Читать книгу Was ich mir mit dir erträume - Armin Rittel - Страница 8

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1. Kapitel

Der Mann starrte gedankenverloren hinaus. Hinunter in den Talkessel. Die annähernd rahmenlose Konstruktion der Schiebetüren und der schmale Balkon mit seinem schlanken Geländer verstärkten den Eindruck, auf der Brücke eines Raumschiffs zu stehen. Die filigrane Stahlkonstruktion ließ das Stockwerk scheinbar oberhalb des Abhangs schweben, als sei es kurz davor, sich von dem Hang zu lösen, in den der Architekt das Gebäude meisterhaft eingefügt hatte. Bereit, davon zu fliegen, über die Häuser der brodelnden Stadt hinweg. Er hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt.

Seine Finger hatten sich spinnengleich auf die gigantische Glasscheibe gesetzt, saugten die Kühle stetig in sich auf. Verflucht warmes Frühjahr diesen März. „Papa, kommst du?“ Die Hand stieß sich ab. Einen Moment lang war er versucht, die Abdrücke auf der Scheibe mit dem Ärmel wegzuwischen. Aber ein Blick unterhalb der Hüfte, ließ ihn die Sinnlosigkeit dieser Geste erkennen. Kinderhände, schneller als jeder Lappen! Hans wandte sich wieder seinem Sohn zu. Putzen konnte er irgendwann anders. Mit einem wohlwollenden Lächeln setzte er sich zu ihm. Hans‘ Gelenke in den abgetragenen braunen Cordhosen knackten. „Rakete startbereit, Countdown läuft. In zehn, neun, drei, zwei, eins. Lift off!“ Mit einem zischenden Gurgeln ließ er das Raumschiff langsam abheben. „Papa! Du hast die Zahlen zwischendrin vergessen!“, protestierte Philip. „Ist doch nich’ so wichtig, oder? Hauptsache unser Raumkreuzer ist endlich wieder unterwegs und bereit für neue Abenteuer“, entgegnete die Männerstimme halbherzig. „Also, welcher Kurs liegt jetzt an, Captain Philip Powers?“ Der fünfjährige Junge zeigte salopp mit seinem Daumen über die Schulter. „Da hinten auf dem Schrankplaneten wohnen die Bösen, Commander Hans Karacho, volle Kraft voraus!“ Mit heftigem Schlingern und überraschend unkoordiniert erhob sich der Raumkreuzer zusammen mit dem hochgewachsenen Mann. Er flog im Zickzackkurs durch den großen, offenen Raum. Über den Hochflorteppich hinweg, der eine Insel in der mit gekalkten Eichendielen ausgelegten Wohnlandschaft bildete. Endlich der Landeanflug auf die Reihe mit den weißen Sideboards. Hans‘ Lippen kribbelten von den improvisierten Fluggeräuschen. „Laserkanonen fertig, Commander? Da hinten verstecken sich die Spacepirates!“ Noch einmal gab der Vater alles. Das Raumschiff umrundete eine Vase mit einem dekorativen Bund aus Papyrushalmen. Flog in engen Kurven um weitere Dekoartikel, drehte einen ausladenden Looping. „Ich will jetzt!“, forderte Philip, sprang an seinem Vater empor und versuchte, das Legokonstrukt in dessen Hand zu erhaschen. Breit grinsend genoss Hans den Augenblick und beförderte das Flugobjekt auf eine für Philip unerreichbare Umlaufbahn. Die Arme in die Höhe gestreckt, hopste das Kind eine Weile neben ihm. „Meins! Meins! Meins!“, krakeelte er, bis Hans sich erbarmte und ihm das Raumschiff reichte. „Übergebe Flugkontrolle an Captain Philip Powers. Laserkanonen bereit!“

Ohne zu zögern eröffnete dieser das Feuer auf die versammelten Legofiguren. Kinderhände zerlegten flink jede der Figuren, untermalt von mehr gespuckten denn artikulierten Geschützfeuergeräuschen und Wehgeschrei. Die letzten fliehenden Spacepirates wurden hinter einen Stapel Hochglanz-Modemagazine gestellt und in Gewahrsam genommen. „Bereit zum Abtransport!“, bemerkte der Vater, nachdem er die Männchen in die Arrestzelle des Raumkreuzers gestapelt hatte. „Denen haben wir’s gegeben, gell Papa?“ „Hm“, presste Hans grüblerisch heraus. Im Grunde war ihm diese Art von Spiel ein Graus. Sein friedliebendes Wesen hatte ihm mehr als einmal den Spottnamen „sanfter Riese“ oder „Orang Utang“ eingebracht. Nicht zuletzt wegen seiner kupferfarbenen Haare und den zu lang geratenen Armen. Philip jedoch hatte ein anderes Gemüt. Er brannte dafür, dass die Seite der Guten über die Bösewichte triumphierte. Und gerade dafür liebte Hans seinen Sohn.

Abgesehen davon erinnerte er sich an sein Studium, an die Vorlesungen, die pädagogische Facetten von Märchen thematisierten. Diese transportieren in ihren oft simplen Geschichten, dass das Gute über das Böse siegte, vor allem, wenn man sich seiner Rolle entsprechend verhielt. Jungen sollten stark und tapfer sein, Mädchen fleißig und tugendhaft. Märchen waren nicht nur aus erzieherischer Sicht bedeutsam, genauso trugen sie zur Stärkung der Persönlichkeit von Kindern bei. Hans runzelte die Stirn. Sein derzeitiges Leben war nicht märchenkonform. Dennoch bereute er seine Entscheidung nicht, der klassischen Männerrolle den Rücken zugekehrt zu haben und sich als Hausmann um Kind und Hof zu kümmern.

„Papa! Da hinten! Die wollen wieder ausbrechen!“ Philip deutete auf das Plastikparkhaus, das im Moment als Weltraumbasis fungierte. Es sog ihn durch den Zeittunnel der Gedanken an die Studienzeit zurück ins Hier und Jetzt. „Das schaffst du alleine, Spatz“, bestärkte er den Jungen. Ein Kläcken ließ beide aufhorchen. Geräusche von Absätzen im Flur. Die gebürstete Edelstahlklinke bewegte sich nach unten und die schlichte, weiße Tür schwang in den Raum. „Sabine!“ Philip rannte zu seiner Mutter. Diese beugte sich, elegant wie eine Ballerina, zu ihm hinab und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Weißt du, dass die galaktischen Sheriffs gegen die Spacepirates gewonnen haben? Erst haben die die Schätze geraubt und dann …“ Sabine unterbrach: „Schatz, deine Ma hatte einen anstrengenden Tag. Spiel bitte noch weiter mit deinem Vater, du kannst mir dann später alles erzählen, okay?“ Ihr Blick kreuzte sich mit dem ihres Ehemannes. „Du kommst spät! Schon wieder Überstunden?“ Sie blies anstelle einer Antwort einen Luftstoß durch ihre rot geschminkten Lippen und wischte eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Dein Essen ist im Ofen, keine Ahnung, ob es noch genießbar ist. Oh Mann, es ist ja nicht das erste Mal! Ich hab dich doch gebeten anzurufen, wenn du nicht pünktlich rauskommst.“ Ihre Absätze klackerten um die Theke herum, die Küche und Wohnbereich trennte. Sie öffnete den Backofen und ein Schwall appetitanregender Luft kam ihr entgegen. Die Augen geschlossen sog sie den Geruch tief in die Nase. „Lecker! Lasagne! Du weißt genau, was ich nach so einem Tag brauche!“ Er stand auf und gesellte sich zu ihr. Der verdrießliche Ausdruck in seinem Gesicht wich einem Lächeln und er holte sich eine Belohnung in Form eines Kusses ab. Seine Hand glitt dabei langsam vom Rücken an ihrem Nadelstreifenkostüm hinunter zu ihrem Po, den er genießerisch tätschelte. Sie entwand sich der Umarmung mit einem verschwörerischen Lächeln und deutete mit einem Kopfnicken an, dass sie nicht ungestört waren. Da stand Philip und wedelte mit dem Raumkreuzer. Er winkte Hans zu sich.

Einen gedehnten Seufzer hinter sich herziehend, stapfte dieser mit übertrieben schlenkernden Armen und gesenktem Haupt zurück zur Spielecke. „Vielleicht können wir das heute Nacht noch weiter diskutieren?“, schickte Sabine ihm mit einem Augenzwinkern hinterher. Er liebte sie für diese Sätze!

*

Etwas kitzelte an der Fußsohle. Unwillkürlich zog er sie zurück, wälzte sich grummelnd zur Seite. Dann wieder, diesmal jedoch an der Nase. Er brummte unwillig, fuhr seine Hand aus, um die Quelle der Störung zu verscheuchen. Hans ertastete Haare, weiche Kinderhaut. „Papa“, drang es flüsternd an sein Ohr, „es ist schon hell.“ Der Vater öffnete verschlafen die Augen und blicke direkt in das Gesicht seines Sprösslings. „Oh Mann, ich möchte nur einmal am Wochenende ausschlafen! Es ist ja noch mitten in der Nacht! Wie spät ist es denn eigentlich?“ „Zeit zum Spielen!“, grinste der Kleine. Hans setzte sich auf und streckte sich ausgiebig. Sabine neben ihm hatte sich wieder in Embryonalhaltung zusammengerollt und tief in ihre Decke vergraben. Zärtlich tätschelte er den Deckenwust. Seinetwegen sei ihr noch eine Runde Schlaf gegönnt. Hans deutete mit dem Zeigefinger auf dem Mund an, dass sowohl seine Knochen als auch Philip sich bitte still nach unten begeben sollten.

In der Küche fand er die normale Lautstärke wieder. „Was möchtest du frühstücken?“ Wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort: „Schokopudding! Mit Sahne!“ Hans verdrehte die Augen. „Na, das nenn‘ ich mal ein gesundes Frühstück! Wie kommst du denn auf solche Ideen? Hat Mama da ihre Finger im Spiel?“ Philips Lächeln war einfach nicht zu widerstehen und seine Mundwinkel wanderten noch höher, als Hans den Kühlschrank öffnete, einen Plastikbecher herausholte und ihn dem Jungen reichte. Dieser schnappte sich flugs seinen Lieblingslöffel und verschwand mit der Beute im Wohnzimmer. „Und klecker bitte nicht das Sofa voll!“, ermahnte ihn Hans.

Es wäre besser, wenn er Sabine bei Gelegenheit darauf hinweisen würde, was für die Ernährung eines Sechsjährigen vorteilhaft war und was nicht. Er schaltete den Wasserkocher ein. Das Blubbern steigerte sich wenig später seinem Höhepunkt entgegen. Mit dem dampfenden Wasser brühte er sich eine Tasse Instantkaffee. Er scheute sich, den etwas lauten Kaffeeautomaten zu benutzen, solange Sabine schlief. Beidhändig umklammerte er den Pott und wärmte sich damit. Genüsslich sog er den Kaffeeduft ein. Stark, schwarz. So musste ein Kaffee am frühen Morgen sein.

Der erste Schluck ließ die Welt sogleich in einem freundlicheren Licht erstrahlen. Sein Blick streifte die Küchenuhr. Es war später, als er vermutet hatte. Kein Grund, über Schlafmangel zu jammern! Unter Tellergeklapper deckte er den Frühstückstisch. Das verfehlte nicht seine Signalwirkung, denn ein paar Minuten darauf tänzelte Sabine geschmeidig die Treppe herunter. Hans betrachtete ihr kurzes, cremefarbenes Seidennachthemd mit den farblich passenden Wollstulpen. Gleich würde sie zum Kaffeeautomaten schweben, eine Tasse brühen. Das Licht der Morgensonne ließ ihre Silhouette golden erstrahlen. Hans fühlte sich beinahe in einen Werbespot versetzt. Sie hat sich wirklich verändert, dachte er und erinnerte sich an die Frau, in die er sich vor zwanzig Jahren verliebt hatte.

Möglicherweise war ihr beruflicher Erfolg daran nicht unschuldig. Schleichend hatte sie ihre ursprüngliche Lebensweise als normale, natürliche Frau gegen ein Musterbeispiel einer Stilikone eingetauscht. Er fand, dass dieser Rolle, die sie vollendet verkörperte, etwas Künstliches anhaftete. Gleichbedeutend einer kosmetischen Operation. Ob sie die Änderung ihres Lifestyles willentlich in Gang gesetzt hatte? Oder war sie von außen vorangetrieben worden? Sicher war es unumgänglich, in ihrem beruflichen Umfeld Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild zu legen. Aber bedeutete das, es gleichermaßen auf sein privates Leben auszudehnen? War ihr Ideal das der Mode- und Life-style-Magazine geworden, die sie reihenweise konsumierte? Und wo war sein Platz darin?

Sabine riss ihn aus seinen Gedanken. „Darling, warst du beim Bäcker?“ Hans zuckte zusammen, stammelte etwas von Toastbrot, das gegessen werden musste. Er steckte vier Scheiben in den Toaster. Verschwendung war ihm zuwider, obwohl sie längst nicht mehr darauf angewiesen waren, sparsam zu sein. „Sorry wegen gestern Nacht!“, entschuldigte sich Sabine. Er gesellte sich zu ihr an den Esszimmertisch. „Ich musste noch dringend dieses Meeting vorbereiten. Als ich dann halbwegs fertig war, hast du schon tief geschlafen. Du sahst richtig süß aus, wie ein kleines Baby!“ Sie tätschelte ihn an der Wange. „Ich hab es nicht übers Herz gebracht, dich zu wecken.“ Hans kratzte sich am Kinn, sein Dreitagebart leistete angenehmen Widerstand. „Früher wär‘s dir egal gewesen!“, presste er heraus und versank wieder in Gedanken.

Beweise für diese These kamen ihm mehr als genug in den Sinn. Während ihrer gemeinsamen Studentenzeit gab es etliche heißblütige, durchwachte Nächte. Da hatte es nie eine Rolle gespielt, ob am darauffolgenden Tag Klausuren anstanden. Bis über beide Ohren verknallt und geil wie die Karnickel. Nicht mal im Verlauf ihrer Beziehung hatte das gegenseitige Verlangen merklich nachgelassen. Selbst als Philip auf der Welt war, fanden sie ihre Nische für Zweisamkeit. Wann hatte sich also dieser Wandel vollzogen? Sicherlich schlich sich in jede Partnerschaft irgendwann Routine ein. Das war der Lauf der Dinge. Doch wenn man weiterhin gemeinsam an ihr arbeitete, konnte man, über das erste Verliebtsein hinaus, eine erfüllte Beziehung führen, davon war er überzeugt. Man durfte nur nicht locker lassen! Zugegeben: Er fand einige Facetten ihres neuen Egos sehr anziehend. Vor allem hatte er eine Schwäche für ihre schicken Outfits entwickelt. Hans lächelte Sabine an. „Wir könnten doch heute etwas zusammen unternehmen.“ Die Angesprochene zog eine Augenbraue himmelwärts, kaute bedächtig den letzten Bissen zu Ende, spülte mit einem Schluck Kaffee hinterher. „Was schwebt dir denn da so vor?“, erkundigte sie sich. „Wie wäre es, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden? Philip braucht neue Klamotten! Also lass uns erst eine Runde shoppen und danach noch ins Kino gehen.“ Sabine stützte sich mit den Armen auf den Tisch, lehnte sich ihm lächelnd entgegen und meinte amüsiert: „Und du könntest auch mal ein paar neue Hosen vertragen!“

*

Nachmittags bummelten sie durch die Innenstadt. Der laue Frühlingswind trieb Schwaden gelber Pollens über die Gehwege. „Just look! Das würde dir bestimmt auch gut stehen!“ Sabine hatte abrupt vor einem Schaufenster abgebremst. Es war Hans egal, an wen ihre Aussage adressiert war. Seine Nasenschleimhaut kribbelte wie verrückt. Umständlich bugsierte er eine der Einkaufstüten in die andere Hand, manövrierte den weniger bepackten Unterarm zur Nase und rieb sie damit ausgiebig. Erleichtert setzte er sich in Bewegung, um den Anschluss an seine Gattin nicht zu verlieren, die schon wieder weitergegangen war, ohne eine Antwort abzuwarten. Unwillig trottete Philip hinter den beiden her. Einkaufen gehörte nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Vor allem, wenn man ihn nötigte, wiederholt Kleidungsstücke anzuprobieren, obwohl er längst einen Favoriten gefunden hatte. Und was es mit dem endlosen „dreh dich“ oder „lass dich mal sehen“ auf sich hatte, leuchtete ihm ehrlich gesagt nicht ein. Sein Vater lieferte ihm da sicher kein glanzvolles Beispiel, denn auch er neigte beim Kleiderkauf eher zu zügigen Entschlüssen.

Sabine war mit der Auswahl der beiden nicht vollends zufrieden gewesen. „Du hättest dir ruhig mal was Schickeres aussuchen können!“. Hans blieb stehen, verschränkte die Arme und drehte sich zu ihr. „Warum sollte ich mir denn was Schickes kaufen, wenn ich ohnehin fast den ganzen Tag zu Hause bin? Um auf dem Fußboden zu sitzen und mit Philip zu spielen? Wäre das nicht ein wenig overdressed? Ich brauch‘ was Bequemes!“ Hakte dabei mit den Daumen in den Hosenbund ein und demonstrierte, dass sein dezenter Bauchansatz in diesem Kleidungsstück genügend Platz fand. Sabine verdrehte die Augen, aktivierte beiläufig ihre Smartwatch und stichelte zurück: „Wenn du etwas mehr Mühe und Zeit in deinen Style investieren würdest, würdest du feststellen, dass bequem und schick sich nicht unbedingt ausschließen. Es gibt wirklich tolle, modische Jeans, die auch dir gefallen würden. Aber du läufst herum wie ein Student im dritten Semester. Bin ich froh, dass ich dir wenigstens diese kratzigen Strickpullis ausgetrieben habe. Denk doch auch mal an mich!“

Hans lag ein Konter auf der Zunge. Er beschloss jedoch, den Disput zu deeskalieren. „Ich hoffe, Ihr müsst nicht vor Scham im Boden versinken, bis wir bei nächster Gelegenheit etwas Ansprechenderes kaufen können, das auch Euer Auge erfreut, meine Prinzess!“ Er verbeugte sich galant. „Für heute reicht‘s mir aber! Übrigens: Ich denke öfter an dich, als du meinst!“ Hinter den beiden scharrte ein Fuß über den Asphalt. „Langweilig!“, krähte Philip. Hans hockte sich neben ihn, umfasste seine Hände. „Mama und ich müssen schnell noch etwas klären.“ Er deutete zum Ende der Straße. „Magst du schon mal zum Spielwarengeschäft an der Ecke vorgehen? Wir kommen gleich nach. Aber bleib auf dem Gehweg!“ Philip sprintete sofort los. „Du darfst dir auch etwas aussuchen“, rief Sabine hinterher. „Hör mal zu,“ griff sie das Thema wieder auf, „du magst es doch auch, wenn ich mich für dich style, oder? Glaubst du, dass es mir mit dir anders geht? Ich sage das doch nicht, um dich zu kritisieren.“ Er lehnte den Kopf zur Seite und kratzte sich hinterm Ohr. Damit hatte sie ins Schwarze getroffen. Ein lüsternes Grinsen zeichnete sich auf Hans‘ Gesicht ab. Sie kannte seine Schwächen. „Sollte ich also deiner Meinung nach auch öfters einen Stringtanga drunter tragen?“ Augenblicklich prustete sie los. „So war das nicht gemeint! Obwohl es sicher einen gewissen Reiz hätte …“ Sie verschränkte schmunzelnd ihre Arme, legte den Kopf schief, musterte ihren Ehemann von oben bis unten und rieb sich dabei theatralisch am Kinn. „Vorausgesetzt du gehst vorher ins Fitness-Studio und nimmst ein paar Pfund ab.“ Hans beugte sich ins Hohlkreuz, klatschte mit den Händen auf den nun nicht mehr zu übersehenden Bauchansatz. „Was? Ich? Dick? Ich bin nur kräftig gebaut!“ Heimlich bemühte er sich, eine aufrechtere Haltung anzunehmen und den Bauch einzuziehen. Er gab ihr einen flüchtigen Kuss. Schließlich schlenderten sie weiter die Straße entlang. Schweigend erreichten sie den Spielzeugladen, vor dem Philip wartete.

Sabine betrachtete ihr Abbild in der Schaufensterscheibe. Mit einer geübten Geste strich sie Rock und Bluse glatt. Aus der Handtasche kramte sie ihr Smartphone hervor und nutzte die Kamerafunktion als Spiegel, um ihren Lipgloss aufzufrischen. Hans und Philip studierten die Auslage. Sabine checkte hastig ihre Messenger Nachrichten und verstaute alles wieder in der Designerhandtasche. „Können wir endlich rein?“, quengelte Philip. Nach einem Kontrollblick auf die Uhr hielt der Vater ihm die Tür auf und sie betraten den überschaubaren Laden. Zielsicher flitzte der Kleine in die Ecke, wo die Lego-Sets standen. Sabine folgte ihm, während Hans mit einem gewissen Staunen durch die überfrachteten Regale wandelte. Er zog die Augenbrauen hoch. Jedes Mal wieder wunderte er sich, welchen Schund man heutzutage als „pädagogisch wertvolles Spielzeug“ anpries. Da gäbe es doch sicherlich Besseres, sinnierte er. Es war schon verwunderlich, wie mancher Hersteller die kognitiven und kreativen Fähigkeiten der Kinder einfach ignorierte.

Hans forschte in seinen Erinnerungen an die Seminare, die sich mit dem Thema befasst hatten. Doch es war wie ein Fischen in trüben Gewässern. Er wollte bereits damals eher mit Jugendlichen arbeiten und hatte dem Stoff nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die er verdient gehabt hätte. Zu ändern war hier ohnehin nichts. Auch nicht mit Argumenten. Den Besitzer des Ladens hatte er einmal darauf angesprochen, leider erfolglos. Langsam schloss er zum Rest seiner Familie auf. Philip umklammerte eine größere Schachtel Lego. Sabine kauerte vor ihm und tippte in ihr Mobiltelefon. Als sie ihren Mann bemerkte, schreckte sie hoch und steckte es hastig weg. „Das ist im Netz viel billiger, mein Schatz“, merkte sie an. Philips Unterlippe schob sich vor und er drückte die Verpackung fest an die Brust. Ein Schnauben entwich seinem Mund. „Sabine hat gesagt, ich darf mir was aussuchen!“ Von unten herauf schaute er zwischen den Eltern hin und her. Sie nickte mit dem Kopf hin zu Hans und atmete geräuschvoll aus. „Das ist wohl eher ein Fall für den Sozialpädagogen.“

Das Feld räumend flanierte sie den engen Gang hinunter und prüfte mit gespieltem Interesse den Inhalt der oberen Regalböden, während sie es ihrem Gatten überließ, die Umstände zu klären. Zufällig pickte sie diese oder jene Schachtel heraus, begutachtete sie gelangweilt von allen Seiten, um sie wieder, korrekt an der Kante ausgerichtet, zurückzustellen. Hans hatte sich inzwischen zu Philip gekauert und sprach sanft auf ihn ein. Langsam lockerte der Kleine die Umklammerung und sank ein wenig in sich zusammen. Er übergab das Spielzeug seinem Vater, der die Verpackung in Augenschein nahm, anerkennend nickte und sie ins Regal zurückstellte. Er reichte Philip die freie Hand, flüsterte ihm irgendetwas ins Ohr und rappelte sich hoch. Hans wies mit dem Arm auf ein paar Aktionsprodukte der besagten Firma hin. Nach kurzem Suchen tänzelte ein freudestrahlender Knirps, eine deutlich kleinere Schachtel wie eine Trophäe über den Kopf erhoben, auf seine verblüffte Mutter zu. Sabine deutete eine bescheidene Verbeugung vor ihrem Ehemann an: „Chapeau! Wie hast du das so schmerzfrei hinbekommen?!“ „Tja, das bleibt Berufsgeheimnis. Aber sagen wir mal so, wegen eines Geburtstagsgeschenkes brauchen wir uns jetzt weniger Gedanken machen.“

Sie begaben sich zur Kasse. Sabine öffnete ihr überdimensioniertes Portemonnaie und bezahlte. Hans lächelte dem grauhaarigen Verkäufer hinter der altmodischen Registrierkasse zu. Wenn er alleine hier war, hielt er ab und an ein kurzes Schwätzchen, heute aber wartete Sabine mit trommelnden Fingern auf das Wechselgeld. Sie schob ihren Ärmel zurück und schaute auf die Uhr. „Keine Sorge, Schatz. Wir können gemütlich zum Kino bummeln“, versuchte Hans sie zu beruhigen. Etwas unwillig verstaute Philip seine Beute in einer der Einkaufstaschen und die drei traten hinaus.

Sie waren nicht weit gekommen, als das Crescendo eines Handyklingeltons die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Eilig kramte Sabine ihr Telefon aus der Tasche, schaute kurz auf das Display und entsperrte es. „Sabine Werther, hallo!“. Mit einer Hand deckte sie das freie Ohr ab und drehte sich von Vater und Sohn weg. „Hey, was für eine Überraschung!“ Ein paar Schritte entfernte sie sich noch, blieb stehen und wippte mit ihren Füßen auf und ab. „Wirklich?“, drang ein weiterer Gesprächsfetzen an Hans‘ Ohr. Sie kaute auf den Lippen, suchte kurz Blickkontakt, drehte sich alsbald wieder einem Schaufenster zu. Sie wickelte eine Haarsträhne um ihren Finger, warf ihren Kopf nach hinten und lachte los. „Great!“ Sie zupfte an ihrem Rock. „Nein, der hat sicher nichts dagegen. Bis gleich!“ Mit einem Tippen beendete sie das Gespräch, leckte sich über die Lippen und tänzelte zurück zum Rest ihrer Familie.

„Du rätst nie, wer da angerufen hat!“, eröffnete sie, und fuhr, ohne auf eine Antwort zu warten, fort: „Kannst du dich noch an die Veronika aus dem Studium erinnern? Die lange Dürre? Wir waren eigentlich recht gut befreundet, aber nach dem Examen haben wir aus den Augen verloren. Stell dir vor: Sie ist heute hier! Sie hat sich extra die Mühe gemacht, über ein paar ehemalige Bekannte meine Telefonnummer herauszufinden. Und jetzt fragt sie, ob wir uns treffen können! Du hast doch sicher nichts dagegen, oder? Die Chance muss ich einfach nutzen!“ Überrumpelt stockte Hans: „Und … und du hast ja schon so gut wie zugesagt! Hätten wir das nicht erst besprechen können?“ Er griff sich an die Nase, presste seinen Atem durch den Mund heraus, wie ein Überdruckventil an einem Schnellkochtopf. „Wir wollten doch noch zusammen ins Kino.“ „Ach, da hocken wir doch nur im Dunkeln nebeneinander und keiner redet mit dem anderen! Außerdem mag ich Animationsfilme eh nicht wirklich. Ich nehme mir dann ein Taxi nach Hause.“

Sabine drückte ihren Männern einen Kuss auf die Stirn, machte auf dem Absatz kehrt. Hans räusperte sich lautstark. Seine Gattin drehte sich wieder um. „Könntest du …? Ich dachte … Hab jetzt keinen Geldbeutel eingesteckt“, grummelte er. „Ach ja, wieviel braucht ihr? Reicht ein Fünfziger?“ Er schwieg. Mied ihren Blick und wartete, bis sie den Schein in die schalenförmig geöffneten Hände gelegt hatte. „Und nimm bitte wenigstens eine dieser scheiß Taschen mit!“ Während sie mit einem Winken davon stolzierte, ließ er beschämt und unbemerkt das Geld in seiner Hosentasche verschwinden. Mit hängenden Schultern sah er ihr hinterher.

Was ich mir mit dir erträume

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