Читать книгу Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst - Aristoteles - Страница 101
d) Selbstliebe
ОглавлениеEine weitere Frage ist die: ist es Pflicht sich selbst am meisten zu lieben oder den Nächsten? Man hat gemeinhin für den der sich selbst am meisten liebt nur Tadel; man schilt ihn, als sei er in verwerflicher Selbstsucht befangen. Es ist die allgemeine Ansicht, daß ein Mensch von niedriger Gesinnung alles um seiner selbst willen tut, und je schlechter einer von Charakter ist, umso mehr. Man macht ihm also einen Vorwurf in dem Sinne, daß er nichts tue ohne dabei an sich zu denken. Ein edel gesinnter Mensch dagegen tue alles zu sittlichem Zwecke, und je edler einer von Wesen sei, desto mehr sei sein Motiv die sittliche Pflicht und die Zuneigung zu anderen, während er das eigene Interesse hintansetze.
Indessen, zur Wirklichkeit der Dinge wollen solche Auffassungen schlechterdings nicht stimmen, und das ist auch gar nicht unverständlich. Es heißt wohl, es sei Pflicht, den am meisten zu lieben, der uns am innigsten verbunden sei; am innigsten verbunden aber ist uns der, der, wenn er uns alles Gute wünscht, es rein um unserer Person selber willen wünscht, auch wenn niemand etwas davon erfahren sollte. Das aber paßt am meisten auf jeden Menschen im Verhältnis zu sich selbst, und von allem übrigen, was zum Begriff der Freundschaft gehört, gilt genau dasselbe. Wir haben dargelegt, daß das was für freundschaftliche Liebesgesinnung bezeichnend ist, erst von dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst auf das Verhältnis zu den anderen übertragen ist. Das drücken übereinstimmend auch alle solche Sprichwörter aus wie: »Zwei Menschen und eine Seele«; »Unter Freunden ist alles gemeinsam«; »Gleich sein, Freund sein«; »Das Knie ist einem näher als die Wade«. Dies alles also gilt am meisten im Verhältnis eines jeden zu der eigenen Person. Ein jeder ist sich selbst der Nächste, und so muß er denn auch wohl sich selbst am meisten lieben.
Da erhebt sich naturgemäß die Frage: welcher von beiden Ansichten soll man sich nun anschließen? Haben doch beide guten Grund für sich. Man wird solcher Verschiedenheit der Auffassungen gegenüber wohl zu unterscheiden und genau die Grenze zu bestimmen haben, bis zu welcher, und die Beziehung, in welcher jede die Wahrheit für sich hat.
Die Sache läßt sich leicht ins reine bringen, wenn man sich nur klar macht, was denn eigentlich jede der beiden Ansichten unter Selbstliebe versteht. Die einen, die aus ihr einen Vorwurf machen, verstehen unter Selbstliebe das Streben, der eigenen Person so viel wie möglich an Geld, Ehren und sinnlichen Genüssen zuzuwenden. Das bezeichnet nun in der Tat das Streben der meisten Menschen: das ist es, worauf sie die größte Mühe verwenden, als wäre es das höchste Gut; und darum sind diese Dinge auch so heftig umstritten. Menschen, deren selbstsüchtiges Streben auf dergleichen gerichtet ist, geben ihren Begierden willfährig nach; sie lassen sich überhaupt von erregten Gefühlen leiten und willfahrender vernunftlosen Seite ihres Inneren. Damit ist nun allerdings die Art der großen Masse gekennzeichnet, und daher hat denn auch das Wort Selbstliebe seine Bedeutung zugewiesen bekommen von der Menge, die niedriger Gesinnung ist.
Diejenigen nun, die Selbstliebe in diesem Sinne hegen, verurteilt man mit Recht; es läßt sich aber nicht verkennen, daß die Masse von Selbstliebe bei denjenigen zu sprechen gewohnt ist, die in diesem Sinne für sich bedacht sind. Wenn einer immer nur darum bemüht ist, selbst in seinem Tun sich vor allem an das Gerechte oder an das Maßvolle oder was irgendsonst Ausfluß sittlicher Gesinnung ist zu halten und überhaupt immer alles Edle und Hohe sich anzueignen, so wird einem solchen Mann niemand Selbstliebe zuschreiben oder sie ihm zum Vorwurf machen. Und doch darf einem solchen Mann Selbstliebe erst recht nachgesagt werden. Er nimmt für sich das Herrlichste, die Güter die es im höchsten Sinne sind, in Anspruch; er willfahrt dem was an ihm selbst sein eigentlichstes Wesen ist, und diesem leistet er in allen Stücken Gehorsam.
Was nun vom Staate wie von jedem anderen zusammengesetzten Gebilde gilt, nämlich daß das was an ihm den wesentlichsten Kern ausmacht, ihn im vollsten Sinne darstellt, das gilt ebenso auch vom einzelnen Menschen. Und so liebt denn der am eigentlichsten sich selbst, der dieses sein Wesen liebt und ihm zu Gefallen lebt. Man schreibt jemandem Selbstbeherrschung und Mangel an Herrschaft über sich zu, je nachdem die Vernunft in ihm die Herrschaft hat oder nicht, weil man meint, daß das eigentliche Selbst eines jeden eben die Vernunft ist. Als eigene, frei vollbrachte Tat setzt man jedem nur das in Rechnung, was er am meisten mit vernünftiger Überlegung vollbracht hat. Daß also dies eines jeden eigentliches Selbst oder es doch mehr ist als alles andere, läßt sich nicht verkennen, und ebensowenig daß ein Mensch von sittlichen Grundsätzen darin die reichste Befriedigung findet.
Darum ist er gerade derjenige, bei dem die Selbstliebe am stärksten ausgebildet ist; nur ist sie es in einer anderen Bedeutung als die die man verurteilt. Sie unterscheidet sich von dieser gerade so weit, wie das Leben nach der Vernunft sich von dem Leben nach Gefühlserregungen, und das Streben nach sittlichen Zielen von dem Streben nach scheinbarem Vorteil unterscheidet. Menschen, die in hervorragendem Maße mit allem Eifer auf sittliche Betätigung bedacht sind, gewinnen sich bei allen Sympathie und Beifall. Würden alle Menschen wetteifernd um sittliche Ziele ringen und zu edler Tat die Kräfte regen, so würde im Gemeinwesen alles stehen wie es soll und jeder einzelne für seine Person die höchsten Güter besitzen, wenn nämlich sittliche Vorzüge ein solches Gut darstellen. Ein edelgesinnter Mensch ist demnach zur Selbstliebe geradezu verpflichtet; denn von seiner sittlichen Betätigung wird er selbst den Segen genießen, und die anderen werden sich ihrer fördernden Wirkung erfreuen. Bei einem Menschen von schlechtem Charakter dagegen ist sie allerdings übel angebracht; denn ein solcher wird, indem er seinen niederen Antrieben folgt, sich selbst und seinen Nächsten nur schädigen.
Bei dem schlechten Menschen klafft also zwischen dem was er tun sollte und dem was er wirklich tut ein Widerspruch; der gute Mensch dagegen tut das was er tun soll. Denn die Vernunft entscheidet sich jedesmal für das was ihr das Entsprechendste ist, und ein guter Mensch gehorcht der Vernunft. Gewiß also tut ein pflichtgetreuer Mensch auch für seine Freunde und für sein Vaterland vieles; ja, er setzt wenn es nötig ist für sie sein Leben ein. Er gibt Geld und Ehrenstellen, überhaupt alle vielumworbenen Güter dahin, um sich dafür das was edel und herrlich ist zu gewinnen; er will lieber kurze Zeit die höchste Seligkeit genießen als lange Zeitmäßigen Genuß erlangen und lieber ein Jahr hindurch ein Leben voll edlen Gehaltes als viele Jahre hindurch ein Leben führen wie es sich eben trifft; lieber eine edle und bedeutsame Tat vollbringen als eine Menge von unbedeutenden Beschäftigungen treiben. Dies alles trifft bei dem zu, der sein Leben hingibt; er wählt sich damit ein bedeutendes und ein edles Los. Solche Menschen bringen denn auch wohl Geldopfer, damit ihre Freunde dadurch größeren Vorteil erlangen. Dann fällt dem Freunde der Vorteil, ihnen der Ruhm der edlen Tat zu; es ist also das höhere Gut, was sie für sich gewinnen. In bezug auf Ehrenstellen und Ämter ist das Verhalten dasselbe. Er wird alles dergleichen gern dem Freunde überlassen; denn dann fällt ihm zu was edel und preiswürdig ist. So wird er denn mit Recht als ein Mann von sittlicher Gesinnung geachtet, da er die edle Tat höher stellt als alles andere. Es kann selbst geschehen, daß er große Dinge, die zu vollbringen sind, dem Freunde überläßt und es für ihn ein edlerer Entschluß ist, dem Freunde dazu den Anlaß zu gewähren, als sie selbst zu vollbringen. So nimmt denn offenbar in allem was des Beifalls würdig ist der Mann von sittlicher Gesinnung den größeren Anteil von dem was edel und wertvoll ist für sich in Anspruch. In diesem Sinne also, wie wir sie geschildert haben, ist Selbstliebe Pflicht; allerdings eine solche wie die große Menge sie übt, die sollte nicht sein.