Читать книгу Was ich mir mit dir erträume - Armin Rittel - Страница 9
Оглавление2. Kapitel
Hans‘ Kiefer mahlten aufeinander. Starren Blickes pflügte er durch die Menschenmenge, die sich unwillkürlich vor ihm teilte. Sein Groll war in dem Moment angeschwollen, als er Sabine in der belebten Fußgängerzone aus den Augen verloren hatte. Wie ein Hefeteig, der Zeit zum Gären brauchte. Es wirkte beinahe so, als wagte er erst jetzt, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Verstimmt kickte er mit den Knien abwechselnd gegen die beiden Plastiktaschen, die dabei unkontrolliert hin und her pendelten und sich mehr und mehr eindrehten. Die Griffe schnitten in seine Handflächen. Der Schmerz war ihm egal. Was fiel ihr eigentlich ein! Ließ sie schlicht und einfach sitzen! Die gemeinsame Zeit war ohnehin so knapp bemessen! Er trat ungelenk nach einer zerbeulten Getränkedose auf dem Gehweg, viel hätte nicht gefehlt und er wäre dabei aus dem Gleichgewicht geraten und gestolpert. Nur mit Mühe konnte er einen saftigen Fluch unterdrücken. „Da vorne is’ es, Papa!“, wies Philip hin. Der Vater tauchte aus seinen Grübeleien auf, orientierte sich kurz und wunderte sich, dass sie tatsächlich am Kino angelangt waren, so gedankenverloren, wie er durch die Straßen gestakst war.
Kaum standen sie in der Schlange vor der Kasse, driftete er wieder ab. Was war das überhaupt für eine stupide Argumentation von ihr! Hatte ihn schon mal jemand gefragt, ob er Animationsfilme mochte? Es ging doch eher darum, gemeinsame Erlebnisse als Familie zu generieren und nicht erstrangig um den eigenen Filmgenuss. Da musste man als Erwachsener auf die Kinder Rücksicht nehmen. Geistesabwesend kaufte er zwei Eintrittskarten. Jemand zupfte an der Jacke. „Kann ich Gummibärchen?“ „Kann ich Gummibärchen, hm? Kann ich Gummibärchen pupsen, oder was?“, fuhr Hans seinen Sohn an. Dieser zuckte ob der ungewohnten Vehemenz zusammen, schielte alsbald schräg nach oben und flüsterte verunsichert: „Kacken sagt man nicht, das macht man.“ Der Vater schaute herab. Zwei weit geöffnete Kulleraugen, die ihm entgegenblickten, und ein zaghaftes Lächeln ließen seinen Zorn schmelzen. „Tut mir leid, ist mir so rausgerutscht.“ Dabei knirschte er mit den Zähnen und schalt sich dafür die Wut nicht im Zaum gehalten zu haben. „Natürlich kaufe ich dir eine Tüte. Und zur Feier des Tages kaufe ich mir auch gleich noch eine, von den Sauren! Vielleicht ist ja was dran und die machen wirklich lustig!“
Die beiden begaben sich auf ihre Plätze. Hans bemühte sich, während der Werbespots und der Trailer für weitere witzige Filme für ausgelassene Stimmung zu sorgen, obwohl ihm nicht danach war. Es regte ihn ohnehin genug auf, wenn Werbung vor Kinderfilmen gezeigt wurde, da sich das Publikum bestimmt zur Hälfte aus nicht kritisch denkenden Menschen zusammensetzte. Und der Rest aus den bemitleidenswerten Erwachsenen, die sich in Kürze mit den neuen Wünschen ihrer Sprösslinge auseinanderzusetzen hatten. Der Vorhang vor der Leinwand öffnete sich ganz und der Raum verdunkelte sich vollständig. Mit der Isolation der Dunkelheit holte ihn der Groll wieder ein. Daran konnten auch die schnell wechselnden bunten Bilder und die Lautstärke kaum etwas ändern. Er durchdachte die Szene von vorhin erneut und kam zu dem Schluss, dass er nicht ausschließlich über Sabines Verhalten verstimmt war. Eigentlich ergrimmte er sich genauso über seine Reaktion. Oder genauer gesagt das Fehlen derselben. Sie hatte ihn vor vollendete Tatsachen gestellt und kaum eine Möglichkeit gelassen, Stellung zu nehmen. Sie behandelte ihren Partner wie ein Kleinkind und ihm fiel nichts Besseres ein, als sich in diese Rolle zu fügen! War ja mal wieder typisch! Hans schlug die Hände vors Gesicht, schüttelte seinen Kopf, als könne er so die Gedanken loswerden. Er atmete tief ein und aus. Andererseits, kam es ihm in den Sinn, war es aber jetzt auch nicht ganz fair von ihm, über sie zu richten, wo sie nicht hier war, um sich zu verteidigen. Was hätte er also an ihrer Stelle getan? Wahrscheinlich hätte er genauso versucht, die einmalige Gelegenheit zu nutzen. Es wäre ja auch für diese Veronika übel. Die hatte sich ja echt Mühe gegeben, um wieder mit Sabine in Kontakt zu kommen.
Ein aufbrandendes Gelächter rauschte wie eine Welle durch den Saal. Philip krümmte sich und schlug mit der Hand auf seine Oberschenkel. Im Wechsel damit deutete er auf die Leinwand, Tränen kullerten die Wangen hinab. „Hast… hast du das gesehen, Papa?“, versuchte er zu artikulieren, doch der Satz blieb fast unverständlich. „Die Pinguine fallen um wie die Dominosteine! Einer nach dem anderen! Patsch, patsch, patsch! Voll auf den Po!“ Sein Lachen war ansteckend. Als hätte sich ein Knoten gelöst, wanderten Hans‘ Mundwinkel langsam aufwärts und er fiel ins Gelächter ein, ohne zu wissen, worum es eigentlich ging. Er würde Sabine bei Gelegenheit darauf ansprechen, aber heute nicht mehr. Jetzt wollte er nur noch mit seinem Sohn den Film genießen.
*
Hans und Philip saßen bereits beim Abendessen. „Kowalski, Lage analysieren!“, piepste der Junge. Ausgelassen alberten die beiden herum. Die Wiener Würstchen in ihren Händen watschelten über den Teller, den Tisch, hüpften in den Ketchup. Auf diese Weise spielten sie einige der Filmszenen nach. „Guck mal, wie auf der Hüpfburg!“, erinnerte Hans. Es störte nicht weiter, dass ihre Actionfiguren mit jedem Bissen kürzer wurden, für Nachschub war gesorgt. Unvermittelt hielt Philip inne. Ernst kniff er die Augen zusammen. „Papa, nächstes Mal bezahl ich das Kino!“, verkündete er. Hans ließ das Würstchen in der Hand sinken. „Warum, Spatz? Behalt dein Gespartes.“ „Aber dann musst du Sabine nicht immer nach Geld fragen!“ Gerührt wuschelte er seinem Sohn durch die Haare und er fragte sich, ob der Kleine auch bereit wäre, das Haushaltskonto auszugleichen. Ihm graute davor, Sabine darum bitten zu müssen.
Vom Flur drang gutgelauntes Summen herein. Philip sprang auf und flitzte hinaus zu seiner Mutter. Die Zimmertür klatschte ins Schloss. Hans lauschte, hörte die aufgeregten Ausführungen des Kindes und Sabines kaum hörbare Antworten. Er schluckte, rieb sich mit einer Hand im Nacken. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihm aus. Ihm war bewusst, dass die Ereignisse des Tages zwischen ihnen stehen würden, so sie denn unausgesprochen blieben. Fraglos eine größere Belastung für ihn als für sie. Das Bedürfnis, sich Luft zu machen, war übermächtig, dennoch war es unheimlich schwer, Sabine seine Sichtweise nahe zu bringen. Vor allem, wenn sie kein Interesse hatte, sich überzeugen zu lassen. Und davon war auszugehen. Es war nicht weiter verwunderlich, dass diese Frau dermaßen erfolgreich im Berufsleben ihren Mann stand: Durchsetzungsvermögen, strategisches Verständnis, Entscheidungswütigkeit gepaart mit überdurchschnittlicher Überzeugungskraft. Die Liste ließe sich fortsetzen. Klassische Managerqualitäten eben. Dazu kam eine übergroße Portion Ehrgeiz. Ab und an fragte er sich, warum sie diese Fähigkeiten vermehrt im häuslichen Umfeld einsetzte, wo die hochgepriesenen Soft Skills für das familiäre Zusammenleben eher angebracht wären. Hans presste die Lippen aufeinander und starrte an die Decke. Er ließ den Blick über den weißen Rauputz schweifen, als könnte man aus dessen Muster eine Strategie für ein Gespräch herauslesen. Leider schwieg die Zimmerdecke zu diesem Thema, und auch sonst wollte ihm kein überzeugender Einstieg in den Sinn kommen. Wie er es drehte und wendete, am liebsten hätte Hans sich um eine Aussprache gedrückt. Die Tür öffnete sich, lächelnd trat Sabine herein. Sie zog eine Wolke aus Kneipengerüchen, Rauch und Parfum hinter sich her. Hatte sie etwa wieder geraucht? Er war davon ausgegangen, dass das Thema endgültig ausdiskutiert wäre. Aus ihrem akkuraten Pferdeschwanz hatten sich mehrere Haarsträhnen gelöst. „Hi Darling, Philip hat mir schon einiges vom Film erzählt, scheint ja, da habe ich doch etwas verpasst. Aber das mit den Wienern hab ich jetzt nicht so ganz kapiert.“ Der Angesprochene verkniff sich wegen dieses Kommentars ein Lächeln. Hans besann sich seiner Absicht, unterdrückte das Zucken im Mundwinkel und bemühte sich stattdessen, ein nicht allzu wohlgefälliges Gesicht aufzusetzen. Sabine blieben die hängenden Schultern und der versteckte Zorn in seinen Augen nicht lange verborgen. Sie setzte zum Sprechen an, als Hans hervorwürgte: „Hör mal, wegen heute Nachmittag …“ Er brach ab, denn Philip tappte herein. Doch dieser schielte lediglich auf eine Legoverpackung, die er sich mit ausgestreckten Armen vors Gesicht hielt. Wie ferngesteuert bog er Richtung Couchtisch ab.
Hans klappte der Kiefer herunter. Wortlos sprang sein Blick zwischen Sohn und Ehefrau hin und her und schließlich, mit zusammengezogenen Brauen, wieder an die Decke. Doch von dort kam immer noch keine hilfreiche Antwort. Eisige Stille ergriff Besitz von dem Raum. Sabines Lächeln erstarb, kampfbereit stemmte sie ihre Arme in die Hüften. Er kniff sich die Nase zu und mit geschlossenen Augen stieß er hervor: „Kann es sein, dass ich diese Packung heute schon mal zufällig irgendwo gesehen habe?!“ „Wieso?“, erwiderte sie lapidar. „Wieso?!“, brauste Hans auf, „Als es im Spielzeuggeschäft genau um diese blöde Packung ging, hast du es mir überlassen, die Situation zu klären. Und jetzt spazierst du einfach so damit herein? Ahnst du eigentlich, was das für eine Signalwirkung auf unser Kind hat?“ Sabine seufzte theatralisch. „Keep calm! Ich dachte …“ Hans schnitt ihren Gesprächsfaden prompt ab: „Du dachtest? Manchmal denke ich, dass du in Bezug auf Erziehung gar nicht denkst! Was möchtest du für ein Kind? Eins das weiß, dass es jeden Wunsch sofort erfüllt bekommt? Das deswegen ein übersteigertes Anspruchsdenken entwickelt? Ein verzogenes, verwöhntes Gör? Ich …“ Sein Redeschwall verebbte, seine Gedanken jedoch stolperten weiter, überschlugen sich. Die Attackierte nutze die Bresche zum Konter: „Lass mich doch ausreden! Tu doch nicht so, als wärst du der perfekte Vater, nur weil du einen Uniabschluss in Pädagogik hast. Wenn ich dich richtig verstanden habe, geht es dir ums Verwöhnen, oder? Da müsstest gerade du dich an die eigene Nase fassen!“ „Moment mal!“, tobte Hans weiter, „Es macht meiner Meinung nach wohl einen Unterschied, ob man etwas aus Liebe macht, oder ob man nur ein schlechtes Gewissen hat. Das ist es doch, was dich motiviert!“ Sabine legte eine Denkpause ein. „Wahrscheinlich hast du nicht ganz unrecht“, gab seine Ehefrau unvermutet klein bei. „Aber als erfahrener Sozialpädagoge müsstest du doch auch wissen, dass man sich nicht vor Kindern streiten sollte!“
Hans durchfuhr es wie ein Blitz, das aufflackernde Gefühl, diesen Diskurs gewonnen zu haben, währte nur kurz. Er eilte zum Sofa und setzte sich zum verstört dreinblickenden Sohn. Offenmundig und bewegungslos wirkte er wie zur Salzsäule erstarrt. Längst hatte er es aufgegeben, die Packung aufreißen zu wollen. Beruhigend legte Hans eine Hand auf die schmächtige Schulter und flüsterte auf Philip ein. Nach einer Umarmung folgte ein Kuss auf den Kopf, der Vater erhob sich und tappte zurück zu seiner Ehefrau. Versöhnlich strich er ihr über den Arm und ihre Positur entspannte sich merklich. „Tut mir leid. Ich wollte nicht so ausfallend werden“, entschuldigte er sich. „Zugegeben war ich schon etwas angesäuert, weil du uns heute Nachmittag einfach so stehen gelassen hast.“ Sabine fasste ihn am Kinn, bog seinen Kopf sanft zu ihrem Gesicht. Ein mitleidiges Lächeln umspielte ihren Mund. „Du Dummbatz, warum hast du nicht gleich was gesagt? Ich bin doch kein Monster, oder?“ Den Bruchteil einer Sekunde lang wollte Hans etwas erwidern, biss sich stattdessen auf die Lippen. Es schien ihm in diesem Moment angebracht, den Streit ruhen zu lassen, selbst wenn sie mit ihm wieder wie mit einem Kindergartenkind sprach. Sabine neckte ihn weiter: „Und unser großer Trotzkopf hat ja noch nicht gesehen, was sein liebes Frauchen für ihn gekauft hat, weil sie sooo ein schlechtes Gewissen wegen heute Nachmittag hat. Das kannst du aber erst auspacken, wenn der Kleine im Bett ist.“ Sie zwinkerte und verschwand mit einem vielsagenden Lächeln aus dem Raum. Kurze Zeit später hörte man Wasserrauschen aus dem Bad.
Hans widmete sich wieder dem Jungen. „Weißt du was, Philip? Das bauen wir morgen auf. Für heute ist es wirklich genug Action gewesen.“ „Aber, Papa …?“ Er blickte in die enttäuschten Augen seines Sohnes. „Du, ich pack das heute nicht mehr, Philip!“ Er streckte ihm versöhnlich die Hand hin. „Komm, wir gehen hoch. Wir können ja noch unser Buch bis zum Schlafengehen weiterlesen?!“
Um einiges später in der Nacht, als er mit einem stupiden Grinsen, verschwitzt und befriedigt dem Schlaf entgegendämmerte, war das Letzte, was ihm in den Sinn kam: „Sie muss ja wirklich ein furchtbar schlechtes Gewissen gehabt haben…“
*
Der Sonntagvormittag verging wie im Flug. Aufstehen wollte keiner so recht. Philip war in den frühen Morgenstunden zu den Eltern geklettert, genoss deren Nähe und kuschelte sich zwischen die Erwachsenen. Mit wachsender Umtriebigkeit beanspruchte er zunehmend Platz für sich. „Philip?!“, knatschte Hans mahnend heraus. Vater und Mutter nahmen das Gewurstel noch eine Weile hin. Schließlich hatte Hans genug: „Jetzt reicht’s!“, trompetete er zum Angriff, schnellte in die Senkrechte, um sich auf seinen Sohn zu stürzen. Er kannte die Schwachstelle des Kindes punktgenau: Achselhöhlen und Rippenbögen! Der Kitzelangriff blieb nicht ohne Wirkung, Philip prustete und schüttelte sich vor Lachen. „Rippengribbler!!!“, kündigte Hans seine nächste Attacke an. Sabine mischte sich ins Getümmel. „Ich rette dich, mein Sohn!“ Kreischend bearbeitete sie die Fußsohlen ihres Gatten. Der zuckte bald unkontrolliert und versuchte sich der Allianz aus Mutter und Kind zu entziehen. Schwer schnaufend ließ er von Philip ab und ergab sich kurz darauf. Während der Kleine eine Siegesgeste darbot, suchte Hans den Blick seiner Frau. Sie strahlte wärmende Zufriedenheit aus und er sog den innigen Moment in sich auf. Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie ergriff und zärtlich drückte. Diese unscheinbare Geste besiegelte die Versöhnung. Philip war ganz und gar nicht mit dem Händeschütteln einverstanden, das über seinen Bauch hinweg stattfand. Er strampelte gegen die Arme der Eltern. „Ist gut! Ich steh’, ja schon mit dir auf. Aber nur, wenn du mitkommst zum Brötchen holen“, schlug der Vater vor. Als sie, mit zwei Bäckertüten bepackt, zurückkehrten, wehte ihnen bereits der Duft von Rühreiern und gebratenem Speck entgegen.
Sabine hatte gedeckt und auf dem Tisch stand dampfender Kaffee. Sie schnappte sich die Brötchentüte und arrangierte das Backwerk in einem Weidenkörbchen. „Just in time, setzt euch!“ Die Männer stürmten zu ihren Plätzen. Hans überblickte die Szenerie. Zufriedenheit durchströmte ihn. Dieses Wochenende war eines der wenigen, an denen er das Gefühl hatte, in einer normalen Familie zu leben. Das lag nicht an dem Umstand, dass die Herrin des Hauses in der Küche stand und werkelte und er sich bedienen ließ. Vielmehr war es die Tatsache, dass sie alle in einem Raum zusammensaßen und mit etwas Banalem beschäftigt waren, wie zum Beispiel gemeinsam zu frühstücken. Keine Geschäftsreise oder andere Termine, die ihnen einen Takt von außen aufzwangen. Ihm war bewusst, wie kostbar solche Zeiten für das Zusammengehörigkeitsgefühl waren. Mehr noch, für ihn persönlich, denn er fühlte sich dadurch endlich wertgeschätzt. Wie oft er mit seiner Familienphilosophie gescheitert war, hatte er in den Jahren ihrer Partnerschaft beileibe verdrängt. Sabine war in der Küche fertig und brachte die Pfanne an den Tisch, verteilte Eier und Speck gerecht und setzte sich. Zufrieden mampften sie ihr Frühstück, die Stille nur durchbrochen von moderatem Schmatzen.
Sabine erwähnte beiläufig, dass sie später noch arbeiten müsse für das Meeting. „Ich hab es am Freitagabend nicht fertig bekommen, außerdem findet um 16 Uhr deswegen ein Call statt.“ Sogar diese Nachricht konnte seine Laune nicht verderben. Er stupste den Sohn mit dem Ellbogen an, beugte sich zu ihm und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: „Mama muss wieder managen!“ Philip quittierte es mit einem Kichern. Hans räusperte sich, faltete die Hände zu einer Pyramide, spitzte die Lippen und versuchte, eine seriöse Mine aufzusetzen. „Misses Werther“, begann er mit einem übertrieben breiten Südstaatenakzent, „worin sehen sie denn da den Benefit für ihre Homecompany? Mir scheint es bloß ein cheap Excuse zu sein, dass sie nicht weiterhin die Corporate Identity pushen müssen.“ Philip trieb es die Tränen in die Augen, selbstverständlich ließ Hans jetzt nicht locker. Sein Brötchen wie einen Kaugummi kauend, legte er nach, „Ist Ihnen klar, was für Folgen das für das Customer Relationship hat? Oh my Goodness, da müssen wir aber ihr Rating downgraden. Ich dachte immer das wäre Ihre Kernkompetenz!“ Bei dem Wort „wäre“, purzelte ihm beinahe der Rest des Brötchens aus dem Mundwinkel. Hans prustete los, bemüht, dabei weder zu ersticken, noch alles herauszuspucken. Er warf seinen Oberkörper nach hinten und schlug sich mit abgewürgtem Lachen auf den Oberschenkel. „BINGO!“, quiekte Philip mit hochrotem Kopf in die Runde. Obwohl er nie die Regeln von „Bullshit Bingo“ durchblickt hatte, war er sich gleichwohl bewusst, dass es die Stimmung zusätzlich anheizte, wenn er „Bingo“ rief. Selbst Sabines bemühtes Lächeln schmolz zu einem aufrichtigen, während sich die Jungs weiter auf ihre Kosten amüsierten.
Später saßen Vater und Sohn auf dem Spielteppich, der wie eine bunte Oase in der eher spartanischen Raumgestaltung wirkte. Wie versprochen studierten die beiden die Aufbauanleitung des Spielzeugraumschiffs. Ein wenig erinnerte diese Hans an die Aufbauhinweise eines schwedischen Möbelhauses und damit an die Zeit, als Sabine und er die Möbel für ihre erste gemeinsame Wohnung zusammengeschraubt hatten. Was waren sie damals glücklich gewesen! Die Köpfe voller Träume! Schwer vorzustellen, dass ihnen irgendetwas zu groß, zu schwierig oder unlösbar hatte erscheinen können. Und ihr grenzenloser Idealismus war mindestens genauso realitätsfremd gewesen, wenn man es vom heutigen Standpunkt aus betrachtete. Hans schnaubte. „Papa! Ich hab’s. Schau! Wir brauchen die nächste Tüte“, mahnte Philip, deutete auf die aufgeblätterte Seite. Er wedelte vor dem Kopf seines Vaters mit dem Plastikbeutel, der mit einer fettgedruckten Zwei gekennzeichnet war. „Kannst du die aufmachen?“, bat er, um ihn zum Weiterbau zu motivieren. Folgsam konzentrierte Hans sich wieder auf das Modell, befeuchtete seinen Zeigefinger und blätterte eine Seite weiter. Er öffnete die knisternde Tüte, kippte die bunten Bausteine auf einen Haufen. Sabine würde jetzt wohl erst mal alles farblich sortieren. Hans zog es vor, sich durchzuwühlen, bis er die passenden Teile in den Händen hielt. Sicher nicht die effektivste Methode. Möglicherweise wählte er gerade deshalb diesen Weg, denn ab und an ging ihm seine Frau mit ihrer Akkuratesse auf die Nerven.
Ohne ausufernd nachzudenken fielen ihm etliche Familienurlaube ein, die Sabine mit ihrer akribischen Art in eine Prüfung für ihre Beziehung verwandelte. Das fing mit dem Kofferpacken an, setze sich beim Beladen des Autos fort. Bisweilen korrigierte sie sogar die Tischarrangements in einem Restaurant, wenn diese ihren Vorstellungen nicht entsprachen. Meist ließ er sie um des lieben Friedens Willen gewähren. Es hatte ja unbestreitbare Vorteile, zu wissen, was wo verstaut war. Aber sobald sie alles wieder ausräumte, um es vermeintlich besser zu sortieren, hörte der Spaß auf. Es war wie ein Angriff auf seine Selbstachtung. Manches Mal wunderte er sich, wie er sie hatte überzeugen können, mit ihm per Interrail durch halb Europa zu touren. Entweder war sie damals eine andere Person gewesen, oder sie hatte es in jenen Semesterferien geschafft, sich vorbehaltlos auf seine Lebensart einzulassen. Der Kontinent vor gut 18 Jahren unterschied sich deutlich vom heutigen. Keine gemeinsame europäische Währung, Mobiltelefone waren Luxusartikel und schnelles Internet etwas für picklige Nerds. Es schlummerte ein Hauch Abenteuer in dieser Reise. Vielleicht lag ihr deshalb nicht so viel an einer detaillierten Planung. Sie hatten ihre Rucksäcke, ein Zelt, kaum finanzielle Mittel und sie hatten sich. Mehr brauchte es nicht. Hans vermisste die Unbeschwertheit und Freiheit jener vergangenen Tage. Ihr taufrisches gemeinsames Leben schien so endlos wie die geöffneten europäischen Grenzen heute.
Je häufiger ihm diese spezielle Bahnreise in den Sinn kam, desto mehr drängte sich die Allegorie auf, dass sein Lebensweg einer Fahrt im Zug glich. Mit jeder Entscheidung, die man traf, folgte man einem anderen Schienenstrang. Mit jeder Weiche, die man für sein Leben stellte, raste der Zug weiter in eine vorbestimmte Richtung. Es verursachte ihm Beklemmungen, wenn er darüber grübelte, dass die Anzahl der möglichen Entscheidungen mit jeder Weichenstellung weniger werden könnte. So viele alternative Strecken, die er nie mehr befahren, erfahren würde. Alles in diesem Bild schien auf einen Endpunkt hinzustreben. Einen Punkt, an dem es nur noch eine Entscheidung zu treffen gab. Und was danach? Er schluckte und bemühte sich, von dem Gedankenkarussell abzuspringen, bevor es zu viel Fahrt aufgenommen hatte. „Habe ich dir schon mal erzählt, wie ich Mama gefragt habe, ob sie mich heiraten will?“ Sein Sohn schwieg, spielte mit den fertig gestellten Legofiguren des Sets. Er verzog den Mund und bedachte seinen Vater mit einem Blick, in dem sich Ungeduld und Langeweile mischten. Hans zuckte mit den Schultern, steckte stoisch weitere Bausteine zusammen.
In Gedanken kehrte er wieder an jenen Tag in Südfrankreich zurück. Ein Einheimischer hatte ihnen am Bahnhof einen Tipp gegeben, und so waren sie einen halben Tag zu einem malerischen Wasserfall gewandert. Sabine hatte sich mit ihren Sprachkenntnissen inzwischen als unentbehrlich erwiesen. Der Tag war heiß und sie dementsprechend verschwitzt. Hans hatte geplant, sich zuerst nach einem geeigneten Lagerplatz für die Nacht umzusehen. Doch ihm fielen schier die Augen aus dem Kopf, denn Sabine schleuderte ihren Rucksack von sich, entledigte sich rasch ihrer Kleider und spurtete nackt die flache Anhöhe hinauf, um sich unter den Wasserstrahl zu stellen. Er wollte diesen Anblick sein Leben lang nicht vergessen. Sabines wohlgeformter, straffer Körper, angestrahlt vom goldenen Licht der Nachmittagssonne. Die davonstiebenden Wassertropfen tauchten sie in einen glitzernden Nebel. Es schlug ein wie eine göttliche Erkenntnis: Er liebte diese Frau und er wünschte sich, jeden weiteren Tag seines Lebens mit ihr zu verbringen. Hans zögerte nicht länger, denn ihr atemloses Kreischen lockte ihn. Abends lagen sie in den gekoppelten Schlafsäcken, lauschten den Grillen. Schlussendlich fand er den Mut, ihr die entscheidende Frage zu stellen. Und sie hatte ja gesagt. Er war der festen Überzeugung: Es gab in jedem Leben ein bestes Jahr, und seines war sicher dieses. Warum fühlte er sich zeitlich und emotional so weit weg von jenen Tagen? Hans beugte sich zu Philip hinüber und küsste ihn auf den Kopf. Dessen verdutzter Blick wandelte sich in ein breites Grinsen, denn sein Vater übergab ihm das fertige Raumschiff.