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1. Kapitel: Vorspiel

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Worin ich eine Einladung erhalte

Natürlich Chronine! Chronine, die Organistin. Ich hätte es erraten müssen. Niemand sonst klemmt mir eigenhändig und unfrankiert ein Couvert, das zur Hälfte heraushängt, unter die Briefkastenklappe. Strahlend weiss und von weitem sichtbar. Auf die Gefahr hin, dass jeder beliebige, der gerade vorübergeht, es an sich nimmt.

Kein Poststempel, keine Adresse.

Nur mein Rufname steht darauf.

In Chronines schwungvoller Musikerhandschrift.

Der Brief wiegt leicht in meiner Hand.

Er enthält ein einzelnes Blatt.

Eine Mitteilung nur.

Ich werde ihn später öffnen.

Nicht hier vor dem Hause.

Ich tippe den Code ein. Die Tür summt. Mit der Schulter stosse ich sie zurück, warte auf den Lift, lehne den Kopf an die Liftwand, fahre hinauf in den Fünften Stock.

Augen schliessen, entspannen.

Der Tag hat mich in Anspruch genommen. Nicht mit den üblichen administrativen Dingen; ihre Erledigung ist Routine. Die Kollegen klagen darüber, es belaste sie über Gebühr. Ich bin in den Kontrollrechnungen stecken geblieben, gescheitert an einem Vorzeichen: Plus oder Minus. Die Theorie, von der ich meiner Schwester berichtet habe. Morgen werde ich die Untersuchung von vorne beginnen müssen. Wegen einem lächerlichen Vorzeichen!

Der Lift hält. Ich öffne die Wohnungstür, trete ein in die stickige Dunkelheit des Flurs. Heute war heiss in diesem fortgeschrittenen Frühling, der den Sommer vorwegnimmt.

Nach dem sich endlos hinziehenden, lauen Übergang namens Winter. Vorgeschmack auf die Klimaverschiebung? Die anthropogen bedingte globale Erwärmung?

Vielleicht. Wahrscheinlich.

Ich durchquere den Wohnraum, öffne die Tür zum Balkon. Frische Abendluft strömt herein. Ein Glas Wasser in der Hand, trete ich hinaus, ziehe den Stuhl heran, lasse mich darauf fallen. Am rechten Ufer des Sees sinkt die Sonne hinter die Hügel. Ihre Schatten greifen über auf ihn. Einen Augenblick lang verharre ich in Betrachtung.

Wenn irgendetwas in der Welt reine Illusion ist, denke ich, dann Schönheit, das unlösbare Problem der Ästhetik.

Sie ist bewusstlos.

Ich warte, bis die Sonne versinkt, bis die Schatten der Hügel über den Balkon, den See hinweghuschen. In ihrem Gefolge kommen Wind und Kühle auf. Die Atmosphäre reagiert ohne Verzögerung auf die Dämmerung.

Wochen sind vergangen seit meiner letzten Visite bei der Mutter. Einmal habe ich mit meiner Schwester telefoniert. Wir haben e-Mails ausgetauscht, die unserer Epoche angepasste Art des Briefeschreibens. Nicht Twitter, der nur Stichwörter zulässt, allgemein zugängliches Gestammel von Sprachlosen. Auch Facebook nicht. Das ist für Kontaktsucher. Im Wunsch, der Anonymität zu entkommen, entblössen sie sich öffentlich.

Auf einer Website las ich kürzlich, in passend ungelenker Kinderschrift und sorgsam eingerahmt, die sich philosophisch gebende Behauptung: “E-Mail ist die Geissel der Menschheit. E-Mail und Krebs!” In dieser Kombination. Mit kapitalisiertem E und Ausrufezeichen. Ich schüttle den Kopf. Als gäbe es nur eine, diese Geissel. e-Mail emöglicht den sofortigen, augenblicklichen, verzögerungslosen Informationsaustausch.

Individuell. Privat.

Zu diesem Zweck haben wir, die Naturwissenschaften, das Internet erfunden: Daten, Ideen, Theorien, Ergebnisse in Sekundenschnelle, Millisekundenschnelle zu übermitteln. Nicht ohne Skrupel. Nein, im vollen Wissen um die Gefahren, die seine unvermeidliche Verbreitung mit sich bringen würde.

Die sie mit sich gebracht hat.

e-Mail ist nicht vertreten darunter.

Dummheit sollte es heissen. Dummheit und Krebs sind Geisseln. Beides Krankheiten und unheilbar.

Heute zumindest noch.

Bei Krebs habe ich Hoffnung.

Bei Dummheit nicht.

Nicht, wenn sie sich philosophisch äussert.

Dann erst recht nicht. Ausgeschlossen.

Dann ist alles verloren.

Antistupida, pharmazeutische Mittel, Medikamente gegen Dummheit wird es nicht geben. Niemals. Auf chemischem Wege lassen sie sich nicht synthetisieren.

Die Gene müssten manipuliert werden. Was nur im embryonalen Zustand möglich ist. Das Gesetz verbietet es. Noch zumindest. Und wenn eines Tages, dann wird die Manipulation des Dummheitsgens nicht gestattet sein.

Aus Gründen der Machtausübung.

An “Artificial Intelligence” glaube ich nicht. Sie ist nicht klüger als ihre Konstrukteure. Wird es nie werden. Gegenteilige Behauptungen führen in die Irre. Ihr Synonym ist “Natural Stupidity”, die weit verbreitete natürliche Dummheit. Als Narrenfreiheit mag sie amüsant sein. Kondensiert sie zur kollektiven Dummheit, dann dämmert die Katastrophe herauf.

Die Geschichte der Zivilisation hält viele Beispiele bereit. Das vergangene Jahrhundert hatte deren mindestens zwei, mindestens: den Kommunismus und den Faschismus.

Später werde ich mich anmelden bei Mutter und Schwester. Für morgen, Samstagabend. Den Tag benötige ich für die Wiederholung der Berechnungen. Die erforderliche Kontrolle kann ich niemandem zumuten. Studenten, Doktoranden, Postdocs scheiden aus: Ihre diversen Pflichten lassen ihnen keinen Freiraum. Die Häme der Kollegen sollte ich nicht provozieren. Niemand gibt Fehler öffentlich zu; es liefe auf Selbstbezichtigung hinaus. “Selbs Bezichtigung”. Ich schmunzle. Ein guter Titel, könnte einen lustigen Krimi abgeben.

Chronines Umschlag liegt auf der Matte. Beim Öffnen der Tür ist er mir aus der Hand geglitten. Meine Achtlosigkeit erstaunt mich. Ich nehme ihn auf, trete wieder hinaus in die Abendkühle auf den Balkon. Wenige Segel stehen schräg im Wind, und die Skuller, Studenten, die neben dem Studium für die bevorstehenden Wettkämpfe trainieren, ziehen ihnen auf pfeilschnellen Booten davon. Bei der letzten Olympiade haben sie nicht brilliert. Darum wurde ihr Trainingspensum aufgestockt.

Neulich geriet ich in der Mensa zwischen sie. Jeder sein überquellendes Tablett vor sich her tragend, hielten sie Ausschau nach einem unbesetzten Tisch. Thomas Manns Augen wären feucht geworden angesichts solcher Schultern. Sie hätten ihm Seufzer der Entsagung entlockt. Das ist heute kein Geheimnis mehr.

Währenddessen habe ich den Umschlag aufgerissen. Das Blatt, das er enthält, ist die Ankündigung eines Orgelkonzerts am Sonntag im Münster. Bachs “Kunst der Fuge” in der Orgelversion. Chronine die Ausführende. Quer darüber hat sie geschrieben: Mein erstes öffentliches Konzert, zugleich mein Antrittskonzert als Organistin.

Statt einer Unterschrift die Frage: Sehen wir uns?

Meine Hand mit dem Blatt sinkt.

Selbstredend werde ich kommen. Daran gibt es keinen Zweifel. Chronine hat es weit gebracht. Ich denke zurück an unsere lange Bekanntschaft, das vergangene Jahr, unser Zusammentreffen in Wangenau. Höchste Zeit, abschliessend mit ihr darüber zu reden.

Nach dem Konzert, nicht davor.

Die Kontrollrechnungen haben mich den Samstag gekostet. Dreimal habe ich sie wiederholt, was mich bis nach Mitternacht festgehalten, den Besuch bei Mutter und Schwester vereitelt hat.

Das Vorzeichen ist positiv.

Spät abends habe ich meiner Schwester die e-Mail geschickt, mich für mein Ausbleiben entschuldigt, den Besuch für kommenden Samstag angekündigt. Sie hat nicht geantwortet. Das Konzert morgen, am Sonntag, ist unerwähnt geblieben. Vielleicht gehen sie beide, Mutter und Schwester, auf eigene Veranlassung hin. Dann werde ich sie treffen. Jetzt, um ein Uhr nachts, bin ich erschöpft. Eine Tasse Tee trinken mit einem Löffel Honig darin ist alles, wozu ich imstande bin.

Meiner Müdigkeit zum Trotz, habe ich wenig geschlafen. Fehler ausmerzen ist lästig, auch wenn es sein muss. Wissenschaft ist so beschaffen. Sie lernt aus Fehlern. Unabhängig von der Person. Die Menschheit als Ganzes lernt bestenfalls aus Katastrophen. Meist nicht einmal dann. Als Ganzes verfügt sie über keine Erinnerung, kein Wissen. Die Geschichte beweist es. Dass sie nichts gelernt hat, beweist der Umgang mit dem Klimawandel.

Gestern stand im Leitartikel einer führenden Zeitung, der höchste journalistische Wunsch sei, eine bekannte Person zu Fall zu bringen, sie – in der neuen Schreibweise – zu dekuvrieren. Ein höchst abstossender, egozentrischer, ja nebensächlicher Wunsch. Nach seinen beiden Hochblüten, dem Nazionalsozialismus und dem Kommunismus, sollte das Denuziantenunwesen eigentlich überwunden sein.

Heute am Sonntag habe ich die Rechnung ein letztesmal durchgezogen. Sie stimmt. Sie hat mich den Vormittag gekostet. Nun mache ich mich auf den Weg ins Münster.

Zu Chronines Antrittskonzert.

Im Münster ist es kühl. Den zahlreichen Zuhörern zum Trotz. Sie strömen durch das Portal herein, werden den Raum eine Stunde lang wärmen. Jeder mit Hundert Watt Heizleistung. Das Münster fasst Tausend Personen. Das macht am Ende des Konzerts Hundert Kilowattstunden.

Es ist voll besetzt. Das Schiff, die Emporen. Alle wollen die neue Organistin hören.

Ich habe Chronine nicht aufgesucht. Vor dem Konzert ist sie mit sich selbst beschäftigt und nicht zu Unterhaltungen aufgelegt. Mutter und Schwester sind mir nicht zu Gesicht gekommen, obwohl ich den Eingang im Auge behalte. Wäre ich gestern abend bei ihnen gewesen, hätte ich sie abholen können.

Nahrung für mein böses Gewissen.

Die Noten auf den Knien, warte ich. Neunzig dicht bedruckte Seiten. Chronine beginnt ohne Zögern. Die Gespräche verstummen. Der Contrapunctus 1 mit dem d-moll Thema, Bachs bevorzugte Tonart, dem nackten d-moll Akkord die Quinte aufwärts, danach absteigend, entwickelt ihn anschliessend in aller polyphonen Raffinesse.

Chronine geht zügig voran, reiht die Kanons aneinander, baut die Fugen auf. Schliesslich, worauf die es wissen, gewartet haben: im letzten Contrapunctus 18 – vierundzwanzig sollten es werden –, Takt 193 die vier musikalischen Buchstaben im Tenorsolo B A C H. Halbe Noten, jede vom selben Gewicht, Bachs tönende chromatische Unterschrift. Den Unaufmerksamen entgeht sie.

Chronine macht kein Wesens darum. Sie lässt die Orgel nicht dröhnen. Bach unterschreibt ohne Kenntnis der eigenen Grösse. Zeitgenosse Newtons, 1727 zu dessen Tod 42 Jahre alt.

Wäre er in die exakte Wissenschaft gegangen, denke ich … Gottseidank ist er das nicht! Wir hätten Unersetzliches verloren. Es wäre nie zu musikalischem Leben erweckt worden.

Ich führe den Gedanken nicht weiter. Fünfundvierzig Takte nach seiner Unterschrift starb er, 1750, eine halbe Stunde vielleicht oder weniger, gemessen in Zeit, die er mit dem Notieren füllte.

Chronine hängt den ruhigen Choral an: “Vor deinen Thron tret ich hiermit”. Trotz der unvollendet gebliebenen Kunst der Fuge, der würdige Abschluss.

Stille. Niemand klatscht. Chronine schaltet das Orgellaufwerk ab. Ihre Schritte knarren auf der Empore. Das Zeichen, auf das hin sich alle erheben.

Ich warte an der Tür.

Sie kommt die Treppe herab.

Aber dann sehe ich Chronine, gefangen inmitten einer Schar junger Leute nebst einigen älteren Honoratioren.

Sie hat mich erblickt, winkt mir flüchtig zu.

So gehe ich. In Gedanken, den Nachklang dieser keineswegs schönen, keineswegs erhabenen – doch was ist schön, was ist erhaben? –, im Gegenteil dieser bescheidenen, mächtigen Musik im Ohr.

Von Chronine ebenbürtig reproduziert.

Jetzt, da ich nach allem Erlebten weiss, dass sie Fuss gefasst hat, ist keine Eile.

Nicht die mindeste.

WIEDERSEHEN MIT WANGENAU

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