Читать книгу Der Hauptmann - Armin Steinart - Страница 5
2. Kapitel
Оглавлениеauptmann v. Rech war von Leutnant Knappe gebeten worden, am Graben des zweiten Zuges noch einige Einzelheiten zu besichtigen. Er war dort gewesen und hatte die nötigen Anordnungen getroffen. Jetzt kehrte er zu seinem Unterstande zurück, um, wenn es möglich war, noch eine Stunde zu ruhen.
Vor einem scharfen Winkel des Grabens blieb er jedoch plötzlich stehen. Vor ihm streckte sich eine ausgespreizte Hand über die Brustwehr hinaus. Das konnte nicht Zufall, das musste Absicht sein. Aber was sollte es bedeuten? Irgendein verabredetes Zeichen, eine törichte Wette oder ein kindlicher Unfug? Er hatte schon ein scharfes Wort der Zurechtweisung auf der Zunge, aber er unterließ es, denn mit einem sichtbaren Erschrecken war ihm der Zusammenhang klar geworden. Vorhin der Verwundete, der in die Hand geschossen war, und nun diese Hand, die sich so absichtlich über die schützende Brustwehr hinausstreckte! Von englischer Seite fielen kurz hintereinander vier Schüsse. Im gleichen Augenblick pfiffen vier Kugeln über ihm hinweg. Die Hand blieb ausgestreckt, wurde auch nicht zurückgezogen, als drüben ein wahres Schnellfeuer begann und die Kugeln rechts und links in der Brustwehr einschlagen.
Mit einem raschen Schritt trat Rech um die Ecke herum und riss die ausgestreckte Hand mit hartem Griff zurück. Im gleichen Augenblick fühlte er einen Schlag gegen die eigene Hand, als er sie nur den Bruchteil einer Sekunde über die Brustwehr hinausgestreckt hatte. Er war getroffen. Aber er kümmerte sich nicht darum. Seine Augen bohrten sich in das Gesicht des Freiwilligen, der zitternd und zu Tode erschrocken vor ihm stand. Das volle Geständnis lag in dem fast irren Blick des jungen Menschen. Ein kaum achtzehnjähriger war es, der vom Gymnasium weg ins Feld gezogen war. Rech kannte ihn wohl. Er war abgemagert bis auf die Knochen und sah jämmerlich aus in der viel zu weiten Uniform. Die letzten Wochen im Schützengraben hatten ihn derart mitgenommen. Als er zur Truppe kam, war er ein frischer junger Mensch, in dessen Augen die helle Begeisterung gestanden hatte. Und jetzt das!
Rech war fast ebenso erschrocken wie der andere. So etwas war möglich? Und in seiner eigenen Kompanie? Ein Schlag war das, der einen Augenblick alle seine Kraft lähmte. Aber dann kochte mit dem zunehmenden Schmerz in der rechten Hand der Zorn in ihm auf. Der Jähzorn überwallte ihn mit einer heißen Welle, und einen Augenblick darauf sah er die Backe des Burschen von dem Blute seiner verwundeten Hand gezeichnet.
„In einer Stunde bei mir melden!“ schnaubte er ihn an. „In einer Viertelstunde, verstanden?“ Dann ging er an ihm vorüber. Nach ein paar Schritten erst kam ihm voll zu Bewusstsein, was geschehen war. Es würgte ihn, wie ein Ekel. Aber dann stand auf einmal wieder der Blick dieses jungen Menschen vor seinen Augen. Dieses irre Elend. Wie der Ausdruck eines Sterbenden — nein, noch furchtbarer. Wie konnte man wissen, wie er dazu gekommen war — —
Er wandte sich zurück und sah, wie der Freiwillige mit hängendem Kopf noch immer an der gleichen Stelle stand. Die Hand an die Backe gepresst, wie ein geschlagenes Kind. Aber dann schien etwas in ihm klar zu werden. Er nahm die Hand herunter und sah sie an. Es war Blut daran. Aber nicht sein Blut. Das Blut seines Hauptmanns. Da warf er wie von Sinnen den Kopf hintenüber, maß die Wand des Grabens vor sich mit einem irren Blick und sprang dann mit einem Satz an ihr hinauf. An der Seite nach dem Feinde zu. Es war kein Zweifel, was er vorhatte.
Da erreichte ihn das donnernde „Zurück!“ seines Hauptmanns, der mit wenigen Schritten wieder neben ihm stand.
„Sind Sie denn des Teufels, Loos! Haben Sie denn keinen Funken Ehre mehr in den Knochen! Sie haben kein Recht über Ihr Leben! Es gehört nicht Ihnen!“
Noch ein Blick wie von einem wunden Tier, und der Freiwillige sank zu seinen Füßen zusammen.
Er war nicht tot. Rech rief einen Unteroffizier heran und bemühte sich mit diesem um den Ohnmächtigen. Erst als er wieder Lebenszeichen von sich gab, ging er zu seinem Unterstande, um sich dort verbinden zu lassen.
Der Arzt, Oberarzt der Reserve Doktor Bornemann, war bald zur Stelle. Es war nur ein leichter, wenn auch schmerzhafter Streifschuss, der durch den Daumenballen gegangen war, ohne den Knochen zu verletzen.
Rech war noch immer außer sich und ließ dem Oberarzt gegenüber seiner Entrüstung freien Lauf. „Ehrloser Lump das! Ich kann ja verstehen, dass einer froh ist, wenn er seine Verwundung weg hat und nach Hause kommt. Dem anderen vorhin sah man die Freude deutlich genug an. Schön ist das ja auch nicht, obgleich man selbst zuweilen von solchen Gedanken versucht wird. Aber selbst was dazu tun — Pfui Deibel! Verflucht, Doktor, binden Sie nicht so fest!“
„Tut’s denn so weh?“
„Ach was weh! Man los, machen Sie fertig! Pfui Teufel, so ein Lump! Vor’s Kriegsgericht bringe ich ihn. Ist einfach Selbstverstümmelung. Gleich nachher wird der Tatbericht eingereicht!“
„Vielleicht sind Herr Hauptmann doch zu hart. Die Sache selbst verdient gewiss jedes scharfe Wort. Aber der Mensch, der's tat? Ich kenne den Loos. Er hat wirklich das letzte hergegeben, was er an Kraft besaß, und viel ist das bei ihm nie gewesen. Jetzt kann er nicht mehr, und so ist es gekommen. Krank melden wollte er sich nicht, das widerstrebte seinem Ehrgefühl — und da hat er zu diesem törichten Mittel gegriffen.“
„Einerlei! Ich verstehe das nicht, will das nicht verstehen! — Hatte sich so gut geführt, dass ich ihn befördern wollte! Und nun das! Er ist und bleibt ein ehrloser Lump! Es ist eine bodenlose Schweinerei!“
„Es — ja, Herr Hauptmann! Aber er ist deshalb noch kein ehrloser Lump. Sonst würde er seine Schmach nicht so lebhaft empfunden haben, dass er aus dem Graben herauswollte. Er muss es in einem Verzweiflungsanfall getan haben.“
„Ihr Ärzte! Bei euch wird auch immer krumm gerade! Und Disziplin und Ordnung und ——“
Das Gespräch wurde unterbrochen. Der Freiwillige meldete sich im Dienstanzuge. Er war leichenblass und schien seine letzte Kraft zusammenzunehmen: „Freiwilliger Loos meldet sich zur — zur Bestrafung“ Er brachte die Worte kaum heraus. Mit weit offenen entsetzten Augen starrte er auf die weißverbundene Hand seines Hauptmanns. Dann konnte er sich nicht mehr beherrschen, er weinte laut heraus: „Herr Hauptmann — ich bitte Herrn Hauptmann — ist es schlimm, die Hand —? Ich bin ja daran schuld, ich bin ja daran schuld!“
Rech wurde wider Willen weich, so verhasst ihm alle Rührszenen waren. „Es ist noch mal gut gegangen, Loos, darüber können Sie sich beruhigen!“
„Gottseidank, Gottseidank, ich würde ja nie wieder einen Menschen ansehen können! Ich kann es ja auch so nicht, ich kann es ja auch so nicht!“
„Zusammennehmen, Loos! Keine Heulszene! Freuen Sie sich, dass es noch so abgelaufen ist und ich noch im letzten Augenblick dazu kam. Sonst wären Sie jetzt zwar auf dem Wege zur Heimat, aber Ihre Ehre wäre zum Teufel!“
„Das ist sie ja auch so! das ist ja das Furchtbare! Herr Hauptmann wissen ja alles!“
„Ich weiß gar nichts! Ich weiß nur, dass Sie in einem Augenblick der — Verzweiflung — — ein Soldat hat nicht zu verzweifeln, merken Sie sich das — — dass Sie in einem Augenblick der Verzweiflung etwas Blödsinniges tun wollten. Das habe ich verhindert. Ihre Ehre — Ihre Ehre — ist in meinen Augen — nicht verletzt.“ Der junge Mensch sah einen Augenblick fassungslos in die strengen Augen seines Hauptmanns. Dann stürzte er sich auf seine Hand, um sie zu küssen.
Rechs Stimme brachte ihn mit dem gewohnten Befehlsklange zum Bewusstsein: „Das ist alles sehr unmilitärisch, Loos, auch Ihre Dankbarkeit! So etwas zeigt man nicht. Im Übrigen haben Sie in Herrn Oberarzt einen Fürsprecher gehabt. Herr Oberarzt hat mich überzeugt, dass Sie krank sind. Sie werden sich spätestens um sechs Uhr abends — Bornemann, Sie schreiben wohl das Attest — beim Feldlazarett — drei ist es ja wohl — — also Feldlazarett drei melden!“
Der junge Mensch war ehrlich erschrocken. Er wehrte heftig ab: „Ich bin nicht krank, Herr Hauptmann, ich bin nicht krank!“
„Das zu entscheiden ist nicht Ihre Sache. Herr Oberarzt hält Sie für krank, und ich bin seiner Ansicht.“
„Aber dann kann ich ja nicht — — —“
„Wieder gut machen? doch, das können Sie, aber erst, wenn Sie wiederkommen.“
Der Freiwillige wollte von neuem widersprechen. Aber v. Rech entließ ihn mit einem kurzen Wink: „Um sechs Uhr beim Feldlazarett drei, melden Sie sich rechtzeitig beim Herrn Oberarzt, dass er Ihnen das Attest mitgibt. Ich erwarte, dass Sie meinen Befehl pünktlich ausführen — —“
„Zu Befehl, Herr Hauptmann!“
Mit einer Kehrtwendung trat der Freiwillige ab. Er ging nur wenige Schritte bis zu der nächsten Schulterwehr, die ihn den Blicken des Hauptmanns entzog. Er war wie benommen von dem Unfasslichen, das da eben geschehen war. Der furchtbarste Tag dieses schrecklichen Krieges war es heute gewesen, und so hatte er geendet! Noch vor wenigen Minuten hatte er geglaubt, dass er nicht mehr leben könne — nicht mehr leben dürfe. Und nun hatte ihm sein Hauptmann d a s gesagt! Unter aller seiner Verwirrung regte sich ein immer klareres Gefühl der Dankbarkeit, das ihn mit einer Befreiung ohnegleichen erfüllte. Unendlich leicht kam er sich vor. Wie von der Erde aufgehoben. Und die Luft war so rein, dass er meinte, der übertiefe Atem müsse seine Lunge sprengen. Er hätte gleichzeitig beten, jauchzen und schluchzen mögen. Zum ersten Male in seinem Leben hatte er etwas ganz Großes erlebt. Etwas so Gewaltiges, dass er selbst zu einem Nichts wurde. Und doch fühlte er sich reich wie nie zuvor. Eine grenzenlose Dankbarkeit war in ihm gegen diesen Großen, der ihm sein Leben doppelt geschenkt hatte, der ihm sagte, dass seine Ehre nicht verletzt sei — das freilich wusste er besser — er — er hatte sie doch verletzt — aber nicht vor den anderen, auch nicht vor seinem Hauptmann — dann war es ja wieder gut zu machen. Es war ihm, als müsse er sich allein aus dem Graben dem Feind entgegenstürzen, als müsse ein Wunder geschehen und er allein den Feind aus seiner Stellung werfen können. Zu was fühlte er sich jetzt nicht fähig! Es war ja nichts unmöglich, wenn sein Hauptmann das zu ihm sagen konnte! —
Aber er sollte ja zurückgeschickt werden. Zurück aus der Front. Und wenn er wieder kam, ob er dann wieder zur zweiten Kompanie kommen würde? und ob —— nein, Gott verhüte, dass das geschehen könnte. Der Hauptmann durfte nicht fallen. Niemals! Und er würde sich überhaupt nicht zurückschicken lassen. Er würde den Hauptmann so lange bitten, bis er ihm erlaubte, dazubleiben, er würde — er würde — —
Mit ein paar hastigen Schritten ging er wieder auf den Unterstand des Hauptmanns zu. Der Hauptmann würde ja dort sein, gleich jetzt wollte er ihn bitten —
Da sah er in großer Eile eine Ordonnanz ankommen und nach dem Hauptmann fragen. Man war ihm zuvorgekommen. Er musste warten.
So blieb er in der Nähe stehen. Der Hauptmann empfing den Boten und las den schriftlichen Befehl, der ihm überbracht war, halblaut durch. Es schien ihn nicht zu erfreuen, was er las. Er schüttelte sogar leicht den Kopf und rief dann laut der Gefechtsordonnanz zu: „Ich lasse die Herren Zugführer bitten.“
Wenige Minuten darauf trafen sie bei ihm ein. Leutnant Knappe hatte man aus dem ersten Schlaf geholt. Auch die beiden anderen, die Vizefeldwebel Degenhardt und v. Soltmann, sahen übermüdet aus. Rech las ihnen den eingetroffenen Befehl vor. Der Freiwillige bemühte sich, keine Silbe zu verlieren, und bald hatte er verstanden, worum es sich handelte.
Rech las: „Brigadebefehl: Die Brigade greift heute Nachmittag vier Uhr dreißig in ganzer Front an. Von vier Uhr bis vier Uhr dreißig wird die gesamte Artillerie die feindlichen Stellungen unter Feuer nehmen. Vier Uhr dreißig fällt der letzte Schuss der Artillerie, und die Infanterie wird zum Sturme vorgehen‘, — Das Folgende geht uns besonders an, meine Herren: Bataillonsbefehl: Die zweite Kompanie, Führung Hauptmann v. Rech, wird flankierend gegen den vor ihr liegenden Abschnitt angesetzt. Sie hat diesen zu besetzen und möglichst auch die Schützengräben zweiter Linie zu nehmen‘, — Also, meine Herren: wir sollen angreifen! Ganz will mir das offen gestanden nicht in den Sinn, denn die Leute sind erschöpft, und statt zweihundert Gewehre haben wir nur hundertundzwanzig —“
Degenhardt, der Führer des ersten Zuges, schien die Ansicht des Hauptmanns zu teilen. Soltmann dagegen gab unverhohlen seiner Freude Ausdruck. Für ihn waren Schlacht und Angriff kein notwendiges Übel, sie waren sein Element, sein Leben. Das Abenteurerblut alter Rittervorfahren rollte in seinen Adern. Je wilder es um ihn zuging, desto mehr war er mit Leib und Seele dabei. Er entwickelte sofort einen Angriffsplan, den er mit eifrigen Worten vortrug. Er fand Zustimmung. Rech traf die erforderlichen Anordnungen, dann entließ er seine Zugführer. Als sie schon gegangen waren, rief er sie indessen noch einmal zurück: „Vor allem, meine Herren, sorgen Sie bitte dafür, dass die Leute noch etwas Ruhe bekommen bis dahin. Nur der fünfte Mann am Gewehr. Die anderen ruhen. Für Durchführung der Alarmbereitschaft mache ich Sie verantwortlich.“
— — Jetzt wäre für den Freiwilligen, der noch immer in einen Winkel des Grabens gedrückt stand, der Augenblick gekommen, sich bei seinem Hauptmann zu melden. Er machte auch einen Schritt auf dessen Unterstand zu, dann aber schien er sich anders zu besinnen. Wozu sich melden? — Er wusste ja, was er zu tun hatte, und dem entsprechend würde er handeln. Es war schließlich noch ein Glück gewesen, dass er gerade noch mit der Ordonnanz zusammengetroffen war und nun wusste, was heute Nachmittag bevorstand.
—— Bis drei Uhr blieb alles ruhig. Nur vereinzelte Schüsse von beiden Seiten. Gegen ein Uhr hatten die Essenholer Essen für die Kompanie aus dem rückwärts gelegenen Dorfe A. geholt. Sie waren auf dem freien Stück zwischen der Stellung und dem Dorfe heftig beschossen worden. Aber niemand wurde getroffen. Nur in eins der Kochgeschirre war eine Kugel geschlagen, so das; ein Teil des Essens auslief. Der Mann ging noch einmal zurück und holte Ersatz.
Im Schützengraben sah es aus wie jeden anderen Tag. Nur wurde weniger gearbeitet als sonst. Die Leute sollten Ruhe haben. Rech hatte den Angriffsbefehl noch nicht bekannt gegeben. Aber auch wenn es geschehen wäre, viel hätte sich das Bild dadurch nicht geändert.
In regungsloser Aufmerksamkeit standen die Posten neben den Schießscharten. Von Zeit zu Zeit sahen sie hindurch, und wenn ein Ziel sich bot, fielen ein oder auch zwei Schüsse. Die Engländer unterhielten von Mittag ab ein langsames Feuer auf die Schießscharten. Gelegentlich fuhr auch ein Geschoss durch eine der schwarzen Lücken hindurch. Glücklicherweise ohne Schaden anzurichten. Einem Landwehrmanne wurde auf diese Weise der rechte Ärmel seines Mantels von einem Querschläger zerrissen. Er ließ sich durch einen Kameraden ablösen und setzte sich in aller Ruhe hin, um ihn zu flicken. Jetzt stand der Reservist Korn an seiner Stelle. Ein Riesenmensch, dem alle Entbehrungen des Krieges bisher nichts hatten anhaben können. Nur seine frische Gesichtsfarbe hatte er in den feuchten Nächten des Schützengrabens verloren. Sie war grau geworden, die Haut rissig, und Lehmspritzer klebten ihm an den Haaren. Sein gutmütiges Gesicht hatte etwas Drohendes bekommen. Dumpfe, verhaltene Naturkraft, so stand er jetzt neben seinem Gewehr, und fast mechanisch schoss er zuweilen ein paar Schuss ab. Nur als drüben die Engländer Flaschen an Stöcken über dem Grabenrande schwenkten, geriet er in Wut. Ein scharfes Visieren, der Knall des Abschusses, und drüben ging die Flasche in hundert Scherben: „Euch will ich’s zeige, ihr Dreckspatze, dass hier auch noch Leut’ die Schützeschnur habe!“
Der kleine Jude Wolf an der nächsten Schießscharte sah bewundernd zu seinem riesigen Nachbarn in die Höhe: „Gott, Herr Korn, was können Se schießen! Ich glaube, ich habe im ganzen Kriege noch niemand getroffen“
„Das kannst du jetzt nachholen! Siehst du dort den Khakimann?“
„Gott strafe mich, der ist frech! Die ganze Brust kann man sehen!“
„Los, putz ihn weg!“
„Nee, machen Sie’s, Herr Korn! Ich weiß nich — wenn nachher — ich habe noch nie gesehen, dass ich jemand getroffen habe. Schließlich: er ist auch ein Mensch —“
Neben ihm krachte ein Schuss. Korn hatte geschossen und gefehlt.
Man sah, wie drüben der Engländer seine Mütze höhnend um den Kopf herumwirbelte.
Ein zweiter Schuss! Mitten in seiner Bewegung hielt der Engländer inne und sank nach vorn die Brustwehr hinunter. Kurz darauf zogen ihn seine Kameraden in den Graben zurück.
„Sehen Sie, Herr Korn, jetzt bin ich froh, dass ich’s nich getan habe! Warum hat er das nun gemacht, sich so zu zeigen? War er denn ganz von seinem Gott verlassen?
Ich frage Sie, tut ein vernünftiger Mensch so was, wenn er nich ein Engländer ist und eine Wette gemacht hat?
Ich sage Ihnen, der hat eine Wette gemacht, dass er zwei Minuten auf dem Grabenrand sitzen will, ohne getroffen zu werden. Nun hat der andere gewonnen. Zwei Guinees wahrscheinlich, das sind zweiundvierzig Mark und fünfzig Pfennige. Je nachdem, wie der Kurs ist!“
„Scheibendeckel! Wette? Unsinn! Verkohlen wollte er uns! Ist ihm schlecht bekommen!“
„Mache ich jede Wette mit Ihnen, Herr Korn, dass das ’ne Wette war. Kenn’ ich die Engländer oder nich? Bin ich drei Jahre bei Dornstein in Rio gewesen oder nich? Und haben se nich um alles gewettet? Das war ’ne Wette, und er hat se verloren!“
„Meinetwegen“, brummte der Riese, „kann sich ja der andere das Geld von dem aus der Tasche holen!“
„Aus der Tasche holen?“ Der kleine Jude schauerte. „Einem Toten aus der Tasche holen das Geld für eine Wette? Nee, ich will Ihnen sagen: Sein Partner hat das vorher gewusst, dass die Sache so ausgehen würde, und der andere hat das Geld vorher hinlegen müssen. Und nun hat er’s einfach eingesteckt. Kenne ich die Engländer, oder kenne ich se nich? — In La Bassée haben sie es auch so gemacht! Da ist ein Engländer mit einem Hammel zweimal vor dem Graben langspaziert. Am helllichten Tage! Und unsere Leute haben zuerst nich gemusst, was das ist, und haben nich geschossen. Aber denn haben se’s doch getan. Zuerst den Hammel und dann den Engländer. Und von Gefangenen haben wir nachher gehört, dass das ’ne Wette war. Glauben Se mir, Herr Korn, das war ’ne Wette. Und nun ist er tot, und Sie haben ihn totgeschossen! Aber sagen Se selbst, Herr Korn: haben se nich Mut, die Engländer, sind se nich ein großes, gewaltiges Volk?“
Der Riese brummte etwas sehr Unliebenswürdiges, das den Kleinen sofort zur Ruhe brachte, obgleich er es nicht genau verstanden hatte. Aber er fühlte, dass er es nicht erreichen konnte, dem anderen zu gefallen. Sein kniffiges Gesicht bekam einen traurigen Ausdruck, und bei sich selbst sagte er: Kann ich etwas dafür, dass ich ein Jude bin? Warum ist er so grob zu mir, der große, ungeschlachte Mensch?
Weiter in der Reihe standen nebeneinander die beiden Brüder Meier. Seit Beginn des Krieges waren sie unzertrennlich. Wie durch ein Wunder gingen bisher alle Gefahren an ihnen vorbei. Es waren prächtige Menschen und besinnungslos gute Soldaten. Dazu die besten Kameraden von der Welt. Schon lange trugen sie beide das Eiserne Kreuz. Es galt für eine Ehre, mit ihnen befreundet zu sein. Denn bei aller Kameradschaft hielten sie sich sehr zurück. Nur zwei oder drei hatten sich ihnen näher anschließen können. Vor allem der achtzehnjährige Bürgerle und der Bursche des Leutnants, Bernhard. Bürgerle war das Bild eines guten, treuherzigen Jungen. Bernhard hätte gut sein Vater sein können; war er doch zweiundvierzig Jahre alt und hatte sechs Kinder daheim.
Den Graben entlang kam Unteroffizier Burganz. Sein auffallend hübsches Gesicht war wohl nicht nur durch die Strapazen des Krieges so verwüstet. Seine Uniform hatte einen fast eleganten Schnitt. Seit es kalt geworden war, trug er einen Pelzkragen. Er sprach den einen Meier an: „Meier, haben Sie ’ne Zigarette für mich? Es ist ja geradezu ekelhaft mit der Post! Nichts kommt zur rechten Zeit an!“
„Tut mir leid, Herr Leutnant, habe nur Zigarren“, antwortete der ältere Meier trocken.
„Warum sagen Sie nur immer „Herr Leutnant“ zu mir?“ brauste der Unteroffizier auf. „Ist das etwa Absicht, dann würde ich mir das sehr verbeten haben!“
„I wo!“ verteidigte der andere seinen Bruder, „mein Bruder hat nicht so genau hingesehen. Er hat halt nur den Pelzkragen gesehen und den schönen Waffenrock, und da hat er halt gedacht, Herr Unteroffizier wären Leutnant.“
Unteroffizier Burganz wollte von neuem aufbrausen. Aber er sah noch rechtzeitig ein, dass er hier machtlos war. Wütend ging er weiter. Kaum war er hinter der nächsten Schulterwehr verschwunden, als der ältere Meier aus seiner Tasche ein Etui holte und dem Bruder eine Zigarette anbot.
„Das habe ich mir doch gedacht“, lachte der andere. „Dem und ’ne Zigarette? Nee! Und nicht, wenn er General wäre! Der Kerl macht einen ja zum Sozialdemokrat! Obgleich man das ja jetzt nicht mehr sagen darf.“
Es ging schon zuweilen recht friedensmäßig zu im Schützengraben.
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