Читать книгу Was ich mir mit dir erträume - Armin Rittel - Страница 10
Оглавление3. Kapitel
Hans blickte in Sabines Augen, verlor sich in deren Bergseeblau und tauchte ein in ihre Seele. Ihre Finger strichen ihm zärtlich über die Wange, zogen ihn langsam zu sich. Als ihre Lippen aufeinandertrafen, schloss er die Lider. Seine Hand liebkoste sanft ihr blondes Haar, während sie sich küssten. Sabines Zunge erforschte Hans’ Mund, fand die Zungenspitze, drängte sie leidenschaftlich zurück. Wonnig stöhnte sie auf, als Hans‘ Hand tastend nach unten wanderte, ihren Po umfasste und genießerisch zugriff. Sabines Zunge zirkelte tiefer in die Körperöffnung und schien schlagartig anzuschwellen. Ihr Griff um seine Wangen festigte sich. Hans schnaubte. Das Objekt im Mund vergrößerte sich erneut, schob sich weiter den Hals hinunter. Wie ein Luftballon, der in die Mundhöhle hinein aufgeblasen wurde. Er würgte, versuchte zu atmen. Panisch stieß er sie von sich. Erfolglos. Sein Kopf fest im Schraubstock ihrer Hände. Er wand sich, saugte Luft durch die Nase. Aber der Knebel im Mund verhinderte, dass der rettende Atem die Lunge erreichte. Heiß pulsierte das Blut in seinem Schädel. Zum Platzen gespannt war sein Gesicht, wie eine überreife Wassermelone in einer Schraubzwinge. Ein Kribbeln brandete durch den Körper. Beinahe schmerzhaft schrumpelte sein Hodensack in sich zusammen. Stroboskopartig nahm er durch das Flattern der Augenlider die Veränderung an Sabine wahr. Eine faltige Persiflage ihres hübschen Gesichts starrte ihn hämisch grinsend an. Hilflos zappelnd und strampelnd bäumte er sich erneut auf, schwächer werdend, um von ihr loszukommen. Schweiß perlte von der Stirn. Sein Körper zuckte unkoordiniert, wie von einer höheren Macht durchgeschüttelt. Speichel rann aus seinem Mundwinkel, Lichtpunkte tanzten durch sein Gesichtsfeld, durchwirbelt vom Anblick zotteliger grauer Haare und milchig trüber blauer Augen. Kraftlos gab er den Kampf auf, sackte in sich zusammen. Trieb gleichmütig dem Unvermeidlichen entgegen. Er war sich sicher: Er starb. Zufrieden gab ihn die übermenschliche Klammer frei.
Hans schreckte in die Höhe. Wie ein Ertrinkender die Wasseroberfläche durchbrach er die Grenze zur Realität. Geräuschvoll saugte er den rettenden Sauerstoff in die Lungen. Sein Puls hämmerte in der Halsschlagader. Hechelnd kam er zu Atem. Eine Berührung an der Schulter ließ ihn zusammenzucken. Seine Hand schnellte hervor, wehrte diese instinktgesteuert ab. „Hans!“ Der Klang seines Namens zog ihn endgültig zurück ins Hier und Jetzt. Die Reste des Alptraums tropften von ihm ab und zerrannen. Er lag im Bett, im Schlafzimmer, das Leselicht brannte. Sicherheit. „Alles in Ordnung?“, drang die Stimme seiner Ehefrau in sein Bewusstsein. Fürsorglich hatte sie sich ihm zugewandt, tätschelte ihm beruhigend den Rücken. „Was w …?“, krächzte der Mann, rieb sich am Hals und der Rest des Satzes blieb irgendwo stecken. „Du hast geschnarcht! Anders als sonst, viel lauter. Bin davon wach geworden und plötzlich …“ Sabine fasste sich an den Mund. „Plötzlich hast du aufgehört zu atmen. Ich bin so erschrocken! Selbst mit Schütteln habe ich dich nicht wach bekommen!“ Sie verlor ihre aufrechte Haltung. „Ich war drauf und dran den Notarzt zu rufen!“ Hans ließ den Traum vor seinem inneren Auge Revue passieren, bemerkte anschließend: „Hatte ’nen Alptraum. Dachte ich ersticke. Aber ist ja jetzt vorbei. Soweit alles o.k.!“ Die trockene Kehle kratzte, zwang ihn, sich zu räuspern. „Really?“ Anstelle einer Antwort schüttelt er die Bettdecke zurecht, ließ sich ins Kopfkissen fallen, drehte sich zur Seite und versuchte, erneut einzuschlafen. Er spürte, wie Sabine ihre Hand langsam zurückzog, die Wellenbewegung der Matratze, als auch sie sich von ihm wegdrehte.
Kurze Zeit später ließ die gleichmäßige Atmung vermuten, dass sie bereits wieder schlummerte. Ihn schien der Schlaf gleichwohl zu meiden, denn der Alptraum hatte sich tief in seine Gedanken gekrallt. Bis zum Morgen wälzte er sich beständig hin und her, unterbrochen von flüchtigen Episoden konfuser Träume. Den Wecker schaltete Hans vor dem Piepen aus, wurstelte sich aus den schweißnassen Laken. Er setzte sich auf den Bettrand, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestemmt, und stützte den Kopf mit beiden Händen. Einen kurzen Moment hielt er inne, bevor er sich mit steifen Gelenken aufrappelte und aus dem Schlafzimmer schlich, um Frühstück für seine Familie vorzubereiten. Heute dauerte dabei jeder Handgriff doppelt so lange, denn es fiel ihm schwer, sich auf sein Handeln zu konzentrieren. Die Gedanken kehrten wie ein Bumerang zu dem Traum zurück. Zu der Todesangst, die ihn überfallen hatte. Und der Rolle, die seine Frau darin gespielt hatte.
Hans versuchte zu ergründen, ob er dieser Horrorvision eine höhere Bedeutung beimessen sollte. Das Rauschen der Dusche im oberen Stockwerk erinnerte ihn daran, dass es mittlerweile an der Zeit war, Philip zu wecken. Er trottete nach oben ins Kinderzimmer, setzte sich auf den Bettrand und betrachtete den friedlich schlummernden Jungen. Die Decke hatte er zu einem dicken Wulst zusammengestrampelt, den er innig umarmte. Sein Atem pfiff kaum hörbar aus der Nase und sporadisch zuckte der kleine Körper. „Hoffentlich träumt er wenigstens etwas Schönes!“, wünschte der Vater und labte sich weiter an dem Idyll. Er schnaufte geräuschvoll ein. Der abgestandene Geruch der Nacht drang in seine Nase, der gleichsam Behaglichkeit und Geborgenheit vermittelte. Es wirkte jedes Mal versöhnend und beruhigend auf ihn, Philip beim Schlafen zu beobachten. So friedlich und arglos, wie das Kind dalag, kostete es ihn einige Überwindung, es zu wecken. Sanft streichelt er dessen Wange, woraufhin langsam Bewegung in den Körper kam. Mit einem Ohr nahm Hans wahr, wie die Badezimmertür geschlossen wurde und Sabine sich hinunter zum Frühstücken begab. Philip reckte sich und krabbelte wortlos in die Arme seines Vaters, kuschelte sich an ihn. „Trag mich!“, murmelte er. „Du bist doch schon groß genug, um selbst zu laufen!“ „Aber ich bin doch noch sooo müde!“ Um diese Aussage zu untermauern, gähnte der Kleine gedehnt. Hans schmunzelte und stapfte mit seiner Last ebenfalls nach unten. Sabine löffelte im Umhergehen Müsli aus einer Schale, sie hatte sich ihr Smartphone zwischen Ohr und Schulter geklemmt. „Wir telefonieren später noch mal!“ Sie beendete das Gespräch, stellte ihren Coffee-to-go Becher unter die Kaffeemaschine und ließ sich ihn füllen. Hans wandte sich seinem Sohn zu: „Typisch Mama, immer in Eile!“ „Tja und wenn ihr zwei noch lange so herumsteht wie ein Koala-Papa mit dem Baby auf dem Arm, kommt auch ihr zu spät“, konterte sie. Mit einem Schnappen verschloss sie die Tasse, huschte um die Küchentheke herum zu ihren Männern. Sie spitzte die Lippen, schloss die Augen und näherte sich Philips Gesicht. Wie ein Blitz durchzuckte es Hans. Sein Beschützerinstinkt war in einem Sekundenbruchteil aktiviert. Unvermittelt drehte er den Oberkörper, lehnte sich mit einem Ausfallschritt zurück. Sabines Kuss verpuffte ins Leere. Sein Sohn war gerettet! Verdutzt öffnete sie die Augen und fixierte Hans. Nach einer kurzen Pause, über sein Verhalten nicht weniger verwundert, stammelte er: „Ähm, brauchst du irgendwas Besonderes, wenn ich nachher Einkaufen gehe?“. Sie schürzte die Lippen und ignorierte das unbeholfene Ablenkungsmanöver. „Was war das denn?“, verlangte Sabine zu wissen. Das Einzige, das die Stille durchbrach, war ein gleichmäßiges Ticken. Ihre Augen wanderten zur Küchenuhr. „Fuck, I’m late! Darüber reden wir später noch mal!“ Betreten musterte Hans seine nackten Füße, die Finger zwirbelten den Stoff der Schlafanzughose. Sabine umfasste Philips Kopf, zog ihn zu sich und küsste ihn auf die Stirn. Dabei schielte sie auf ihren Ehepartner, der immer noch den Blick abgewandt hatte. „Bis heute Abend“, sagte sie zum Abschied, drehte sich um und hastete zur Tür.
*
Die Gedanken an den Alptraum prägten den restlichen Tagesablauf. Egal, was zu erledigen war, Hans fiel es schwer, bei der Sache zu bleiben. Weder der übliche Plausch im Kindergarten, als er Philip dort abgab, noch das Einkaufen oder die tägliche Zeitungslektüre bereiteten ihm Freude. Er faltete das Blatt grob zusammen und schleuderte es auf den Tisch. Staubsaugen stand auf der heutigen To-do-Liste, doch er schaltete das Gerät alsbald aus. Hans griff sich an den Hals und betastete den Kehlkopf. Der Nachhall der Todesangst echote in seinem Hirn. Er starrte zur Fensterfront hinaus, doch sein Blick ging über die Häuser hinweg ins Leere. Schier war wieder diese mörderische Zunge in seinem Mund am Anschwellen, zudem kehrte das trockene Gefühl zurück. Er trottete in die Küche, goss Wasser in ein Glas und trank hastig wie ein Verdurstender in der Wüste. Ziellos schwenkte sein Blick durch den Wohnraum. Er blieb am Schrank im Esszimmer hängen.
Die antike Vitrine war aus Wurzelholz gefertigt. Mit einer Politur aus Schellack hatte er der Oberfläche zu neuem Glanz verholfen. Die geschwungenen Türen eigenhändig neu verglast, und diesem und jenen Holzwurm persönlich den Krieg erklärt. Das Möbelstück war seit einigen Generationen im Familienbesitz und erinnerte ihn an seine Eltern und die sorgenfreie Kindheit. Da sie vor ein paar Jahren verstorben waren und er keine Geschwister hatte, war es an ihm, das Erbstück in Ehren zu halten. Die Erinnerung an den Kampf mit Sabine war präsent wie Szenen aus seinen Lieblingsfilmen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde die Vitrine nicht hier stehen. Er war beharrlich geblieben und hatte sich zu guter Letzt durchgesetzt. Zugegeben, der Schrank passte nicht zu dem modernen, nüchternen Einrichtungsstil des Hauses. Soweit folgte er Sabines Argumentation. Für ihn war das antike Stück jedoch mehr als ein wurmstichiges Möbel. Er stellte eine weitere Oase in dem kühlen häuslichen Umfeld dar. Das warme Kastanienbraun kontrastierte zum ubiquitär vorherrschenden Weiß. Hans schätzte die beinahe meditative Wirkung, die von der filigranen Maserung des Holzes ausging. Mit seinen Fingern strich er sanft, fast zärtlich über die Oberfläche, ertastete die schwachen Unebenheiten, die Macken und Schrammen. Vom Leben gezeichnet, assoziierte er und gedachte der Wunden, die ihm das irdische Dasein im Laufe der Jahre geschlagen hatte. Nicht alle waren verheilt.
Der frühe Tod seiner Eltern zum Beispiel hatte ihn nachhaltig traumatisiert. Sie beide bei einem dramatischen Autounfall zu verlieren, hatte ihn gezeichnet. So stand er von einem auf den anderen Tag als Vollwaise in der Welt. Hans war sich nicht sicher, ob er dieses Unglück ohne Sabines liebevolle Unterstützung und Trost überlebt hätte. Duldsam hatte sie seine Stimmungsschwankungen ertragen, versucht, ihn nach Möglichkeit aufzuheitern. Sie war ihm nicht nur die mustergültige Ehefrau gewesen, sondern auch der beste Kumpel. Er indes hatte sich in die Arbeit gestürzt, um das Loch, das in sein Umfeld gerissen worden war, irgendwie zu füllen. Er müsse doch im Leben vorankommen, hatte er Sabine seinerzeit erklärt. Dieser Satz entwickelte sich zu seinem Mantra. Und es funktionierte eine Weile wie geschmiert. Die Tätigkeit im Jugendamt lenkte ihn ab und die Anerkennung für sein überdurchschnittliches Engagement war Balsam für seine Seele. Jeder Erfolg ließ ihn nach weiterem Lob heischen, so schien ihm es konsequent, dass er sich noch mehr Arbeit auflud. Die positive Wirkung nutzte sich jedoch immer rascher ab. Wie eine Drogensucht, deren Entzugssymptomatik gesteigerte Dosen verlangte. Zudem holte ihn die Trauer wieder ein. Sie hatte sich unbemerkt eingeschlichen, wie ein Krebsgeschwür, das sich langsam ausbreitete und sein umgängliches Wesen häppchenweise auffraß. Erst als wiederholte Beschwerden bei den Vorgesetzten eingingen und diese Hans damit konfrontierten, sah er sich genötigt, sein Verhalten zu reflektieren.
Die Erkenntnis, dass er sich in einem Teufelskreis bewegte, traf ihn wie ein Hammer. Sein Ziel war gewesen, dass die verstorbenen Eltern stolz auf ihn hätten sein können. Stattdessen hatte er sich in eine Abhängigkeit begeben, die denen mancher seiner Klienten in nichts nachstand. „Machen Sie mal ein paar Tage Urlaub. Und suchen Sie sich professionelle Hilfe!“, hatte man ihm nahegelegt, wie er es selbst vielen geraten hatte, wenn er eine Entziehungskur empfahl. „Sobald Sie wieder oben auf sind, können Sie jederzeit gerne bei uns einsteigen!“ Die wenigen Therapiesitzungen, die es gebraucht hatte, um ihn zu erden, brachten eine ungeahnte Nebenwirkung mit sich. Seine Sichtweise hatte sich in einigen Punkten seit damals drastisch verändert. Er hatte aufgehört, dem Schicksal zu zürnen. Vorher war er von Aggressionen und Wut angefüllt, weil die eigenen Eltern so früh das Zeitliche segnen mussten. Heute war Hans zufrieden, dass es ihnen wenigstens vergönnt gewesen war, seine Hochzeit mitzuerleben. „Man soll froh und dankbar sein, über die gemeinsame Zeit, die man hatte!“, war sein Motto geworden und: „Es gibt nichts Wichtigeres als die Familie!“ Mit dieser Veränderung fiel gleichsam sein krankhafter Wunsch nach Anerkennung von ihm ab. Es erschien ihm nicht mehr bedeutsam. Zugegeben, sein Leben war auch jetzt nicht ständig voller Sonnenschein. Sporadisch überkam ihn die Traurigkeit über den Verlust. Vor allem, wenn er sich vorstellte, dass sie nie die Chance hatten, ihren Enkel kennenzulernen. Allerdings war es eher eine Art von Liebe erfüllter Melancholie, im Gegensatz zu jener Bitterkeit, die ihn einstmals heimsuchte.
Philip sah dem Großvater in einigen Zügen verblüffend ähnlich. Vielleicht war das ein Grund mehr für Hans, seinen Sohn abgöttisch zu lieben. War deswegen dieser Alptraum so schockierend für ihn als Vater gewesen, weil ihm bewusst wurde, sein Kind nie wieder sehen zu können. Waren seinen Eltern ähnliche Gedanken durch den Kopf geschossen? In den wenigen Sekunden, in denen das Auto auf regennasser Straße gerutscht war, bevor es nahezu ungebremst in den Tanklastwagen donnerte? Während der kurzen Zeitspanne, in der sich das Benzin über ihr Fahrzeug ergoss? Als ihnen dämmerte, dass sie das Autowrack nicht mehr lebend verlassen würden? „Die Indizien sprechen dafür, dass Ihr Vater versucht hat Ihre eingeklemmte Mutter zu befreien“, echote es in der Erinnerung, „bevor das austretende Benzin sich entzündete! Es tut mir leid, Herr Werther.“ Dieser Satz des Polizeibeamten, der ihm die Nachricht überbracht hatte, hatte sich für immer und ewig in das Gedächtnis gebrannt. Hätte Hans’ Vater wenigstens sich retten können? Er raufte sich die kurzen Haare, schüttelte den Kopf. Wissen, das man besser nie gehabt hätte! Welche Entscheidung wäre die seine gewesen in diesem Moment? Die gegen Philip, den eigenen Sohn?
Wenn er es jetzt nicht schleunigst schaffte, die Gedanken in andere Bahnen zu lenken, würde es schwer, nicht in einem depressiven Sumpf zu versinken. Das hatte ihn die Erfahrung gelehrt. Hans schlurfte in die Küche. Freudlos ging er daran, Kochutensilien und Zutaten zusammenzusuchen und stellte sie bewusst grob auf die Arbeitsfläche. Töpfe klapperten. Sonst bereitete ihm das Kochen Vergnügen, aber jetzt war es nicht mehr denn ein hilfloser Versuch, die trübsinnige Laune zu vertreiben. Seine Stimmung besserte sich erst, als er sich nach dem Essen zu Philip auf den Spielteppich setzte. Dessen aufrichtiges Lachen war ansteckend und blies die üblen Gedanken weg, wie ein frischer Wind die Gewitterwolken. Und Staubsaugen konnte er ja später noch. Hans genoss die unbeschwerten Stunden mit seinem Sohn. Die beiden alberten immer noch ausgelassen, als die Haustür mit einem markerschütternden Donnern ins Schloss geworfen wurde.
*
Die Wohnzimmertür vibrierte in ihrem Rahmen. Hans zog die Mundwinkel schief, schaute seinem Sohn besorgt in die Augen. Dieser legte den Kopf zur Seite und zuckte fragend mit den Schultern. „Die fuck Arschlöcher!“, schallte es vom Flur herein, begleitet von einem dumpfen Geräusch, das nahelegte, dass ein Schuh in die Ecke gekickt wurde. Der Zweite folgte kurz darauf. Sabine öffnete mit einem vehementen Ruck die Zimmertür, ignorierte ihre Familie, stampfte schnurstracks zur Couch und ließ sich in das Polster fallen, knetete energisch ihre Füße und fluchte murmelnd vor sich hin. Schwerfällig richtete sich ihr Ehemann auf, begab sich zum Sofa und setzte sich auf die Lehne. Zärtlich legte er eine Hand auf ihren Kopf und streichelte behutsam über das Haar. „Dein Meeting ist wohl nicht so verlaufen wie geplant, oder?“ Sabine wog kurz ab, ob sie nicht eine Spur Ironie in der Stimme ihres Gatten vernommen hatte. Das war das Letzte, was sie im Moment ertragen könnte. Unschlüssig hierüber antwortete sie mit einem Schnauben. „Möchtest du mit mir darüber reden?“, bot Hans an. Sie drehte den Kopf zu ihm, zog die Augenbrauen empor und drückte ihren Rücken kerzengerade durch. „Mit dir?“, erwiderte sie gedehnt, „Du hast doch keine Ahnung!“ Er wich zurück, hob kapitulierend beide Hände. „Schon gut, schon gut. War nur ein unverbindliches Angebot.“ Sabine verdrehte die Augen und schnellte gleich einer Sprungfeder vom Sofa auf. „Ich muss hier raus!“, stellte sie lapidar fest und war im Begriff, das Zimmer zu verlassen. „Wo willst du hin?“, verlangte Hans zu wissen. „Nicht, dass ich dir Rechenschaft schuldig wäre, aber ich gehe mich auspowern! Sonst raste ich aus!“ Ehe er etwas erwidern konnte, knallte auch schon die Wohnzimmertür, stampften Schritte die Treppe nach oben und hinterließen zwei Fragezeichen. Ein großes und ein kleines.
Kurz darauf trampelten die Füße wieder hinunter. Die Sporttasche, leuchtete es Hans ein. Türknallen. Jeder dieser Tritte war für ihn wie ein Stoß in den Magen, ihre Missachtung ihm gegenüber wie eine Ohrfeige. Ein dumpfer, drückender Schmerz breitete sich in der Bauchregion aus. Warum stieß sie ihn zurück? Hatte er wirklich keine Ahnung von ihrem Berufsleben? Von ihrer Art, mit Stress umzugehen? Immerhin kannten sie sich fast 20 Jahre. Eins stand zumindest fest, wenn sie nicht bereit war, mit ihm zu reden, dann war daran nicht zu rütteln. Später vielleicht. Trotzdem wurmte es ihn, dass sie ihm wieder einmal keine Chance gelassen hatte, sich zu äußern. Er presste die Lippen aufeinander, klatschte die flachen Hände vor seinem Gesicht zusammen und führte sie langsam zum Mund. Sowie ihm die betende, bittende Geste bewusst wurde, schien sie ihm irgendwie passend. Wahrscheinlich würde er wirklich Beistand von einer höheren Macht benötigen, um eine Lösung zu finden, mit der er leben könnte.
„Tja, da hat Mama uns Männer mal wieder sitzen gelassen“, witzelte er, an seinen Sohn gewandt. „Sieht so aus, als würden wir den Abend für uns alleine haben. Hunger?“ Philip nickte übertrieben und stürmte voraus in die Küche, um den Inhalt des Kühlschranks zu inspizieren. Das Geräusch der Brotschneidemaschine kündigte den Geruch von frischem Brot an. Hans wusch eine Handvoll Cocktailtomaten, von denen sein Sohn bereits die ersten stibitzte, bevor alles zum Esszimmertisch getragen worden war. Sie aßen schweigend. Im Anschluss erlaubte Hans dem Jungen, noch eine Kindersendung im Fernsehen anzuschauen, während er abräumte. Gemeinsam verfolgten sie die Sandmännchengeschichte. Wenn jemand den Vater nach dem Inhalt gefragt hätte, wäre dieser sicher die Antwort schuldig geblieben. Körperlich weilte er auf dem Sofa, neben Philip, doch die Gedanken rasten auf einer Achterbahnfahrt. Er rutschte unbehaglich von einer Pobacke auf die andere. Die Geräuschfetzen und die bunten Farben, die sein Bewusstsein streiften, schienen ihm übertrieben grell, schrien ihn an. Mit der Hand rieb er sich über den Arm, als gäbe es etwas abzustreifen. Als würde irgendetwas an ihm haften, von dem er sich dringend befreien musste. Philip bemerkte nichts davon. Er feuerte Lachsalven ab und kommentierte das Gesehene. Die Sandmannmelodie war für Hans das Signal, zur Fernbedienung zu greifen. Er nahm den Jungen huckepack und trug ihn in sein Zimmer. Wie immer gab es eine Gutenachtgeschichte. Entgegen der Gewohnheit blieb der Vater noch lange bei seinem Sohn am Bett sitzen und streichelte ihn in den Schlaf. „Hab dich lieb!“, murmelte Philip zuletzt. „Ich dich auch!“ Mit einem zärtlichen Kuss auf die Stirn verabschiedete er sich. Gerade als er die Treppe herunterschlich, öffnete sich mit leisem Klacken die Haustür.
Sabine trat herein. Eine Duftwolke eilte ihr voraus. Das Gesicht war noch dezent gerötet, und die Haare glänzten feucht. Frisch geduscht. Er senkte den Kopf und suchte ihren Blick. Mit einem Fingerwink deutete er an, dass sie ihm ins Wohnzimmer folgen sollte. Wahrscheinlich war es besser, dass er nicht mehr bemerkte, wie sie hinter seinem Rücken die Augen verdrehte und ihm eine Grimasse schnitt. Kaum war die Tür geschlossen, legte Hans los. „Ich hätte mich gefreut, wenn du vorhin nicht einfach so verschwunden wärst!“ Sabine lehnte sich mit verständnislos gerunzelter Stirn zurück. „Bin ich doch gar nicht! War doch eine klare Ansage, oder?“ „Kannst du oder willst du dir nicht vorstellen, was ich meine? Du stößt mich vor den Kopf und lässt mich, wie ein Stück verschimmeltes Obst, angeekelt links liegen. Ich finde es wirklich schade, dass du mein Hilfsangebot so geringschätzt.“ Sabine setzt zum Sprechen an, strich aber einen Großteil ihrer Widerrede zusammen und entgegnete nach kurzem Schweigen: „Hör zu: Ich brauchte erst mal eine Pause! Und kein Gelaber! O.k.?“ Hans grunzte, das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte. „Glaubst du, ich hätte nicht weniger eine Pause gebraucht? Du kannst dich vielleicht an heute Morgen erinnern? Dieser scheiß Alptraum hat mich fix und fertig gemacht! Der Tag war die Hölle! Nichts lief heute, wie es sollte, alles strengte mich doppelt und dreifach an. Es wäre schön gewesen, wenigstens am Abend ein wenig gemeinsames Familienleben zu spüren!“ Zugegeben, das war etwas dick aufgetragen, aber um seine Position zu verdeutlichen, brauchte es manchmal schwere Geschütze. Er schaute Sabine erwartungsvoll an. Hatte sie den Wink verstanden? Konnte sie ahnen, was er sich erhoffte? Eigentlich etwas Selbstverständliches. Banale Normalität! Wie in anderen Familien auch! Sie wandte sich ab, starrte ins Leere. Ihre Gesichtszüge erschlafften, ihre Mimik kraftlos in sich zusammengefallen. Fast verletzlich. Hans stutzte.
„Du hast ja keine Ahnung, wie das ist!“, murmelte sie vor sich hin, ohne jemanden zu adressieren. „Jeden Tag in dieses Haifischbecken springen zu müssen, wo sich niemand dafür interessiert, wie es dir geht. Wo dir jeder in den Rücken fällt, so bald du unaufmerksam bist. Wo deine vermeintlich nettesten Kollegen an deinem Stuhl sägen, sobald sie eine Chance auf deinen Posten sehen.“ Sie war zum Esszimmertisch gegangen. Ein Stoß ungeöffneter Briefe stach ihr ins Auge. Sie kniff die Lider zusammen und ihre Mine zementierte sich wie gewohnt. „Sogar zu schwach gewesen, um die Post zu öffnen?“, stichelte sie. Ein Kuvert nach dem anderen riss sie demonstrativ auf, überflog kurz die Inhalte. Ihre souveräne Haltung kehrte langsam zurück. „Fühlst du dich eigentlich nicht berufen, dich um unsere gemeinsame Geschäftspost zu kümmern?“, warf sie ihm schnippisch vor. „Da war eine wichtige Rechnung dabei und die Kreditunterlagen, die wir schleunigst unterschreiben müssen! Ewig halten die uns das Angebot nicht offen! Aber das interessiert dich ja nicht die Bohne! Du hast doch keinen Schimmer, wie es ist, für so viel Geld verantwortlich zu sein.“ Hans kniff ein Auge zu und fixierte seine Partnerin. „Das machst du doch alles sowieso viel besser, das hast du mich ja schon oft genug spüren lassen.“ „Kein Wunder, du stellst dich ja auch an wie der erste Mensch! Statt auch nur einmal ernst gemeintes Interesse zu zeigen, schiebst du es mir über den Tisch. Mit der Einstellung würde ich in meinem Job nicht weit kommen. Wahrscheinlich würden wir so immer noch in einer popeligen Dreizimmerwohnung hausen.“ Hans pflichtete ihr im Stillen bei. „Aber vielleicht wären wir dann etwas glücklicher …“, murmelte er.
Sabine winkte ab. „Jetzt fang nicht wieder damit an! Du hast es dir doch hier echt gemütlich gemacht! Hockst den ganzen Tag mit dem Kleinen auf dem Spielteppich, triffst dich mit den KIGA-Mamis, machst ein bisschen Hausarbeit! Und mein Geld gibst du allemal gerne aus, right? Deine Plattensammlung grows like cancer! Wer hört heute schon noch Platten?!“ Sie hatte die Arme wie einen Kronleuchter zu beiden Seiten hin ausgestreckt und zuckte ausladend mit den Schultern. „Aber was machst du, wenn es mal etwas zu entscheiden gibt? Oder du was selbst zu verantworten hast? Du drückst dich und versteckst dich hinter Philip! Seit du diese Therapie gemacht hast, frage ich mich wirklich, wo dein Arsch hingekommen ist. In deiner Hose ist er offensichtlich nicht mehr!“
Hans schluckte. Entsprach das dem Bild, das sie von ihm hatte? Und könnte sie damit recht haben? „Es mag ja sein, dass ich keine Ahnung von den großen Geschäften habe, aber weißt du denn, wie es ist, für so viel Leben verantwortlich zu sein? Bist du dir vor lauter Zahlen eigentlich noch bewusst darüber, dass es kein höheres Gut gibt als eine Familie? Sabine, wir haben einen wundervollen Sohn! Glaubst du, den könnte man durch irgendein Geld der Welt ersetzen? Wenn du dich ein wenig mehr mit ihm befassen würdest, wäre dir das klar!“, konterte Hans.
Seine Frau lachte ungebremst auf und klatschte sich affektiert mit den Händen auf die Wangen. „Oooh, kommt jetzt wieder die Kleiner-Prinz-Nummer? Hör mir doch damit auf! Ich will dir etwas verraten: Man sieht nur mit den Augen gut! Das Herz ist bestimmt nicht der beste Ratgeber. Und derjenige, der glaubt, mich eines Besseren belehren zu können, soll mal eine Woche meinen Job machen!“ Um die Endgültigkeit ihrer Behauptung zu unterstreichen, drehte sie ihren Oberkörper von ihm weg und verschränkte demonstrativ die Arme. Hans’ Herzschlag polterte gegen die Schläfen, er hörte sein Blut durch die Adern rauschen, eine Hitzewelle brandete in ihm empor. Wie aus einer Distanz heraus bemerkte er eine ausholende Bewegung seines Armes. In Zeitlupe wanderte die erhobene, flache Hand an dem Kopf vorbei, ferngesteuert, als wäre es nicht die eigene. Er fragte sich, ob das sein nächstes Argument in diesem Streitgespräch werden sollte. Auf halbem Weg zu Sabines Hinterkopf änderte Hans Intention und Richtung der Bewegung. Statt hart zu treffen berührte die Handfläche sanft ihre Schulter. Seine Gattin schüttelte ihn ab und stolzierte mit verschränkten Armen durch den Raum. „Aber Sabine, liegt dir denn nichts an Philip? Er ist doch auch DEIN Sohn!“
Eine schlagartige Furcht vor einer Antwort auf diese Frage übermannte ihn und er bereute, dass er sie überhaupt gestellt hatte. „Es ist nie zu spät, sich um eine Beziehung zu bemühen. Der Junge braucht dich!“ Hans hoffte, dass der flehentliche Appell Sabines Reaktion in eine weniger hartherzige Form gießen würde. „Du kennst meine Meinung zu dem Thema!“, entgegnete sie kühl.
Und ob er diese kannte. „Ich frage dich: Wo ist die Frau geblieben, die sich geschworen hatte, die Fehler ihrer Eltern nicht zu wiederholen, hm? Wie oft hast du deren Verhalten dir gegenüber verflucht?“ Hans erinnerte sich kurz an Sabines Schilderungen. Besonders viel wusste er nicht über sie. Irgendwo in den neuen Bundesländern wohnten sie vermutlich. Er bezweifelte sogar, dass ihnen zur Kenntnis gekommen war, dass sie einen Enkel hatten. Kontakt war nicht angesagt, da war Sabine konsequent. Er pickte das Thema wieder auf: „Weißt du was? Jetzt wirkt es so auf mich, als würdest du genau in ihre Fußstapfen treten wollen. Mitten rein! Was glaubst du, warum ich damals so sehr darum gekämpft habe, Philip nicht schon als Baby in eine Krippe zu stecken? Ich hatte immer gedacht, wir wären da einer Meinung gewesen!“ Hans ruderte hilflos mit den Armen in der Luft. Sabine hatte ihn seinerzeit mit ihrer Ankündigung, dass sie nach der Geburt möglichst bald wieder in den Job zurückkehren wollte, ziemlich vor den Kopf gestoßen. Sie argumentierte damit, dass ihre Karriere damals an einem Wendepunkt angelangt war. Sie musste sich entscheiden, denn das Zeitfenster hätte sich mit einer regulären Elternzeit unwiederbringlich geschlossen. Sie hatte sich für die Karriere entschieden. Er beobachtete, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Mit geballten Fäusten tat sie einen Schritt in seine Richtung. „Ich habe es satt, dass du jede meiner Entscheidungen kritisiert! Du tust gerade so, als hätte jedes Krippenkind einen Dachschaden. Ich bin ja auch irgendwie erwachsen geworden. Trotz allem!“
„Aber …“, setzte Hans an. Sabine ließ ihre erhobene Hand wie ein Henkersbeil herabsausen. „Ich bin noch nicht fertig! Nur weil der Herr Sozialpädagoge glaubt, alles besser zu wissen, was für ein Kind am besten ist, heißt das noch lange nicht, dass das auch der Wahrheit entspricht!“ Die Gehässigkeit seiner Frau traf ihn wie ein Messerstich in die Seite. Instinktiv hielt er schützend die Hand darüber. Körperlich war er unversehrt, aber die Attacke drang tief in die Seele hinein. Er wand sich, zu gerne hätte er sich aus dieser Szenerie weggebeamt. So etwas gab es leider nur in seiner kindlichen Fantasie. Sukzessiv war er vor Sabine zurückgewichen. Es war ihm erst aufgefallen, als die Vitrine mit einem Knarzen auf den Kontakt mit seinem Rücken reagierte. Hilfesuchend betastete er das Holz, aber statt Trost auszustrahlen, infizierte das Möbelstück ihn diesmal mit Traurigkeit und Bitterkeit. „Sabine! Glaubst du, es wäre mir anfangs so leicht gefallen, meinen Job aufzugeben? Mittlerweile weiß ich, dass es so viel wichtiger ist, sein Kind aufwachsen zu sehen! Ihm Werte zu vermitteln, mit ihm zu teilen, was einem wichtig ist! Hätten wir das fremden Menschen überlassen sollen? Dann müssten wir uns vielleicht irgendwann fragen, ob das wirklich unser Kind ist, das hier lebt.“ Hans spielte seine Trumpfkarte aus. „Hätten wir es so machen sollen wie deine Eltern?“ Sabine hatte ihm bewegungslos zugehört. Einen Moment fixierte sie den in sich zusammengesunkenen Ehepartner, zögerte, wog ab. „Ich glaube, das Kind zu bekommen war wirklich unser größter Fehler!“