sicher zu sein. Immerhin hatten es diese Bastarde geschafft, unentdeckt in das Zimmer im vierten Stockwerk zu gelangen, ein Kind zu entführen und sich aus dem Staub zu machen. Vom Schockmoment bis zum Betreten des Kinderzimmers waren ungefähr dreissig Sekunden verstrichen und dennoch hatten sie es geschafft, unentdeckt zu fliehen. Liam wusste, dass er es mit Profis zu tun hatte und ohne Hilfe der Polizei würde es für ihn unglaublich schwierig werden, sie zu überlisten. Mehrmals stand er auf und ging ins Wohnzimmer. Er setzte sich auf die Couch. Stand wieder auf. Ging auf und ab. Im Kühlschrank fand er eine angefangene Flasche Wodka, die bestimmt schon mehr als ein Jahr lang dort drin lag. Er trank selten Alkohol. Schon gar nicht alleine. Aber jetzt brauchte er einen Schluck. Es schmeckte grässlich. Er goss den restlichen Inhalt der Flasche in den Abfluss. Dann dachte er an eine Zigarette, die er so gut hätte gebrauchen können, um sich zu beruhigen. Doch die Terrasse war zu gefährlich für ihn. Man hätte ihn gesehen, selbst ohne Licht in der Wohnung. Die Glut an der Zigarette hätte ihn womöglich verraten. Er konnte und wollte das Risiko nicht eingehen, wegen einer Zigarette erschossen zu werden. Er setzte sich erneut an seinen Computer und durchforstete das Internet nach bekannten Fällen von Kindesentführungen. Wie er schockiert feststellen musste kam dies gar nicht so selten vor. Teilweise wurden die Kinder von ihren eigenen Müttern ins Ausland entführt, damit die Väter den Kontakt verloren. Einige der entführten Kinder galten seit Jahren als vermisst, so dass die Polizei die Suche mittlerweile eingestellt hatte. Beim Gedanken an Bernard schnürte es ihm die Kehle zu. Er war machtlos und im schlimmsten Fall würde er Bernard nie wieder sehen. Hätte er vielleicht doch besser die Polizei eingeschaltet? Vermutlich hätte er unter den Fotos der vermissten Kindern irgendwann das Foto seines Sohnes entdeckt. Er klappte den Laptop zu und legte sich auf die Couch. Sein Blick suchte die Decke, doch es war zu dunkel, um sie zu erkennen. Es war einfach nur schwarz. Genauso dunkel und schwarz wie in seinem Herzen. Doch er konnte in jenem Moment absolut nichts dagegen tun. Ausser für seinen Sohn zu beten. Hin und wieder hörte er ein Auto, das unten auf der Strasse vorbeifuhr. Oder das Geräusch der Kirchturmglocken, dessen Schall vom Wind durch den Vorort getragen wurde. Doch seine wirren Gedanken liessen ihn einfach nicht einschlafen.

Im Schatten des Todes

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