Читать книгу Der Hauptmann - Armin Steinart - Страница 6

3. Kapitel

Оглавление

unkt drei Uhr fiel auf englischer Seite der erste Schuss aus schwerem Geschütz. Mit hohlem Brausen zischte das Geschoss über ihnen hinweg. Zwei Sekunden darauf kam der Krach der explodierenden Granate. Sie hatte im Dorf hinter der Schützenlinie eingeschlagen. Von nun an folgte alle fünf Minuten der dumpfe Knall des Abschusses und der harte Krach des Aufschlages. Die Engländer schossen das Dorf planmäßig zusammen. Bald brannte ein Haus in der Nähe der Kirche. Der weißliche Rauch des Brandes mischte sich mit dem gelben Qualm der explodierten Granaten. In dichten Schwaden wälzte sich der Rauch über das Dorf hin. Ein Flieger kam von feindlicher Seite in großer Höhe herüber. Über dem Dorfe begann er Kreise zu ziehen und durch seine Bewegungen das Feuer der feindlichen Artillerie zu leiten. Man ließ ihn gewähren. Kein Schuss suchte ihn zu vertreiben. Man wollte die Stellung der eigenen Geschütze nicht verraten. —

Rech hatte seit dem Beginn des feindlichen Artilleriefeuers halbwach auf seinem Lager gelegen, das der Bursche ihm aus seinem Schlafsack mit Hilfe von zwei Decken bereitet hatte. Er kämpfte seit dem Erwachen mit einem dumpfen Druck, der sich zusammen mit dem ersten bewussten Gedanken auf ihn gelegt hatte. Etwas Unerklärliches war es. Nicht Angst vor dem Kommenden. Nicht einmal Sorge. Es war wie ein Albdruck, der ihn aus dem Schlaf in den wachen Zustand hinein verfolgte. Um vier Uhr dreißig sollte er angreifen. Ihm persönlich machte das keinen sonderlichen Eindruck. Gewiss, der Tod würde ihm in einer Stunde näher sein als jetzt, ihn vielleicht auch erreichen. Aber damit hatte er vor dem ersten Gefecht ein für alle Mal abgeschlossen. Es war ja auch gänzlich sinnlos, über derartiges nachzugrübeln. Man hatte die klare Pflicht, mit etwaigen dunklen Gedanken fertig zu werden. So hielt sein eiserner Wille sie von ihm fern.

Daher konnte also dieser dumpfe Druck nicht kommen. Eher schon war es Sorge um seine Leute. Blutige Opfer würde dieser Angriff wieder kosten. — Aber es half ja nichts. Der Feind musste hier zurückgeworfen werden, um die vorgeschobene Stellung der Nachbarbrigade zu entlasten. Man musste dem Feind die Möglichkeit nehmen, die anschließenden Stellungen von der Flanke her zu beschießen. Seit zwei Tagen hatte es fast die Opfer eines Sturmangriffes gekostet, die bei C. und V. vorgeschobene Stellung auch nur zu halten. Die beiden Regimenter dort hatten furchtbar zu leiden. Zudem wusste man durch Flieger, dass der Feind einen Gewaltstoß an der gefährdeten Stelle vorbereitete.

So war es wohl auch der Ernst der allgemeinen Lage, der auf ihm lastete. Man war hier an Zahl weit schwächer als der Feind. Die besten Truppen waren nach Russland abtransportiert, wo sich eine entscheidende Schlacht vorbereitete. Wäre dort die Entscheidung doch erst gefallen! Dies Warten lastete mit schwerer Spannung auf dem ganzen Heere im Westen. Es war kein Misstrauen gegen die Führer! Am schließlichen Siege zweifelte niemand. S e i n glühender Patriotismus am allerwenigsten. Aber das Warten! Es war für die ohnehin mitgenommenen Nerven eine harte Belastung, und die Kunde von dem erwarteten Siege im Osten musste eine unendliche Befreiung sein.

Auch an den Brief dachte er, den er am Morgen geschrieben. Ein leiser Zweifel regte sich, ob er richtig gehandelt hatte. Hatte er sie nicht vielleicht doch missverstanden? Sein Herz war ja in den langen Jahren einsamer Arbeit so ungelenk geworden. Waren nicht vielleicht ihre quälenden Fragen, die steten lauten und leisen Zweifel an seiner Liebe doch nur der Ausdruck ihrer Liebe, der jetzt jegliche Möglichkeit fehlte, sich seiner Gegenliebe zu vergewissern? Und schließlich konnte sie ihn in den drei Monaten ihrer Verlobung noch nicht so genau kennen gelernt haben, konnte schließlich auf den Gedanken gekommen sein, dass es doch nur das Geld ihres Vaters —— Hier war der wunde Punkt Wenn sie das auch nur mit einem Gedanken denken konnte, so kannte sie ihn nicht liebte sie ihn nicht. Und er hatte doch recht getan Nach dem Kriege konnte er vielleicht eher auf derartiges eingehen. Jetzt nicht Er hatte seine Kraft zu anderem nötig.

Kurz vor vier Uhr gab Rech den Angriffsbefehl bekannt Die Leute nahmen ihn ruhig auf. Freilich auch nicht mit besonderer Begeisterung. Der gemeine Mann konnte nichts Großes darin sehen, einen Schutzengraben zu nehmen. Ja, wenn es sich darum gehandelt hätte, den Feind entscheidend zu schlagen, einen großen Sieg zu erringen — — Aber ein Schützengraben, vielleicht auch zwei? — Und von dem blutigen Kampf um diese Erdlöcher würde dann kaum etwas im Bericht zu lesen stehen. Wahrscheinlich stand dann wieder, wie neulich nach dem blutigen Gefecht bei C., im Tagesbericht sowohl der deutschen wie der feindlichen Heeresleitung: Zwischen La Bassée und dem Meere fanden nur unbedeutende Gefechte statt. Und sie hatten sechzig Mann verloren. Ihre eine Kompanie! Fünfzehn Tote und fünfundvierzig Verwundete! Mehr hatten sie bei Saarburg auch nicht verloren. Und das war ein großer Sieg gewesen, von dem alle Welt sprach.

Aber sie sahen schließlich ein, dass es sein musste. Rech, dem die Stimmung der Leute nicht ganz gefiel, half ihrem mangelnden Verständnis nach. Es galt, die Kameraden auf dem rechten Flügel zu entlasten, die sich in ungünstiger Lage befanden. Das war schon anders und klang besser als: einen Schützengraben nehmen!

„Wie wenn der Hauptmann gewusst hätte, was wir denken!“ sagte ein Reservist zu seinem Nebenmann. „Überhaupt, einen besseren Hauptmann kann’s gar nich geben! Warum klappt denn das nu auf einmal immer mit die Liebesgaben? Früher haben wir nie was gekriegt, wenn die in der ersten schon drei Zigarren auf einmal im Maule hatten! Von die Wollsachen garnich zu reden. Davon haben wir schon zu ville! Nu und mit den Essen? Warum ist denn das jetzt immer warm, wenn’s in die Kompanie kommt? Einfach, weil er den Essenholern gesagt hat: Essenholen ist ebenso gut wie ein Sturmangriff, und wer mit Mut und Tapferkeit Essen holt, der hat geradeso das Eiserne verdient, wie wenn er sich beim Sturm auszeichnet! Ja! So hat er gesagt! Der Lorenzen hat’s mir erzählt. Und der hat nun auch das Eiserne bekommen! Fürs Essenholen! Und ist auch ganz richtig so!“

Einige von den Leuten waren freilich jetzt recht still geworden. Sie hatten vor dem Angriff ihren eigentlichen Kampf zu bestehen. Einem 1lnteroffizier — Karenau — wurde es besonders schwer. Seine lebhafte Phantasie malte ihm alle Schrecken aus, die auf ihn warteten; Das war vor der Schlacht. Im Gefecht selbst war er immer der Tapfersten einer. Er war wirklich ein Held. Denn immer wurde er mit seiner natürlichen Angst fertig. Einer der Leute aus seiner Korporalschaft half ihm dabei. Bergmann. Es war ein Frommer. Man sah es schon an seinem Blick. Der schien immer in eine klare, heitere Ferne zu blicken, und alles an ihm war echt. Vieler Worte bedurfte es zwischen ihnen nicht. In schwerer Zeit, wie dieser, lernte man es, mit den Augen zu sprechen und zu hören. —

Rech stand im Gespräch mit Knappe. Die Uhr in der Hand, warteten sie auf den ersten Schuss der Artillerie. Noch zwei Minuten! Das Feuer pflegte mit genauester Pünktlichkeit einzusetzen. Noch war es fast vollkommen ruhig. Kein Geräusch erinnerte daran, dass bald in dieser friedlichen Landschaft der Tod wüten würde. Die Sonne neigte sich dem Untergange zu. Vom Horizont her schob sich eine violette Dunstwand ihr entgegen, und in der weiten Ebene trat jeder Baum und jedes Haus mit der Klarheit des hereinbrechenden Abends hervor. Rechterhand die Baumreihe längs des Kanales — —

Der erste Schuss!

Drüben hinter dem Dorfe war er gefallen. Das Zischen des Geschosses näherte sich, schwoll über ihnen an und entfernte sich nach vorn. Kurz darauf spritzte vor dem feindlichen Graben die Erde hoch auf. Ein dumpfer Krach folgte. Nach dem ersten Schuss kam eine Lage aus derselben Batterie. Sechsmal wühlten ihre Geschosse den Boden auf. Vom Feind war nichts zu sehen und zu hören. Nun begann auch die schwere Artillerie zu feuern. Von fernher, so dass man den Abschuss kaum hörte, flogen mit tiefem, unheimlichem Heulen die mächtigen Stahlblöcke über ihnen hinweg und trafen mit wunderbarer Genauigkeit ihr Ziel. Baumhoch warfen sie die Erde auf und zerrissen in fünfzig Meter Umkreis alles um sich her. Im Schützengraben erhob sich lauter Jubel, als mitten in der feindlichen Linie ein tiefes, schwarzes Loch gähnte, nachdem sich der Rauch verzogen hatte.

Der achtzehnjährige Bürgerle schrie durch den immer lauter tosenden Lärm dem älteren Meier etwas zu und strahlte über das ganze Gesicht: „Denkste auch daran, Meier, dass das da drüben Engländer sind? Hörst du, Engländer! Fliegen sollt ihr lernen, ihr Bande, ihr hinterlistige! Die schwarze Marie wird’s euch schon beibringen!“

Schuss auf Schuss schlugen die schweren Granaten beim feindlichen Graben ein. Einzelne Engländer kamen aus der Deckung heraus und versuchten zurückzulaufen. Sie kamen nicht weit. Etwa zwanzig Schritte. Dann fielen ein paar Schüsse im deutschen Graben. Die Fliehenden stürzten und standen nicht wieder auf.

Jetzt schien man drüben erkannt zu haben, dass ein Angriff bevorstand. Die Kompanie trat gerade vor den Ausfalltreppen an, als von feindlicher Seite das erste Geschoss in der Nähe einschlug. Es warf Erdklumpen und Steine in den Graben, ohne weiteren Schaden anzurichten, aber dann folgte ein Schuss dem andern. Ein betäubendes Krachen und Reißen erhob sich vor der Linie und richtete eine Mauer von Rauch, Dampf und Feuer vor ihr auf. Das Feuer der eigenen Artillerie ließ nach, sie suchte die feindlichen Geschütze, um sie zum Schweigen zu bringen. Mitten in den Höllenlärm hinein hörte man deutlich das Surren eines Fliegers. Um ihn herum tauchten, wie aus dem Nichts entstanden, die kleinen Ballen zerspringender Geschosse auf. Aber er schien sich nicht darum zu kümmern. In wundervoller Sicherheit beschrieb er über der feindlichen Stellung zwei enge Kreise, und kurz darauf sah man unter ihm in mächtigen Kratern die Treffer der schweren Artillerie aufspritzen. Das feindliche Feuer wurde unregelmäßiger, folgte in längeren Abständen und hörte dann ganz auf. Als der Rauch vor der eigenen Linie verwehte, sah man, dass ein Teil der eigenen Artillerie die feindlichen Schützengräben weiter beschossen hatte. Schlag auf Schlag sah man die Verwüstung um die englischen Linien aufkochen. Zwei Kräfte schienen am Werke. Die eine warf in unheimlicher Lautlosigkeit Erde und Teile von Menschenleibern mit der Schnelligkeit eines Blitzes in die Höhe, während die andere mit dumpfem Dröhnen, Stampfen, Reißen, Krachen, Prasseln die Erde in ihren Grundfesten erschütterte.

Vier Uhr fünfundzwanzig! Noch fünf Minuten bis zum Angriff. Es war jetzt ganz still geworden im Schützengraben. Der Tod stand zu deutlich vor ihnen aufgereckt, und sie sollten ihm entgegenstürmen. Nur wenige Minuten, und es würde um sie herum dieselbe Hölle sein wie jetzt da vorn. Oh! Sie kannten das! War es doch der vierzehnte Sturmangriff, zu dem die Kompanie jetzt bereitstand.

Offiziere und Unteroffiziere gaben noch einmal die nötigen Anweisungen. Dann machte sich alles zum L5eroorbrechen aus dem Graben bereit.

Da plötzlich schwieg das Feuer der eigenen Artillerie. Eine letzte Erdwolke spritzte vor ihnen auf, und eine fast atembeklemmende Stille trat ein. Nur einen kurzen Augenblick, dann brach die Sturmwoge aus dem Graben hervor. Kein Trommelwirbel, keine Hornsignale, kein Hurrarufen. Nur ein unheimliches Rasseln und Brausen, ein Keuchen und Stöhnen lief vor der Reihe her.

Rech befand sich am rechten Flügel. Ungefähr zwei Schritt der Kompanie voraus. Dicht bei ihm seine Gefechtsordonnanz und sein Bursche. Nach links hin die aufgelöste Linie der Stürmenden, in deren Mitte Leutnant Knappe, halb zurückgewendet, ein paar Nachzügler antrieb. Noch fiel auf feindlicher Seite kein Schuss. War unter dem Druck des fürchterlichen Artilleriefeuers die erste Linie verlassen worden? Oder wollte man sie in eine Falle locken? — Noch immer kein Schuss. „Nur das Keuchen der Stürmenden! Einen Augenblick griff dem Hauptmann eine Angst ans Herz, so dass es sich zusammenkrampfte und der verlassene Körper gelähmt zusammenzubrechen drohte. Doch dann fiel sein Blick ein wenig nach links: Der Freiwillige! — Derselbe, den er am Morgen mit eigener Hand gezüchtigt hatte, derselbe, den er einen Ehrlosen nannte, ein Kranker, den er zum Lazarett zurückschicken wollte — er war unter den Stürmenden. Das verzerrte Gesicht des Hauptmanns wurde wieder hell. Das war der Sieg! Wenn auch vielleicht heute nicht — der Sieg war es! Fast ohne dass er wollte, kam ein Hurra von seinen Lippen, das sich von Mann zu Mann fortpflanzte.

Der feindliche Graben war nur noch wenige Meter entfernt. Aber noch immer fiel kein Schuss. Wollte man sie noch näher herankommen lassen? Jetzt waren die Ersten am Ziel. Ein Schrei der Wut und Enttäuschung: Der Graben war leer. Nur Tote und Verwundete lagen darin. Die anderen waren nach rückwärts durch den Laufgraben entkommen.

Ein lautes Kommando des Hauptmanns bestimmte vier Leute seiner näheren Umgebung, den Verwundeten die Waffen abzunehmen. Dann schäumte die Woge über das Hindernis hinaus. Dem zweiten Graben zu, der sich zweihundert Meter vor ihnen in kaum sichtbarer Linie gegen den Himmel abzeichnete.

Jetzt brach das Prasseln und Brodeln des Gewehrfeuers vor ihnen los. Halb hörten sie es, halb hörten sie es nicht. — War es das Hämmern, Brausen und Pochen ihres Blutes — oder war es der Tod, der die eherne Trommel schlug — war es die Wut des Angriffes, der die ganze Welt in rotem Nebel vor ihnen kreisen ließ — oder war es der Tod, der in wahnsinnigem Wirbel alles umherwarf — war es ein Todesschrei, ein Hurra, ein Stöhnen, ein Wutbrüllen oder ein Zähneknirschen, das sie eben hörten — tack tack tack tack tack — ein Maschinengewehr — ein französisches — also Franzosen sind auch da! — verwundet? — Teufel, die ganze Hand ein Brei — verbinden? — Unsinn! — Der Hund, dieser Hund von einem Engländer! — Wenn euch doch die Hölle — Der Bürgerle, den hat’s! — da liegt er! — Nein, er steht wieder auf! — — der Landwehrmann fällt nach vorn und bleibt liegen — der eine Meier — sein Bruder will stehen bleiben — Ach was! Laß ihn liegen, Meier, wenn’s auch dein Bruder ist! — Die Hunde da vorn, die Hunde!! verflucht, die Hand! — Ist wohl zum Teufel — Wieder einer! Und dort auch! — Herrgott, da gleich drei auf einmal! Kreck-Krack! Granaten! — Hunde, Hunde ihr! Herrgott, wo sind denn die andern?! — das sind doch nur die Hälfte! — Hauser, verfluchter Schweinehund, wirfst du dich wieder hin und tust, als wärst du — — Diesmal bist du wirklich tot — Die andern?! Wo sind die andern?! — Tack, tack, tack, tack, tack — das verfluchte Maschinengewehr. Pitsch pitsch pitsch pitsch pitsch — schießt auf mich, schießt auf mich, schießt auf mich — trifft mich nicht — trifft mich nicht — Gottseidank, der Hauptmann ist noch da! — Mein Blut komme über euch und über eure Kinder — mein Blut komme über euch und über eure Kinder. — — Sind wir denn noch immer nicht da an dem verfluchten Graben — Mein Bajonett bekommst du in die Gurgel — — Was? Zurück?! Warum denn zurück?! wir sind ja beinah da! Zurück! zurück! — der Hauptmann selbst — — da laufen sie schon — tack tack tack tack — wenn es mich doch träfe, das verfluchte Tier! — — Zurück! — Wirklich, ich laufe auch zurück! — Das ist der erste Schützengraben — trefft mich doch, ihr Hunde! — ich will nicht mehr leben! — Der Hauptmann ist schon über den Graben zurück! — tack tack tack — trefft mich doch — nein, der Hauptmann lebt noch! — da will ich auch noch —

Der Hauptmann, Herrgott, der Hauptmann! — der Hauptmann ist verwundet! — er fällt! — laufen weiter — ich muss dem Hauptmann — oh verflucht! — Herrgott sei mir gnädig! —— Herrgott! ————————————

Der Angriff war gescheitert. Ein wütendes Maschinengewehrfeuer hatte die Stürmenden von der Flanke gefasst. Mit den schwachen Kräften der Kompanie war es unmöglich gewesen, gleichzeitig in Front und Flanke zu stürmen. So hatte v. Rech knirschend vor Wut den Befehl zum Rückzug geben müssen. Ein rasendes Feuer prasselte in die Zurückgehenden hinein. Einen Augenblick versuchten sie, sich in dem erstürmten Graben festzusetzen. Aber auch hier erreichte sie das Flankenfeuer des Feindes. Weiter fluteten sie zurück. v. Rech war zunächst unverletzt geblieben. Da traf ihn ungefähr in der Mitte zwischen feindlichem und eigenem Schützengraben ein Schuss. Er fühlte einen harten Schlag gegen den Leib — noch zwei Schritte taumelte er weiter. Dann begann ihn sein Bewusstsein zu verlassen. Es war ihm, als ob aus weiter Ferne jemand laut und hohl riefe: Bauchschuss! Bauchschuss! Ein Würgen packte ihn, und ein purpurschwarzes Grauen tanzte in immer schnelleren Kreisen um ihn her. Dann zuckte vor seinen Augen eine rote Lohe auf, und er brach zusammen.

Leutnant Knappe raffte einen Haufen Leute auf und stürmte nach der Stelle, wo der Hauptmann hingestürzt war. Wenige Schritte, und er hatte nur noch zwei Mann bei sich. Es umzischte ihn ein derart furchtbares Feuer, dass auch er sich hinwerfen musste. Es war unmöglich, jetzt an den Verwundeten heranzukommen. Langsam kroch er zurück. Er sah, wie der Bursche des Hauptmanns, offenbar auch verwundet, sich aufrichtete und versuchte seinen Herrn zurück zu schleppen. Er kam nicht weit. Mit einem gellenden Schrei brach er zusammen.

Niedergeschlagen und aufs äußerste erschöpft hockten die Zurückgekehrten im Graben. Schlafen! Schlafen! Das Furchtbare vergessen! Die Hälfte tot! Der Hauptmann verwundet, und wir können ihn nicht hereinholen! Keine Möglichkeit! Wir können ihn nicht zurückholen! — Wer schreit denn da nur immer? — Da schreit einer! — ist ein Verwundeter! — Der Gremmelsbacher — der Bursche vom Hauptmann. — Holt mich — Holen! — Der Hauptmann! — Holen? Holen? Wir können dich doch nicht holen! — Du hörst doch, dass sie wie verrückt schießen — da kriecht wirklich der Bergmann vor! — Bergmann! zurück! — Es hat keinen Zweck! — Da! — Er bleibt liegen — rührt sich nicht! Fertig! — Bergmann! Bergmann?! rührt sich nicht! — Herrgott, und der hört nicht auf zu schreien: Holt mich, holt mich — der Hauptmann! — Mensch, sei ruhig, nimm dich zusammen! — das ist ja zum wahnsinnig werden! — Korn! Bergmann, holt mich! — In Dreiteufelsnamen, Kerl, ich schieße! Meinst du, du müsstest schreien, wenn wir dich holen könnten?! — Heinrich! Meier, holt mich! — Heinrich! — mich ruft er auch — Mensch, ich kann doch nicht! — ich kann doch nicht — Heinrich! Heinrich! —

„Kein Mensch verlässt den Graben!“ Schrill hallte das Kommando des Leutnants durch den Abend. „Die Kompanie hört auf mein Kommando! — Die Herrn Zugführer! Für den dritten Zug Unteroffizier Koch!“

„Nicht hier!“

„Unteroffizier Weber!“

„Nicht hier!“

„Unteroffizier Karenau!“

„Hier!“

Die Zugführer gingen zum Unterstande des Hauptmanns. Leutnant Knappes Knabengesicht war aschfahl. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen. Eine blutige Schramme zog sich über die ganze Breite der Stirn. Zusammengesunken saß er vor dem kleinen Tisch, während die Zugführer in gleicher Niedergeschlagenheit ihn umstanden. Ein schweres, müdes Schweigen hing zwischen ihnen.

Knappe war der erste, der seine Fassung wiederfand. Langsam stand er auf: „Wir sind abgeschmiert worden, und der Hauptmann ist schwerverwundet draußen geblieben! Das erste lässt sich nicht ändern, und den Hauptmann holen wir wieder! koste es, was es wolle! Aber ich erwarte von Ihnen, dass Sie unnötige Opfer vermeiden! Der Bergmann war ganz nutzlos! Ist nun auch tot! Es wird nichts unternommen ohne meinen Befehl! Verluste? Erster Zug?“

„Fehlen Zwanzig!“

„Zweiter Zug?“

„Fehlen achtzehn!“

„Dritter Zug?“

„Fehlen einunddreißig!“ —

„Das sind schwere Verluste! Wir wollen hoffen, dass sich im Laufe der Nacht der eine oder der andere wieder einfindet. Herr Oberarzt Bornemann wird, denke ich, gleich hier sein. Dass sich dann die Verwundeten hier melden! Sie haben auch einen im Arm, Degenhardt?“

„Ich fürchte, der Knochen ist verletzt“

„Dann werden Sie zurück müssen?“

„Nicht eh’ wir den Hauptmann wieder haben!“

„Ich denke, wir können ihn heute Nacht holen. — — — Mensch, wo kommen Sie denn her?!“ Vor dem Leutnant stand zitternd vor Aufregung, von oben bis unten beschmutzt und mit Blut bespritzt, der Freiwillige.

„Wo kommen Sie denn her? Sie sollten sich doch um sechs beim Feldlazarett melden?“

„Ich habe den Angriff erst noch mitmachen wollen — ich komme von Herrn Hauptmann — eben bin ich zurückgekrochen ——“

„Aber wie sehen Sie aus! Um Gotteswillen! Sie sind ja grün im Gesicht. Setzen Sie sich vor allem erst mal hin!“

„Wenn ich einen Schluck Wasser ——“

„So — da haben Sie ein Glas Wein!“

„Danke, Herr Leutnant! — Ich habe mich bis eben bei Herrn Hauptmann gehalten — ein Loch gegraben — da habe ich Herrn Hauptmann hineingezogen. Dann habe ich noch zwei Löcher gemacht — für den Burschen und für mich — der Bursche schreit fortwährend. Es ist furchtbar.“

„Und der Hauptmann?“

„Er sagt, er hätte einen Bauchschuss. Herr Leutnant möchten die Kompanie übernehmen. Und dafür sorgen, dass keine unnötigen Opfer — um ihn zu holen, — sie schießen wie verrückt da ’rüber, wo der Hauptmann liegt — sie sollen nur schießen: — er ist jetzt eingegraben, und sie können ihn nicht treffen.“

Mit wachsendem Erstaunen sah Knappe auf den jungen Menschen. War das derselbe, der noch heute Morgen —? Und nun diese Aufopferung, diese Umsicht?

„Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Loos! Wirklich sehr gut! Aber jetzt ruhen Sie sich gründlich aus, ehe Sie ins Lazarett gehen.“

Der junge Mensch reckte sich und sagte vollkommen ruhig: „Ich bitte Herrn Leutnant, mich nicht zurückzuschicken! Ich bin wieder gesund.“

„Gesund?! Sie sehen aus, als ob Sie gleich umfallen würden. Sind Sie etwa verwundet?“

„Nicht dass ich wüsste, Herr Leutnant!“

„Zeigen Sie mal her — das Loch da in Ihrem Ärmel kommt mir doch — wahrhaftig — längs durch den ganzen Oberarm.“

„Ich spüre nichts davon und muss wieder vor! Bitte, Herr Leutnant, ich komme sonst zu spät. Ich wollte ja nur Bescheid hierherbringen, sonst wäre ich vorn geblieben. Aber Herr Hauptmann hat mich zurückgeschickt, damit ich Herrn Leutnant sagte — —“

„’raus aus dem Rock! Zuerst werden Sie verbunden! Haben Sie Ihr Verbandpäckchen noch? Ja? Das ist gut! Na, sah schlimmer aus, als es ist — so, nun aber marsch ins Lazarett!“

„Ich bitte hierbleiben zu dürfen! Es muss jemand bei Herrn Hauptmann sein. Und dahinten — — dahinten werde ich doch nicht gesund ——“

Knappe sah fragend zu den andern. Degenhardt sagte leise: „Ich glaube, Herr Leutnant müssen ihm seine Bitte erfüllen. Er hat was auf dem Herzen, und eh’ das nicht herunter ist — außerdem muss jemand bei Herrn Hauptmann sein, da hat er schon Recht. Falls die Engländer versuchen, ihn zu holen.“

„Das sollen sie auf keinen Fall!“

„Aber sie werden es versuchen!“

„Dann kann aber jemand anders vorgehen!“

„Es weiß niemand genau, wo Herr Hauptmann liegt ——“

Knappe zögerte noch immer. Aber schließlich — Degenhardt hatte Recht. Und zudem diese flehende Bitte ——

„Na, dann gehen Sie in Gottes Namen wieder vor! Lange wird’s sowieso nicht dauern. Sobald es ganz dunkel ist, werden wir Herrn Hauptmann holen. Aber keine Unvorsichtigkeiten, Loos! Ruhig Blut behalten! Sie sind ja wie im Fieber!“

„Ich bin ganz ruhig, Herr Leutnant!“

„Recht so! Also dann in Gottes Namen! Es wird ja dunkel jetzt! Kommen Sie gut über! Und Vorsicht, keine Tollheiten!“

Der Freiwillige war schon aus dem Graben hinaus. Ein paar Schüsse fielen, als er sich beim Herausklettern zeigen musste. Leutnant Knappe fragte besorgt: „Sind Sie verwundet?“

„Keine Spur, Herr Leutnant!“ Seine Stimme klang fast übermütig.

„Also Vorsicht! Nicht zeigen!“ —

„Guten Abend, Knappe!“ Oberarzt Bornemann drückte dem Kameraden die Hand. „Habe schon gehört — böse Geschichte! Und Rech ist noch draußen. Meine Leute werden ihn holen, sobald es möglich ist. Hoffentlich bleibt der Mond hinter den Wolken. Sonst — im Übrigen ist es vielleicht Rechs Rettung, dass er so lange liegen bleiben muss. Habe wiederholt Leute gesehen, die dadurch davon gekommen sind, dass sie vierundzwanzig Stunden am Fleck liegen bleiben mussten, ohne sich zu rühren. Ist sonst viel zu verbinden?“

„Leider nicht, die Verwundeten liegen fast alle draußen. Die Engländer werden sie schon haben. Die meisten sind ja zwischen den beiden englischen Gräben liegen geblieben. Herrgott, dass wir in diese Falle gehen mussten! Diese perfide Gesellschaft das! Ein Feuer, Bornemann, wie ich es noch nicht erlebt habe ——“

Nach und nach trafen die Verwundeten ein und wurden vom Oberarzt verbunden, so gut es möglich war. Als der letzte versorgt war, suchte Bornemann vier seiner besten Krankenträger zusammen und befahl ihnen, sich um zehn Uhr mit einer Trage beim Hauptmannsunterstande zu melden. Jetzt schon vorzugehen, war unmöglich. Zwar war es Nacht geworden. Aber der schon hoch am Himmel stehende Mond trat immer wieder hinter fetzigem Gewölk heraus. Man musste warten.

Als Bornemann in den Unterstand zurückkam, war Knappe, den Kopf auf den zusammengelegten Armen, vor dem Tisch eingeschlafen. Das Licht vor ihm flackerte in dem kalten Luftstrom, der durch die Türöffnung des Unterstandes hereinwehte. —

Doktor Bornemann setzte sich dem Kameraden gegenüber. Mit weit offenen Augen starrte er auf das Lichtstümpfchen, bis es aufzischend verlosch. Seine Seele suchte den Sinn dieses furchtbaren Wahnsinns, der über die Welt gekommen war. Es war ihm, als müsse auch er in diesem Taumel von Blut, Feuer und Rauch versinken. Nirgend sah er einen Halt in diesem Chaos und streckte schon die Hände aus nach dem befreienden Hass, der die Kämpfer um ihn her beseelte. Aber irgendetwas warnte ihn. Lange grübelte er vor sich hin, um zu finden, was es war. Bis sein Grübeln zu einer Zwiesprache wurde. Mit einem Menschen, der hunderte von Meilen von ihm entfernt war. Seinem Weibe. Ihre klaren Augen traten mehr und mehr aus dem tiefen Dunkel heraus, und es war ihm, als höre er ihre tiefe, weiche Stimme: „Es gilt den Sieg des höheren Menschen!“ Da wurde es wieder still in ihm. Und diese furchtbare Stunde wandelte sich zu einer Andacht vor dem Altar seiner Liebe, einer Liebe, die sein Leben vor dem Versinken im Sumpf gerettet hatte.

_______

Der Hauptmann

Подняться наверх