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Оглавлениеoder: Die goldene Mannschaft über dem Bett meines Bruders
Wenn ich mir heute alte Fotoalben anschaue, kann ich ziemlich genau zurückverfolgen, wann »es« passiert sein muss. Ich sehe Bilder von mir als Vierjährigen, in einem Alter, in denen Autos mein einziges Hobby waren. Ich lungerte bei der alten Tankstelle in unserem Dorf herum und schaute dem Inhaber Herrn Jäckel beim Reparieren der Autos zu. In allen Kinderbüchern interessierten mich vor allem die Seiten, auf denen Autos zu sehen waren. Ich konnte Fabrikate am Motorengeräusch unterscheiden, habe mir Bilder meiner Lieblingsautos aufgehängt (Favoriten waren der sogenannte Ford Badewanne und der ebenfalls sogenannte Buckelvolvo) und hatte eine riesige Sammlung an Matchbox-Autos.
Mein zehn Jahre älterer Bruder Ingo spielte kurzzeitig Fußball beim TSV Lahausen, und mein fünf Jahre älterer Bruder Götz schrieb mit blauem Wachsstift die Buchstaben FCB an die Innenseite seiner Kleiderschranktür. Bei mir unterdessen: Autos. Sonst nichts. Später vielleicht noch Urmel aus dem Eis, aber Fußball spielte keine Rolle. Okay, man kam damals (ca. 1969) an Gerd Müller nicht vorbei, und das nicht nur wegen seiner unglaublich stämmigen Oberschenkel. Den Namen hatte ich schon gehört, und als Ingo seine Sammeltafel »Shell Traum-Elf 1969« mit bronzefarbenen Münzen der damaligen Nationalspieler komplett hatte, habe ich immer mal verzückt über Müllers Gesicht gestrichen. Ohne Hintergedanken. Ich habe einfach kritiklos akzeptiert, dass der scheinbar sehr wichtig war. Nicht ganz so wichtig wie der Ford Badewanne, aber schon auch wichtig. Dass meine Mutter meine Brüder zum besseren Essen animierte, indem sie die beiden darauf hinwies, dass Franz Beckenbauer auch immer Suppen von Knorr äße, hatte bei mir keinerlei Effekt.
Als ich im Begriff war, fünf zu werden, war alles schon etwas anders. Die WM in Mexiko nahte, und es häuften sich abendliche Qualifikations- und später Testländerspiele. Meine Brüder durften sie sehen, ich nicht. Ich war zu klein. Und ich war immer noch kein Fußballfan. Aber doof war ich auch nicht. Ich begriff, dass eine vorgetäuschte, erwachende Leidenschaft für abendliche Länderspiele in Tateinheit mit meinen braunen Dackelaugen und etwas Maulerei immer häufiger dazu führte, dass ich abends mit meinen Brüdern abhängen und chillen durfte, um Länderspiele von Gerd Müller und seinen Kumpanen zu schauen. Es hat mich nicht sehr interessiert, aber ich durfte länger aufbleiben, und meine großen Brüder fand ich toll. Und dann passierte es. Kaum merklich, erst zaghaft, aber dann mit immer mehr Wucht: Ich wurde Fußballfan.
Anstelle der Serie »Shell Traum-Elf 69« gab es 1970 zur WM in Mexiko die Münzserie »Unser weltmeisterliches Team«, auch von Shell. Die Münzen musste man in einen aufklappbaren WM-Spielplan stecken. Unterdessen hatte mein Bruder sich die Kicker-Sondernummer zur WM gekauft, in deren Heftmitte ein doppelseitiges Poster der Nationalelf nachdrücklich darauf pochte, aufgehängt zu werden. Mein Bruder erbarmte sich und pinnte dieses Poster über sein Klappbett. Ich werde das Bild nie vergessen, weil ich es als knapp Fünfjähriger angestarrt habe, bis ich mir jedes noch so kleine Detail eingeprägt hatte. Es war ein Flutlichtspiel gegen Rumänien in Stuttgart, und das Licht, in dem unsere Nationalspieler sich zur Hymne aufgestellt hatten, sah golden aus. DFB-Kapitän war Wolfgang Overath, was mich mit fünf Jahren aber noch nicht sonderlich verwirrte. Hinter den Spielern sah man die ebenfalls golden glänzenden Blasinstrumente der Militärkapelle. Und Berti Vogts stand ganz außen und war nicht viel größer als ich. Ich verfiel diesem Hobby also durch das reliefartige Gesicht von Gerd Müller auf einer mittlerweile rostigen Shell-Münze, durch den feierlich-goldenen Lichtschein auf dem Kicker-Poster der Nationalelf aus dem April 1970, durch die Gelegenheit, an Länderspielabenden länger aufzubleiben und durch den Schlüsselanhänger meines Bruders in Gestalt von Juanito, dem WM-Maskottchen von 1970. Mehr brauchte ich für den Anfang nicht, um zu glauben, ich sei neuerdings ein Fußballfan. Aber dann kamen in rascher Folge immer mehr Argumente hinzu, die die Sinnlichkeit und Attraktion des Fußballs für mich rasend schnell erhöhten. Die cremig-gelben Trikots der brasilianischen Weltmeisterelf. Die omnipräsenten Anzeigen, mit denen Gerd Müller für Mars-Schokoriegel warb, die schon damals verbrauchte Energie sofort zurückbrachten, was mir mit fünf Jahren schon sehr beeindruckend vorkam. Ich war mir damals auch sicher, dass Gerd Müller nur durch Schokoriegel diese dicken Oberschenkel hatte, was genau genommen ja auch sehr gut sein kann.
Es begann die Phase, für die Fanforscher und Irrenärzte bestimmt einen Fachbegriff haben. Die Zeit, in der ich infiziert, aber noch nicht völlig wahnsinnig war. Mir reichten gelegentliche Fußballspiele im Fernsehen, ich kickte selbst gerne auf dem Schulhof meiner Grundschule in Kirchweyhe, aber ich war dabei nicht verbissen. Ich fand es toll, dass ich ein Bild von Karl-Heinz Krott (Alemannia Aachen) in einer Heinerle-Wundertüte fand, aber mir reichte dieses eine Bild vollkommen. Ich musste nicht alle 200 Bilder aus dieser Serie haben. Hey … ich hatte Karl-Heinz Krott (Alemannia Aachen)! Den habe ich bei mir ans Bettgestell geklebt. Neben irgendeinen Auto-Sticker.
Zum Ausbruch kam alles im Jahr 1974. Plötzlich, gewaltig, unaufhaltsam. Fußball war jetzt überall. Es gab Poster der Fußballstars in der BRAVO, Karikaturen der deutschen WM-Stars von Volker Erns-ting in der HörZu, »Fußball ist unser Leben« im Radio, WM-Sammelbilder in Sprengel-Schokolade, die Maskottchen Tip und Tap als Sticker in Nutella-Deckeln. Und ich wollte das ALLES. Ich wachte in jenen Wochen auch schon mal morgens euphorisiert auf, weil ich geträumt hatte, Franz Beckenbauer sei bei uns vor dem Haus und hielte gerade ein Schwätzchen mit meinem Vater. In der Garageneinfahrt. Im Nationaltrikot tauschte er sich mit meinem Vater aus, der gerade den Rasen sprengte. War aber wirklich nur ein Traum. Deutschland gewann den WM-Titel 1974 an meinem neunten Geburtstag. Es gab kein Zurück mehr. Und ich wollte jetzt auch alles nachholen, was ich versäumt hatte. Ingos bester Freund klingelte eines Tages und hatte den ganzen Arm voller alter Sammelalben: »Ich glaube, Du bist jetzt der Spezialist!« In einem der Alben fand ich eine wunderschöne, alte Autogrammkarte von Hans Tilkowski, mit einer der elegantesten Unterschriften, die ich je sah. Die Sammelalben führten mich zu alten Buchschinken wie Die großen Spiele 1969. Das konnte ich auswendig. In der Gemeindebücherei Kirchweyhe lieh ich mir das WM-Buch von Hennes Weisweiler zur WM 1970 aus. Elfmal insgesamt. Danach konnte ich auch das auswendig.
Es folgten die Jahre, in denen die Neugier und der Hunger immer größer wurden. Dies ist gleichbedeutend mit jenem Zeitraum, den viele Fußballprofis mit dem Satz »Als Kind war ich Fan von Bayern München, aber da hatte ich auch noch keine Ahnung!« zusammenfassen. Obwohl Franz Beckenbauer nie in unserer Garageneinfahrt stand, fand ich die Bayern damals kurz spannend. Ich schrieb an Beckenbauer, Gerd Müller und Co. und bat um Autogramme. Beckenbauers Autogramm war wunderschön. Das von Gerd Müller bestand aus mehreren Kringeln. Meine Passion für Autogramme erhielt erst Jahre später, vor der WM 1978, einen bitterbösen Dämpfer, als ich das Autogramm von Karl-Heinz Rummenigge in der Post hatte. Ich hatte ihm einen langen Brief geschrieben, höflich, persönlich, schwärmerisch. Aber anders als seine Kollegen Berti Vogts, Franz Beckenbauer, Kevin Keegan oder Wolfgang Overath verschickte er lediglich eine Werbepostkarte mit einem eindeutig gedruckten Autogramm. Ich war am Boden. Manchmal wünsche ich mir, er würde heute ahnen, wie unglücklich er damals Kinder wie mich gemacht hat. Ich fühlte mich betrogen.
Rummenigges gedruckte Unterschrift war meine erste echte Enttäuschung als Fußballfan.