Читать книгу Der Hauptmann - Armin Steinart - Страница 7

4. Kapitel

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ie Kälte der Novembernacht glitt mit silbrigen Nebeln vom Horizont her über die Ebene. Ein Schauer ergriff jedes Ding, das sie berührte. Die hohen Pappeln am Kanal erzitterten in ihren schwanken Zweigen, und über den trüben Spiegel des Wassers fuhr ein Kräuseln, als laufe eine langbeinige Spinne darüber hin. Weiter kroch die Kälte. Aus tausend Quellen strömte ihr neue Kraft zu. All die zahllosen Kanäle und Bäche der weiten Ebene atmeten in feinem, unsichtbarem Dunst Kälte aus. Kälte kroch hervor aus den tiefen Gräben längs der Straßen und inmitten der Felder, aus großen und kleinen Wasserlachen und Pfützen. Bis eine gewaltige Macht beisammen war. Die ihre Schauer von Abend her in kurzen Windstößen vorausschickte. Dann legte sie sich breit und lähmend über das Schlachtfeld und begann das Werk ihrer Peinigung. Gesunde, Starke, Vollblütige mied sie. Doch wo sie einen blassen Menschen witterte, da griselte sie über seine Glieder hin, stach ihn mit tausend Nadeln und vertrieb das Leben. Mit dem Spürsinn des Bösen fand sie überall den Zugang zu dem Schwachen, Kranken und Wehrlosen; mit Wollust warf sie sich auf Wunden und Narben. Mit langen, spitzen Fingern begann sie in ihnen zu wühlen. Ohne Erbarmen. Kein Stöhnen, kein Zücken, kein Aufbäumen gebot ihr Einhalt. Die Wehrlosen konnten ihr Leben nicht verteidigen, ihr warmes Leben, das die Kälte in ihren Strom aufsaugen und zu neuen Schauern über die nächtige Erde senden wollte. Heimtückisch, grausam, feige.

Ein Wimmern erhob sich über dem Schlachtfeld. Halbunterdrückte Rufe wurden laut. Dunkle Schatten huschten gebückt darüber hin. Die Engländer suchten das Schlachtfeld zwischen den beiden eigenen Schützengräben ab. Hier und da blitzte das Licht einer elektrischen Laterne auf, und lauteres Stöhnen erhob sich, wenn ein Verwundeter auf die Bahre gelagert wurde. Nur eine kurze Stunde, dann war die Arbeit getan. Die dunklen Gestalten verschwanden. Von deutscher Seite waren sie nicht gestört worden, obgleich man sie bemerkt hatte. Wohl zuckte es jedem Posten in dem gekrümmten Finger am Abzuge. Schoß doch der Feind rücksichtslos auf deutsche Krankenträger und machte es durch sein Feuer unmöglich, die Verwundeten zurück zu bringen. Mancher Kamerad hatte sich hilflos zwischen den beiden feindlichen Gräben verblutet. Manch anderer lag tot unter freiem Himmel, ohne dass sie feinen Körper zur Ruhe bestatten konnten. Aber noch war die Vergeltung nicht gekommen. Es waren ja Kameraden, die der Feind da drüben aufsuchte, und vielleicht würde ihnen doch geholfen werden.

Vielleicht!

Hauptmann v. Rech lag ungefähr in der Mitte zwischen der deutschen und der englischen Linie. Bis hierher wagten sich die Engländer nicht; sie blieben in dem Abschnitt zwischen ihren beiden Gräben. Der Freiwillige hatte den Platz genau bezeichnet. Rechts von dem schmalen Feldweg und ungefähr fünfzig Meter links von einem einzelnen Baum, dem Kugelbaum, um den schon unendlich viel Blut geflossen war. Dicht bei seinem Herrn lag der Bursche. Er schrie und stöhnte unaufhörlich. Erst mit Einbruch der Nacht wurde er stiller. Er wimmerte jetzt nur noch leise vor sich hin.

Rech lag völlig ruhig, ohne einen Laut hören zu lassen. Wenn er sich nicht bewegte, so hatte er keine Schmerzen. Meist war er in einem eigentümlichen Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen. Nur selten tauchte ein Gedanke deutlicher aus dem breiten Nebel auf: Ich bin verwundet — Bauchschuss — dann muss ich wohl sterben. Aber die Leute werden mich vorher holen — sie werden mich bestimmt holen. — Oder die Engländer! Die Engländer? Nein! Sie sollten ihn niemals holen. Er tastete nach seiner Pistole, die er schussbereit neben sich liegen hatte. Noch fünf Schüsse und ein zweites Magazin. Dreizehn Schuss. Den letzten würde er für sich behalten. — Alle diese Gedanken waren seltsam nüchtern, als ob es ein Fremder sei, der da dachte. Ein ganz Fremder, der sich darüber klar wurde, dass er an seiner Wunde sterben würde. Oft schlummerte er mitten in einem halb gedachten Gedanken ein. Das Wimmern des verwundeten Burschen weckte ihn indessen oft. Wiederholt versuchte er ihn anzurufen, aber er schien ihn nicht zu hören. Oder nicht zu verstehen. Und auch das erschien ihm fremd, unwirklich, traumhaft. Als sei er schon tot, und seine Seele schwebe über dem Körper in einer Welt, der das Leben der Erde fremd erscheint. Dann schlief er von neuem ein. Es war jetzt ein Schlaf tiefster Erschöpfung, in dem er regungslos lag, wie ein Toter.

So fühlte er die heraufkriechende Kälte nicht. Fühlte nichts von den Schrecken des Schlachtfeldes um ihn her. Nichts von der hilflosen Einsamkeit, die ihn jeder feindlichen Annäherung schutzlos preisgab.

Ein Schuss, der in seiner Nähe fiel, weckte ihn. Als er ganz Herr seiner Sinne geworden, sah er neben sich im ungewissen Licht der bedeckten Mondnacht jemand liegen, der soeben lud, ruhig anlegte, zielte und schoss.

„Wer ist da?“

„Freiwilliger Loos, Herr Hauptmann!“

„Warum schießen Sie, Loos?“

„Die Bande — verzeihen Herr Hauptmann — die Engländer kommen. Oha! da ist ja einer! Warte!“ Ein dritter Schuss — „Es sind zwei oder drei Engländer vorgekrochen, hierher zu Herrn Hauptmann, die können nichts Gutes vorhaben — Habe ich denn den Kerl immer noch nicht getroffen?“ — wieder ein Schuss — „So! der saß! die anderen beiden sind erledigt! Ich denke, sie lassen Herrn Hauptmann jetzt in Ruhe. Achtung! jetzt fangen die im Graben an! Decken, Herr Hauptmann! Nicht rühren!“

Ein Hagel von Geschossen prallte um sie herum von der Erde ab. Mit dumpfem Klatschen schlug es in den weichen Boden oder fuhr singend über ihnen hinweg. Längs der feindlichen Linie blitzte das Mündungsfeuer der Gewehre auf. Scharf rollte der Knall der Entladungen durch die Nacht. In den ersten Sekunden hatte auch der Freiwillige sich gedeckt. Als jedoch das Feuer nachließ, hob er von neuem den Kopf und spähte angestrengt in die Nacht hinaus.

Plötzlich warf er sich nach der Seite herum. Blitzschnell riss er in der neuen Lage sein Gewehr an die Backe. Drei Schüsse rasch hintereinander — eine Pause atembeklemmender Stille — ein vierter Schuss — dann nahm der Freiwillige wieder seine alte Lage ein.

„Herr Hauptmann?! Herr Hauptmann sind doch nicht etwa —?“

„Nein, sie haben nichts getroffen, Loos! Was war denn?“

„Oh diese Gesellschaft! Wie die Schlangen! Während die drei da von vorn kamen, sind drei andere von der Seite herangekrochen —“

„Nun und —“

„Sie sind alle sechs liegen geblieben. Ich habe bestimmt getroffen. Oha! da scheint doch noch einer zurückkriechen zu wollen.“

Vom feindlichen Graben begannen sie heftig zu schießen. Wohl um den Rückzug der Patrouille zu decken. Der Freiwillige kümmerte sich nicht darum. Ungeachtet der Geschosse, die um ihn herum einschlugen, legte er ruhig an, zielte und schoss. Rech sah eine dunkle Gestalt vom Boden aufspringen und mit mächtigen Sprüngen die letzten Schritte zur feindlichen Stellung zurückhasten. Wieder krachte ein Schuss. Die Gestalt brach mitten im Lauf mit einem Ächzen zusammen. Er glaubte einen Wutschrei zu hören, der aber sofort von rasendem Feuer übertönt wurde. Überall blitzten Schüsse auf. Auch von deutscher Seite wurde jetzt geantwortet. Das Einschlagen der Geschosse um sie herum hörte auf, dafür zischten sie von Freund und Feind zu Hunderten über ihren Köpfen hinweg.

Rech schloss, von diesen furchtbaren Eindrücken überwältigt, die Augen. Nie waren ihm die Schrecken des Krieges so stark zu Bewusstsein gekommen. Hatte er doch immer mitgekämpft, und die Verantwortung, die er als Führer seiner Kompanie fühlte, hatte Empfindungen derart gewehrt. Jetzt lag er verwundet, hilflos, zwischen Freund und Feind, und das Grauen der Schlacht griff nach seinem Herzen. Einen Augenblick war es ihm, als ob es stillstehen wolle. Aber es ging vorüber. Das Feuer ließ nach. Es wurde wieder still. —

„Loos?“

„Herr Hauptmann“?“

„So! es ist gut! Ich fürchtete, Sie hätten etwas abbekommen!“

„Nein, Herr Hauptmann!“

„Loos!“

„Herr Hauptmann?“

„Loos — ich glaube — ich habe — Ihnen heute Morgen doch — Unrecht getan — ich hätte — hätte — Sie nicht — schlagen sollen —“

Lange antwortete der Freiwillige nicht. Rech war es, als höre er seinen schweren Atem aus und ein gehen.

„Doch, Herr Hauptmann! — Ich habe noch vor einem Jahr von meinem Vater Schläge mit der Reitpeitsche bekommen, weil ich gelogen hatte. Heute danke ich’s ihm. Ohne das wäre ich ganz verdorben.“

„Verzeihen Sie mir, Loos!“

„Ich habe nichts zu verzeihen!“

„Doch, das haben Sie!“

„Nein, Herr Hauptmann — wenn Herr Hauptmann nicht dazu gekommen wären — ich wage gar nicht daran zu denken. Jedenfalls wäre ich dann nicht hier. Und ich bin stolz, dass ich Herrn Hauptmann helfen darf. Sechs von der Gesellschaft habe ich mindestens erledigt. Aber Herr Hauptmann sagen mir vielleicht — dass Herr Hauptmann das von heute Morgen vergessen wollen. Dass nun wieder alles ist wie früher. Und früher —“

„Ich war immer sehr mit Ihnen zufrieden.“

„Ich danke Herrn Hauptmann von ganzem Herzen.“

Wieder wurde es still. Allerhand seltsame Geräusche flatterten durch das Dunkel hin. In der Ferne hörte man auf der großen Straße das Knarren der Wagenzüge, Peitschenknallen, Zurufe. Dazwischen das Hupen eines Automobils und das Wiehern eines Pferdes.

Rech horchte eine Weile angespannt in die Nacht hinaus. Dann kam der Schlaf wieder über ihn. Jetzt wie ein Schweben, wie ein Dahingleiten üb er der Tiefe eines fernher klingenden Tons. Ein letzter Gedanke folgte ihm in den Schlummer hinein wie ein Staunen: So leicht ist das Sterben — so leicht — so leicht —

Ganz still wurde es über dem Schlachtfelde. Die letzten Geräusche des alten Tages verklangen. Der neue war noch nicht erwacht. Auch der Tod stellte seine Sense zur Seite und hieß das Heer seiner Dämonen schweigen. Nur die Schauer der Kälte krochen weiter. Sie fuhren in die schwanken Zweige der Pappeln längs des Kanals, über dessen trüben Spiegel ein Kräuseln hinlief, als haste eine langbeinige Spinne darüber hinweg. Überallhin kroch die Kälte. Mit dem Spürsinn des Bösen fand sie ihren Weg zu Schwachen, Kranken und Wehrlosen. Mit Wollust warf sie sich auf Wunden und Narben. Frische und alte.

Aber um den verwundeten Hauptmann und den Freiwilligen schlich sie herum. Der eine schlief den Schlaf tiefster Erschöpfung, den er erst fand, als ihn seine Wunde niederwarf. Den anderen durchrieselte der warme Stolz seiner Tat, ließ sein Herz voller schlagen und trieb das Blut in heißen Wogen durch gefüllte Adern.

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Der Hauptmann

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