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3. Kapitel : Reise

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Was sich auf der langen Bahnfahrt nach Wangenau tut

Mehrere Monate, ja nahezu, wenn auch nicht ganz ein Jahr lang dachte ich nur gelegentlich an Chronine, bis eines Tages der Brief eintraf, in dem sie mich aufforderte, sie nun doch unbedingt, sie hatte das Wort doppelt unterstrichen, in der gemeinsamen Heimat zu besuchen. Inzwischen sei sie Mutter geworden und würde sich über alle Massen freuen, wenn ich käme.

Mein Entschluss fiel nicht sofort, vielmehr zögerte ich ihn längere Zeit hinaus, ohne zu antworteten. Dann, ein paar Wochen später, kam ihr zweiter Brief. Sie schrieb, sie selbst denke bereits an Rückkehr. Wolle ich sie noch in Wangenau antreffen und wolle ich überhaupt Wangenau wiedersehen, so sei dies die allerletzte, auch dieses Wort hatte sie doppelt unterstrichen, Gelegenheit. Ein weiteres Mal nähme sie die beschwerliche Fahrt nicht auf sich.

Ich dürfe aber nicht glauben, sie bereue, gereist zu sein. Im Gegenteil: Die Gegend sei malerisch, die Leute zuvorkommend, der Lebensstandard nicht so niedrig, wie aus durchsichtig propagandistischen Gründen berichtet würde. Ich möge, wenn ich mich entschliessen könne, bitte, kommen. Die Rückreise könnten wir beide gemeinsam antreten, um, wenn ihr Freund im Frühjahr oder Sommer wieder einträfe, zurück in Zürich zu sein. Später dann solle die Hochzeit folgen, auf die sie sich, nachdem sie nun Mutter geworden sei, durchaus freue.

Dieser Brief gab den Ausschlag. Ich schrieb umgehend, ich käme, bat mein Reisebüro, die Fahrkarte auszustellen. Sie schüttelten die Köpfe: Eigentlich führen nur Frauen in jene Gegend, junge Frauen, setzten sie hinzu. Alle Information stamme einzig und allein von ihnen. Männer seien ihnen kaum erinnerlich; und wenn, dann höchstens eine geringe Anzahl und doch nur, um ihre Frauen abzuholen, die zumeist in Wangenau niedergekommen wären.

Das sei auch bei mir der Fall, antwortete ich nicht ganz wahrheitsgetreu.

Sie betrachteten mich zweifelnd.

Ach so, dann sei es etwas anderes.

Nehmen Sie keine Bücher mit, rieten sie mir. Die dortigen Behörden unterbänden die Einfuhr jeglicher Art von Literatur. Alles Schriftliche, auch Briefe, Notizbücher und dergleichen unterlägen der Zensur. Lebensmittel, Genusswaren, Kleidung, auch Geld seien erlaubt, erwünscht sogar und dürften ohne weitere Einschränkung in beliebiger Menge eingeführt werden, solange es sich nicht um Handelsware handle; Handel sei nur auf staatlicher Ebene gestattet.

Ich werde mich daran halten, nickte ich abwesend.

Weiter sagten sie nichts.

Also bat ich einen Kollegen, meine Vorlesungen zu übernehmen, bis ich wieder zurück sei, versprechend, dass ich, falls erforderlich, ein gleiches für ihn tun wolle. Ich nahm eine Woche Urlaub und machte mich mit meinem kleinen Koffer, in den ich nur das Nötigste eingepackt hatte, auf den Weg. In diese Gegend führe nur ein Zug am Tage, und obwohl die Entfernung per Luftlinie nicht besonders groß sei, ein paar Hundert Kilometer, nicht mehr, würde er den ganzen Tag unterwegs sein, hatten sie mir im Reisebüro bedeutet. Die Abfahrtzeit lag aus diesem Grunde auf dem frühen Morgen, während die Rückfahrt mit dem gleichen Zug über Nacht erfolgte.

Bereits um sechs Uhr morgens wankte ich, noch reichlich müde, den auf dem hintersten Gleis, Gleis 45, bereitgestellten Zug entlang und suchte mir meinen Platz. Ein frischer, kühler Wind wehte und blähte meinen Trench, so dass ich den Kragen aufstellte. Es überraschte mich, wie sehr dieser Zug von den leisen modernen Zügen abstach mit ihren Doppelstockwagen und Grossraumabteilen, die pausenlos auf den anderen Gleisen ein und aus rollten und in denen man den Komfort bequemer Sessel genoss. Dieser Zug bestand aus nur wenigen, aus der Vorkriegszeit stammenden Vehikeln, graugrüne erstaunlich kleine Gefährte mit geschlossenen Abteilen auf der einen und schmalen Gängen auf der anderen Seite.

Da ich gewarnt worden war, die Fahrt würde nicht nur lang, sondern wegen der Enge und dem geringen Komfort in den Abteilen auch beschwerlich werden, hatte ich mich entgegen meinen sonstigen Gewohnheiten bei längeren Fahrten zur Ersten Klasse durchgerungen. Das war, wie sich herausstellte, vernünftig gewesen. In der Zweiten Klasse gab es noch Holzbänke.

Mein Abteil war rasch gefunden. Ich hängte den Trench an den Haken neben der Tür und liess mich in das knirschende, viel zu weiche, überalterte und durchgesessene Polster fallen, nachdem ich meinen Koffer in Ermangelung einer anderen Möglichkeit oben ins Netz gelegt hatte. Er passte, obwohl klein, kaum hinein und hing beängstigend tief und schräg durch. In den Reservierungsschlitzen steckte, ebenfalls schräg, weil für moderne Züge konzipiert und darum zu lang, eine einzige schmale gelbe Karte, die auswies, dass in diesem Abteil ein einzelner Fahrgast die gesamte Strecke von Zürich bis Wangenau zurückzulegen gedachte.

Ich würde allein sein.

Blaue, kurze, zerknitterte Vorhänge schaukelten vor dem schmalen Fenster. Ebensolche Vorhänge hingen an der Tür, die klemmte, sich aber mit etwas Kraft zur Seite schieben liess. Ich zog die Vorhänge vor die Tür. Sie verdeckten sie nur unvollständig. Den linken Fenstervorhang klemmte ich in einen dafür vorgesehenen Ring, weil ich Aussicht auf das Land haben wollte, durch das wir fahren würden. Auf der rechten Seite fehlte ein solcher Ring, und so wand ich einen festen Knoten in den rechten Fenstervorhang. Ich musste mehrmals ansetzen, ehe der Knoten hoch genug sass und der Vorhang ausreichend viel vom Fenster freigab. Schliesslich hatte ich es geschafft und nun zu meiner Zufriedenheit offene Sicht. Allerdings war das Fensterglas vom Alter in seinem oberen Teil milchig angelaufen und deshalb stellenweise nicht mehr gleichmässig durchsichtig. Die unregelmässig über das Fenster verteilten Flecken täuschten, wenn man sich über ihre Ursache keine Rechenschaft ablegte, leicht düstere stationäre Bewölkung vor.

In Zürich waren nur wenige Fahrgäste zugestiegen und hatten sich über den Zug verteilt. Ich wanderte den Gang hinunter und blickte in die Abteile. In der Ersten Klasse waren die Türvorhänge in drei Abteilen vorgezogen, schlossen jedoch wie in meinem Abteil nur unvollständig. Durch die Lücken von der Seite hineinspähend, sass in jedem von ihnen eine junge, anscheinend schwangere Frau.

Diese Frauen fuhren gleichfalls nach Wangenau. Wer sonst in diese Richtung, doch nicht bis Wangenau fahren wollte, nahm vernünftigerweise die schnellen Züge, zumal kein Preisunterschied bestand.

Hätte es nicht nur diesen einzigen Zug gegeben, dann würde auch ich bis zur letzten Station vor der Grenze mit den normalen Zügen gefahren sein und hätte von dort den Zug über die Grenze genommen. Aber keiner der schnellen Züge hatte direkten Anschluss nach Wangenau. An der letzten Station, von der ich wusste, dass sie touristisch nicht besonders interessant war, weiter nichts als ein früherer, nun bis auf den Grenzverkehr nach Wangenau stillgelegter Eisenbahnknotenpunkt, hätte ich mehrere Stunden warten müssen, um schlussendlich in diesen selben Zug einsteigen zu können, in dem ich es mir bereits so gut es ging bequem machte. Dazu hatte ich nicht die geringste Lust verspürt.

Mit etwas Verspätung setzte sich der Zug in Bewegung. Bis zur Grenze würde er wie üblich von den schweizerischen elektrischen Triebwagen gezogen werden. Danach sollte eine andere, möglicherweise gar dieselgetriebene Lok an ihre Stelle treten. Trotzdem fuhr der Zug bereits jetzt langsam und wechselte häufig auf Nebengleise, wo er die schnelleren Züge passieren liess. Diese betagten, klappernden Wagen, in denen es durch die Fester zog, durften nicht schneller bewegt werden, erklärte ich mir die anachronistische Langsamkeit. Vielleicht wurde der Zug auch von einer der langsamen Cargoloks gezogen.

So strich das Hügelland gemächlich vorüber. Im Dunst gegen den weisslichen Himmel richteten sich in der Ferne verschwommen die Silhouetten des Hochgebirges auf. Graue Kühe mit feuchten schwarzen, weiss umrandeten Nasen lagen zu beiden Seiten der Strecke wiederkäuend auf den Wiesen und vertrieben schwänzeschlagend die sie umschwirrenden Fliegen. In Halbkreisen zogen breitscheunige Bauerngehöfte vorbei. Sie erinnerten mich an schnaubende, fest auf der Erde stehende, den Boden stampfende Büffelbullen. Die Köpfe gesenkt warteten sie breitbeinig auf irgendetwas. Ein Storch, den Hals lang ausgestreckt, flog mit schwerem Flügelschlag und auf der Wiese schleifenden dünnen roten Beinen rechts neben dem Zuge her, überholte und liess sich auf einem Dach nieder, wo er sich wie ein Blitzableiter aufrichtete und eines der Beine einzog. Den Kopf neigend und drehend blickte er dem Zuge nach. Fast wollte ich sagen: spöttisch. Sauber verschnittene Weinstauden wuchsen auf den der Sonne zugewandten Hängen, aufgereiht wie Regimenter in der vollen Farbenpracht ihrer leuchtend grünen Uniformen. An den Rainen der ockerfarbenen Getreidefelder, auf denen das Korn heranreifte, wuchsen lange Reihen von akeleiblauen Glockenblumen mit ihren hängenden und im Winde schaukelnden Köpfen und weichblättriger sanftroter Mohn. Das gemächliche Tempo hätte es mir ermöglicht, sie zu zählen, doch mir stand der Sinn nicht danach.

Irgendwann um die Mittagszeit erschien das Helvetino-Railservice-Wägelchen mit seinem Klingelglöckchen. Der freundliche farbige Ausländer, der es schob, ein Inder oder Pakistani mit schwarz glänzendem kurz geschnittenem Haar und tiefbrauner glatter Haut, um die ich ihn hätte beneiden mögen, fragte mich in einem weder grammatikalisch, noch dialektmässig stimmigen Gemisch aus Schrift- und Schwyzerdütsch nach meinen Wünschen. Eine heisse Schokolade, bitte, bat ich, die er mir sofort etwas umständlich, sich dabei tief vorbeugend und mit seinen schmalen biegsamen Fingern hantierend in einen Kartonbecher abfüllte, der so heiss war, dass ich ihn nur am oberen Rande mit Daumen und Mittelfinger der linken Hand anheben konnte. Dazu liess ich mir ein Panettone geben, das er mir bereitwillig aus dem angeklebten Papier wickelte, das Papier zusammenfaltete und in einem seitwärts an dem Wägelchen hängenden und bei jeder Bewegung des Wagons schaukelnden blauen Abfallsack verstaute. Frisch, luftig und gelb schmeckte das Panettone köstlich zur Schokolade.

Gegen Nachmittag bog der Zug ein auf eine selten befahrene Strecke in die Berge, die sich unaufhaltsam dichter zusammenschoben. Wieder und wieder verschwand der Zug in einem System von sich anscheinend um sich selber windenden Tunneln, aus denen er nach einer mir endlos vorkommenden Zeit auf der anderen Seite des Gebirges auftauchte und, sich schräg am Hang haltend, nun in geringfügig erhöhtem Tempo hinunter in das immer noch hügelige, aber nicht mehr bergige Land glitt, um nach einigen weiteren Schwüngen in engen Kurven, wo er das Tempo auf Schritt reduzierte, neben einem kleinen Fluss her in die Grenzstation einzurollen, über der der leichte warme Fallwind eine vergilbte Schweizer Fahne unrhythmisch und klirrend gegen den Fahnenmast warf.

Kurz zuvor kam das Helvetino-Wägelchen noch einmal vorbei, und ich kaufte dem farbigen Ausländer ein Sandwich mit darin eingebackener heisser Wurst ab und nahm dazu ein Mineralwasser.

Sie tun gut daran, jetzt noch etwas zu essen. Zwar ist es nicht mehr weit bis Wangenau, nur noch dreissig bis vierzig Kilometer, doch es geht auf den Abend, und die Fahrt zieht sich in die Länge, wie Sie selbst sehen werden.

Er nickte mir freundlich zu, froh darüber, bei den wenigen Fahrgästen noch vor Ankunft eine Kleinigkeit abgesetzt zu haben.

Jenseits der Grenze darf ich nichts mehr verkaufen. Sie kontrollieren, was mir an Waren verblieben ist; und bei der Rückfahrt heute Nacht prüfen sie es Stück für Stück nach.

Tatsächlich? fragte ich ungläubig.

Er nickte bestätigend und in Eile, ehe er sich zu seinem, wie er verriet, vom Wangenauer Zoll vorgeschriebenen Standort ganz hinten auf der letzten Plattform im Zuge begab.

Ich erinnerte mich, dass Wangenau an einem Fluss jenseits der Wasserscheide lag, der sich später mit einem anderen Fluss und dieser wiederum mit einem großen Fluss vereinigte, der schliesslich und endlich ins Schwarze Meer mündete, der Donau. Aber mir wollte der Name der ersten beiden Flüsse nicht einfallen, des Flusses, an dem Wangenau liegt und des Flusses, der selbst – oder seine Fortsetzung – irgendwo in einem anderen Lande in die Donau mündet.

Der Schweizer Zoll sparte sich die Mühe einer Kontrolle. Stattdessen kam von Wangenauer Seite eine Grenzbeamtin durch den Zug und liess sich meinen Pass zeigen.

Die junge Frau war hübsch. Ihre grüne Uniform stand ihr gut, ein tailliertes, mit militärischen Schulterstücken besetztes Jackett, ähnlich dem, wie Jäger es tragen. Unter der Brust schloss es auf zwei Knöpfe. Vielleicht ging das Grün ein wenig mehr ins Gelbe als das der Jäger. Der passende grüne Rock war erstaunlich kurz und eng. Er liess die Knie und sogar noch ein Grossteil der wohlgeformten Oberschenkel frei. Sie hatte ihr Schiffchen keck schräg auf die braunen Locken gesetzt. Vor der gleichfalls wohlgeformten Brust trug sie eine Schreibplatte, die an einem raffiniert ausgeklügelten Hängesystem von Lederriemen so angebracht war, dass sie, ohne im geringsten in ihren Bewegungen behindert zu werden, bequem im Stehen darauf schreiben konnte.

Sie warf einen flüchtigen Blick auf mich und blätterte dann in meinem Pass, klappte ihn auf der letzten Seite auf, wo sich Visastempel von den USA, Japan, Israel, Australien und ein paar weiteren Ländern befanden und setzte einen weiteren Stempel hinzu.

Sie scheinen in der Welt weit herumgekommen, meinte sie freundlich. Führen Sie irgendwelche Literatur mit sich?

Nur eine Zeitschrift, die ich unterwegs gelesen habe.

Wirklich nichts? Keine Bücher, nichts Erotisches, Präservative, Stimulatoren? Männer haben doch immer derartiges dabei.

Nichts dergleichen, antwortete ich etwas verwundert.

Sie sah sich im Abteil um.

Darf ich in Ihren Koffer hinein schauen?

Selbstverständlich, nickte ich.

Ich nahm den Koffer aus dem Netz und öffnete ihn, hob den Pyjama und das Rasierzeug an. Sie warf wieder nur einen kurzen professionellen Blick darauf.

Sie können ihn wieder schliessen. Geben Sie mir die Zeitschrift. Sie hielt mir die geöffnete Hand hin, und ich legte das Journal hinein. Ah, der neueste Spiegel. Interessant. Sie interessieren sich für Politik? Sind Sie Politiker? Reisen Sie in Sachen Politik, zu Verhandlungen ein, oder als Geschäftsmann?

Ich hole nur eine junge Frau ab.

Ach so, privat. Das übliche. Nun dann also. Einen guten und erfolgreichen Aufenthalt.

Sie hielt mir wieder die Hand hin. Diesmal zum Abschied. Ich ergriff sie. Sie war angenehm warm und hatte einen kräftigen Druck.

Danke, antwortete ich. Vielleicht können Sie mir, bitte, noch sagen, wie der Fluss heißt, an dem wir entlang fahren werden?

Sie lächelte freundlich: Das ist die Wange. Wangenau liegt an der Wange. Daher der Name. Die Wange durchquert die Region Wangenau, bevor sie weit jenseits der Grenze in die Arle, die ihrerseits in die Spaerbe und die schliesslich in die Donau mündet, deren Wasser ins Schwarze Meer fliessen. Sie sollten Ihre Geographiekenntnisse auffrischen, mein Herr.

Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Aber sie nickte mir noch einmal freundlich zu, während ich für die erschöpfende sachliche Auskunft dankte, und verliess das Abteil, in der einen Hand den Spiegel, während sie mit der anderen die Tür hinter sich schloss. Dabei spannte sich, was mir angenehm in Erinnerung blieb, der kurze enge Rock, eine schräge Falte werfend, aufregend über ihre Hüften.

Ich packte das warme Sandwich aus und ass, das Sandwich mit der weissen Papierserviette haltend, die der farbige Ausländer beigelegt hatte, und genoss den Geschmack des eingebackenen Buureschübli.

Wenig später ging ein Ruck durch den Zug. Die Lokomotiven waren ausgewechselt worden. Es dauerte noch eine Viertelstunde, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung und ratterte, diesmal unsäglich langsam, schneckengleich fast, über ungeschweisste Schienen die gewundene leicht abschüssige Strecke hinab. Die Schienenstösse versetzten den Wagon in rhythmische Schwingungen. Ich fürchtete, der Zug fuhr so lagnsam, weild die Amplituden der Schwingungen sich bei höherem Tempo aufsteilen und die Wagen aus den Gleisen springen könnten. Im Abteil breitete sich der Geruch von Dieselabgasen aus. Dem Anschein nach funktionierte die Belüftung nicht. Ich öffnete die Tür auf den Gang, um frische Luft einzulassen, aber auch dort roch es nach verbranntem Diesel. Darum schob ich das Gangfenster ein Stück herab.

Gerade in diesem Moment betrat die Schaffnerin den Wagen, eine zierliche, blonde Frau im nachtblauen Dienstkostüm, und verlangte nach meiner Fahrkarte.

Die Fenster müssen während der Fahrt geschlossen gehalten werden. Aber ich werde ein Auge zudrücken. Es riecht wirklich unangenehm nach Diesel, und es soll ungesund sein, diese Abgase einzuatmen, nicht nur für Sie, sondern auch für mich.

Sie hustete vielsagend.

Danke, antwortete ich, es kommt ja auch keine wirklich kalte Luft herein.

Im Winter muss ich leider auf geschlossenen Fenstern bestehen, sonst kühlen die Wagen zu sehr aus, und für die Schwangeren im Zuge kann das gefährlich werden.

Ich nickte verständnisvoll, bevor wir ins Abteil zurückgingen und ich ihr meinen von der Schweizer Bahn ausgestellten Anschlussfahrschein hinhielt.

Sie haben die Rückfahrt nicht eingetragen, sie tippte mit dem Finger auf ein Kästchen, über dem “Datum der Rückfahrt” stand.

Weil ich nicht weiss, wann es sein wird. Ich hole eine junge Frau mit Kind ab, kann aber nicht sagen, ob wir morgen oder erst kommende Woche wieder zurückfahren werden. Offiziell habe ich eine Woche Urlaub.

Dann legen wir uns auf nächsten Sonntag fest. Das erlaubt ihnen, zu jedem früheren Termin abzureisen. Sie zückte ihren Kugelschreiber und machte sich daran, selbst das Datum einzutragen. Als sie damit fertig war, händigte sie mir den Fahrschein wieder aus. Einen angenehmen Aufenthalt noch.

Sie ging davon, den Gang hinunter und blickte dabei in die Abteile.

Ich schaute aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich bezogen. Ein kühler Wind wehte; es sah nach Regen aus, aber es regnete nicht, noch nicht. Gut, dass ich meinen Trench mitgenommen hatte.

Neben dem Zug, teilweise von Buschwerk verdeckt und etwas tiefer gelegen, floss die Wange dahin, ein quirliger kleiner Fluss, schmal und angefüllt mit Steinen, dessen viele Windungen die Bahnstrecke voll auskostete. In manchen Flussbiegungen schien der Fluss ausgetrocknet. Steine füllten das gesamte Flussbett, glattgewaschene flache graue Steine. Hier floss das Wasser unterirdisch oder in einem schmalen Streifen unterhalb der Grasüberhänge, so dass es für mich unsichtbar blieb. Die ganze Zeit über hielt sich der Zug auf der linken Seite des Flusses, ohne ihn auch nur ein einziges Mal auf einer Brücke zu überqueren. Links von uns befand sich immer noch das Gebirge, genauer gesagt, das Vorgebirge, mit seinen dichten dunklen Nadelwäldern, welche die Hänge hinauf anstiegen. Rechts über den Fluss hinweg blickte ich in die sich zögernd öffnende Landschaft, ein sanftes Hügelland mit kleinen und großen Weideflächen, grün in den verschiedensten Tönungen und Schattierungen, von Hainen und Baumgruppen unterbrochen, die auf die Hügelkuppen hinaufkletterten. Endmoränenlandschaft, dachte ich. Die steinigen, lehmigen Hügel sind für die Landwirtschaft nicht zu brauchen. Aber wahrscheinlich enthält der Boden in den Niederungen zwischen den Hügeln Löss und muss nicht unfruchtbar sein. Mir schien allerdings, als gäbe es hier praktisch keine Landwirtschaft. Weder weideten Rinderherden auf den ausgedehnten Wiesen, noch waren größere Weideflächen eingezäunt worden. Mir war nicht ersichtlich, ob die Wiesen bestellt und gepflegt wurden oder ob sie sich selbst überlassenes Brachland bildeten.

Vorerst gab es keinerlei Anzeichen von Dörfern, Ställen, Silos. Am Fenster stehend registrierte ich die geringe Zahl der Wege und Strassen zwischen den Wiesenflächen. Endlich, in weiterer Ferne eine kleine Ansammlung von Häusern, flache Gebäude. Also doch Ställe, also doch Landwirtschaft. Kollektive Landwirtschaft, allem Anschein nach, keine kleinen Bauerngehöfte, dachte ich. Oder eine Art Industrie, Chemieindustrie unter Verwendung landwirtschaftlicher Produkte, Biogas, Bioenergie? Ich erinnerte mich, etwas dergleichen von der Region Wangenau gehört zu haben. Irgendwo hatte ich gelesen, Wangenau produziere Biotreibstoffe. Eine sehr einseitige Form von Industrie. Wovon lebten sie eigentlich? Welcher Art war ihre Wirtschaft?

Wenig später erkannte ich Weinberganlagen an den lehmigen und steinigen Südhängen der Endmoränenhügel, und eine Anzahl Wiesen hatten niedrigem Obstbaumbestand Platz gemacht, säuberlich in einige Meter auseinander stehende Baumreihen eingeteilte Flächen, zwischen denen automatische Pflückmaschinen bequem herumfahren mochten. Aus der Entfernung war es mir nicht möglich, die Art der Bäume zu identifizieren. Äpfel, Kirschen, Birnen? Jedenfalls gab es hier Obstanbau, und ich erinnerte mich, in der Migros die Aufschrift Wangenauer Obst gelesen und auch erstanden zu haben, schmackhafte ausgereifte Äpfel zu erschwinglichen Preisen.

Nach einer weiteren Stunde flachte das Land ab. Die Vorgebirge links traten zur Seite und öffneten sich einer breiten Talebene. Ich trat wieder hinaus auf den Gang und schöpfte ein paar Atemzüge frische Luft.

Die Schaffnerin kam zurück und stellte sich neben mir auf. Sie blickte hinaus in das Land und schwieg.

Viele Fahrgäste? fragte ich.

Nicht um diese Jahreszeit. Nur ein paar Schwangere.

Sie schwieg erneut, und ich hatte keine Fragen an sie. Nebeneinander schauten wir aus dem Fenster. Langsam kam der Zug voran. Ein sanftes Tal tauchte vor uns auf.

Sie wies mit dem Kinn hinaus: Da unten liegt Wangenau. Kommen Sie das erste Mal hierher?

Ja, das erste Mal.

Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber ich sah keinen Grund, sie darüber aufzuklären, dass ich hier geboren war. Und andrerseits stimmte es wieder, denn als Erwachsener und überhaupt besuchte ich Wangenau zum erstenmal.

Hinter einer Biegung schoben sich vereinzelte Häuser ins Gesichtsfeld. Rote Ziegeldächer mit grauen Schornsteinen darauf. Der Zug fuhr eine weitere zeitraubende Kurve. Als er sie endlich ausgekostet hatte, erschien vor uns die Stadt. Sie lag hinter einem ausgedehnten Waldstück, das ein Park sein mochte, tiefer gelegen als die Gleisanlage. Immer noch floss da unten die Wange, aber anscheinend durchquerte sie die Stadt nicht, sondern umschloss Wangenau in einem großen Halbkreis von der anderen Seite her. In alten Zeiten war eine solche Lage von strategischem Vorteil gewesen. Ausgedehnt schien die Stadt nicht zu sein. Ein niedriger kantiger Kirchturm mit schiefergrau gedecktem spitzen Dach überragte sie. Nicht weit davon entfernt ein höherer Zwiebelturm.

Zwei Kirchen?

In ihren Ohren klang es offenbar verwundert. Sie warf einen kurzen Blick auf mich und erwiderte: Der Zwiebelturm gehört zum Schloss.

Ach! Ich wusste nichts von einem Schloss.

Es hat in der Geschichte von Wangenau keine große oder wenigstens keine rühmliche Rolle gespielt. Einer der grossen Komponist hat dort vor drei Jahrhunderten im Alter von siebzehn Jahren seine Karriere als Konzertmeister des Hoforchesters begonnen, bis er sich mit dem Grafen überwarf und, ich kann es nicht anders sagen, schmählich entlassen wurde. Aber das war sein und unser aller Glück gewesen. Sie müssen wissen, dass eine solche Anstellung so gut wie Leibeigenschaft bedeutete. Der Betreffende durfte das Stadtgebiet nicht ohne Einwilligung des Grafen verlassen. Für Konzerte, zum Beispiel, die er irgendwo ausserhalb Wangenaus geben wollte oder zu denen er eingeladen worden war, musste er die persönliche Genehmigung des Grafen einholen. Dabei setzte es, je nach Laune des Grafen, Ermahnungen, häufig auch Schläge, abgesehen davon, dass der damalige Graf von Musik nicht das geringste verstand und hielt, sondern sich vorzüglich der Jagd widmete und Uniformen liebte. Musik hatte Marschmusik zu sein. Das Orchester gehörte zum Miltär und trug Uniform. Die Entlassung vom Hof kam der Entlassung aus der Leibeigenschaft gleich. Da er ein genialer Musiker war, bekam er andernorts eine Stelle als Kapellmeister, wo es ihm um einiges besser erging. Die Höfe rissen sich um ihn, und er konnte sein grosses Talent entwickeln. In Wangenau am Schloss wäre er ein kleiner unbekannter Hofmusikus geblieben. Trotzdem zählen wir ihn zu den bedeutenden Wangenauer Persönlichkeiten.

Nicht zu unrecht, wahrscheinlich.

Sie nickte: Durchaus nicht. Er stammte aus Bern. Aber Wangenau hat ein Anrecht auf ihn. Das Schloss zu besichtigen, macht wenig Sinn. In den Kriegen, zuletzt im Zweiten Weltkrieg wurde es stark beschädigt und ist im Grunde verfallen. Ein Widerstandsnest hatte sich darin festgesetzt, und die Alliierten hatten alle Mühe mit seiner Einnahme. Dabei ging der Bau in die Brüche. Nach dem Kriege ist das Schloss nur notdürftig instand gesetzt worden. Gerade mal so saniert, dass es nicht gänzlich verfällt. Seine vollständige Restauration steht noch aus. Es mangelte an Geld und mangelt heute noch daran. Weil es aber kein historisch bedeutsames Gebäude ist, weder Renaissance, dafür haben schon die Brandschatzungen des Dreissigjährigen Krieges gesorgt, noch irgendetwas Wertvolles aus dem Barock, dem Rokokko, dafür waren der Herr Graf und das Land umher nicht wohlhabend genug, wird in der Regierung keine Stimme zu gewinnen sein. Auch Sammlungen haben wenig eingebracht und, wie Sie wissen, ist das Ausland in diesen Dingen nicht freigebig, weil es keinen Gewinn daraus ziehen kann. Im Grunde boykottiert es uns. Sie nennen das Sanktionen. Aber wir, die Bevölkerung, leiden darunter. Die inländischen und ausländischen Architekten haben Restaurationsentwürfe gezeichnet und Vorschläge für die Sanierung eingereicht. Ein englisches Architekturbureau, hat dafür den Wangenauer Kulturpreis gewonnen. Es könnte verwirklicht werden, doch wann das finanziell möglich sein wird, ist ungewiss. Das Schloss liegt übrigens in einem großen verwilderten Park mit einigen künstlichen Ruinen. Von hier oben können Sie es sehen, nur von hier oben. Im Park müssten sie nach ihnen suchen oder sich zu ihnen hinführen lassen. Der Park selbst ist durchaus sehenswert. Besuchen Sie ihn, wenn Sie die Zeit dafür erübrigen können.

Irgendetwas am Wangenauer Stadtbild, so wie es sich mir aus der Entfernung bot, befremdete mich, und ich brauchte einen Augenblick, ehe mir klar wurde, was es war: das vollständige Fehlen moderner Industriebauten, das Fehlen von Hochhäusern und diesen jedem von uns wohlbekannten Mietsblöcken, wie wir sie nennen, die unsere Städte einrahmen, hinaus ins Limmattal, zur Hardbrücke, Richtung Oerlikon, Betonklötze mit Kunststofffenstern und aussen übereinander wie Schwalbennester angeklebten winzigen Balkonen. Unterkünfte eher als Wohnungen. Nichts davon liess sich in Wangenau erkennen. Wohin ich blickte, waren nur roten Ziegeldächer zu sehen, wie wir ihnen in den Stadtzentren der kleineren heilen Städte begegnen. Kein einziger Flachbau, den ich hätte identifizieren können.

Keine Hochhäuser? fragte ich.

Die Schaffnerin nickte wieder:

Nicht hier in Wangenau.

Gibt es denn keine Industrie?

Sie antwortete nicht.

Irgendwo, draussen?

Sie schwieg.

Links erhöht, hinter sich einen unbebauten Hügel mit Wald obenauf, dunklem Buchenmischwald, lag der Bahnhof. Von dort ging es wohl abwärts, hinunter ins Zentrum der Stadt. Die Lokomotive pfiff schrill und anhaltend, und wenige Minuten später rollte der Zug in den Bahnhof ein, der aus einem einzigen halb überdachten Bahnsteig mit zwei Gleisen bestand und einem niedrigen, von aussen grauen Bahnhofsgebäude, zu dem ich ein Gleis hätte überqueren müssen, was wohl kaum gestattet war.

Wangenau Hauptbahnhof, Endstation, rief die Schaffnerin den Gang hinunter, und zu mir gewandt, sagte sie freundlich: Ich wünsche Ihnen eine schöne Zeit, einen angenehmen Aufenthalt, und vielleicht sehen wir uns auf der Rückfahrt wieder? Alles Gute noch.

Sie reichte mir ihre kleine feste Hand, die ich nahm.

Danke, vielleicht, warum nicht? Ich hoffe, man holt mich vom Bahnhof ab, damit ich mich zurechtfinde.

Als Fremder werden Sie sofort auffallen. Man wird Ihnen behilflich sein. Wangenau ist eine kleine Stadt, verglichen mit Zürich. Sie finden sich leicht darin zurecht. Der Bahnhof hat nur einen einzigen Ausgang: den Hauptausgang. Erst vom Gleis die Treppe hinunter ins Untergeschoss und dann nach rechts. Vorbei an den Schaltern. Melden Sie sich an. Alles ist angeschrieben. Sie werden schon sehen. Gehen sie dort hinaus. Leicht abwärts geradeaus hinunter in die Stadt. Oder, falls sie nicht abgeholt werden, nehmen sie das Taxi.

WIEDERSEHEN MIT WANGENAU

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