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2. Kapitel : Aufforderung
ОглавлениеWorin Chronine mich überredet, Sie in Wangenau zu besuchen
Chronine überraschte mich mit der Ankündigung, sie sei schwanger, wolle ihr Kind aber nicht in Zürich zur Welt bringen. Keinesfalls in Zürich, nein. In Wangenau, unser beider Heimatort. Wohin sie, wenn es an der Zeit sei, reisen werde. Rechtzeitig, einige Wochen vor dem Termin ihrer Niederkunft also. Bei dieser Gelegenheit wolle sie Wangenau kennenlernen. Endlich. Erstmalig. Sie freue sich darauf.
Zweitmalig, korrigierte ich sie.
Das erste Mal erinnere sie nicht. Verständlicherweise. Ihre Eltern hätten Wangenau mit ihr bereits ein knappes Jahr nach ihrer Geburt verlassen. Von Wangenau wisse sie nur aus den Erzählungen ihrer Mutter, nicht aus persönlichen Erfahrungen. Das wolle, ja müsse sie nun nachholen. Endlich, wie gesagt. Es sei lange überfällig.
Wogegen nichts Ernsthaftes einzuwenden sei, meinte ich, doch warum den Besuch mit ihrer Niederkunft verbinden?
Nun, das sei doch eine günstige, vielleicht die einzige günstige, so günstige Gelegenheit, war ihre Antwort, oder? Sie betonte das So, zog es in die Länge.
Wenn du meinst, sagte ich. Es ist deine Entscheidung.
Seit einigen Monaten lebte sie mit einem Musiker, einem Geiger, zusammen, dem sie auf einer Reise mit dem Chor, dem wir beide angehörten, nahe gekommen war. Unmittelbar nach der Matura, als sie nach dem Gesetz mündig wurde, trennte sie sich von ihrer Mutter, die mit ihrem Mann, einem bekannten Anwalt und Notar, in Scheidung lag, und zog zu ihm.
In den letzten beiden Jahren ihrer Schulzeit hatte ich mich in einer Art stellvertretender, wenn auch ein wenig lästiger, mich zeitlich wie emotional leicht überfordernder Vaterschaft um Chronine gekümmert. Seit ihrer Liaison mit dem Geiger war Abstand in unsere Beziehung gekommen – zu meiner Erleichterung, wie ich mir ohne unnötige quälende Gewissensbisse eingestand.
Früher schon hatten wir unsere gemeinsame Herkunft aus der Gegend um Wangenau entdeckt. Ihr Wunsch, unseren Heimatort zu besuchen, verwunderte mich darum nicht sonderlich. Ich fragte mich aber, aus welchem Grunde sie ausgerechnet den Zeitpunkt ihrer Niederkunft für diese Unternehmung wählte? Das Kind, soviel stand fest, sollte sie ihren Entschluss nicht widerrufen, würde in Wangenau geboren werden. Sie wollte es so.
Doch warum sollte das Kind den gleichen Geburtsort haben wie sie, der heute im Ausland lag? Was die Bürgerschaft betraf, war es eher von Nachteil. Dazu würde die Reise für Chronine in ihrem hochschwangeren Zustande beschwerlich werden. Und wussten wir, auf welchem Niveau sich dort die medizinische Versorgung befand? Niemand hatte eine rechte Vorstellung von den Bedingungen in Wangenau. Man redete allgemein und ohne es zu präzisieren von der wirtschaftlichen Rückständigkeit der Region. Auch politisch schien sie stehen geblieben. Die Unwichtigkeit äusserte sich in einem akuten Informationsmangel, den zu beheben sich niemand aufschwang. Alle zugänglichen Berichte verharrten im Vagen. Offenbar gab es eine, wenn auch nicht offiziell erklärte, so doch stillschweigend eingehaltene Nachrichtensperre. Reisende erzählten hin und wieder von den dortigen Zuständen. Wie gewöhnlich haftete ihren Angaben der Makel grösster Ungenauigkeit an, mitunter sogar der Widersprüchlichkeit. Berichtete der eine etwas Bestimmtes, so durfte man sicher sein, von einem anderen das Gegenteil zu vernehmen. Niemand zeichnete ein zuverlässiges Bild von Wangenau, das heute ein hermetisch abgeschlossenes Eigenleben führte. Und wer interessierte sich schon für dieses am Rande der Welt gelegene, längst nicht mehr bedeutende Städtchen mit seiner einstmals als sehenswert gepriesenen Umgebung und auch nach modernen Massstäben hochstehenden Kultur. Wangenau hatte Künstler aus aller Welt angezogen, die grössten Künstler der Epoche zumal? Seit es vor Jahrzehnten ausgeschert war und sich politisch wie ökonomisch selbständig gemacht hatte, schien es aus der Geschichte ausgeklammert, anschliessend vergessen. Trotz seinen unablässigen, aufdringlich zu nennenden Anstrengungen, die internationale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Was sich in jeder Hinsicht, nicht nur politisch, sondern in erster Linie ökonomisch negativ auf die dortigen Zustände auswirken musste.
Mich trieb es nicht im mindesten dahin, kannte ich Wangenau doch nur aus den knappen Beschreibungen meiner Mutter, die dürftig genug ausgefallen waren, mir kein konkretes Bild von der Stadt, ja der gesamten Region entstehen zu lassen. Nicht einmal neugierig hatten sie mich gemacht, obwohl mir nicht entgangen war, dass meine Mutter eine Art Hassliebe zu ihrer Heimat empfand.
Regelmässig tauchte in ihren Reden der Name Wangenau auf, und jedesmal sprach sie ihn halb mit Abscheu, halb mit einer Art liebevoller Anhänglichkeit aus. Sie vor allem stiess mir unangenehm auf. Vereinfachend erklärte ich sie mir als nostalgische, sentimental eingefärbte, durchaus verständliche Anwandlung: meine Mutter hatte ihre Jugendjahre dort zugebracht. Direkt darauf angesprochen, was mir allerdings nur ein einziges Mal unterlief, rief sie erschreckt und abwehrend aus: Aber nein, sie sei doch in Zürich aufgewachsen! Was wiederum stimmte, schloss ich ihre Kindheit aus.
Das war es denn auch gewesen, und ich drang nicht weiter in sie. Und wirklich, ich erinnere mich nicht, dass sie oder meine Schwester, die wie ich auch in Wangenau geboren war, jemals den Wunsch geäussert hätten, Wangenau wiederzusehen. Wenn auch nur für einen kurzen Besuch. Eine Stippvisite, eine Besichtigung, eine endgültige Bestandsaufnahme. Um diesen allerletzten verbliebenen, unschön empfundenen weissen Fleck auf der topographischen Karte unserer Familie und deren Herkunft auszumerzen.
Im Leben meiner Mutter nahm Wangenau eine Art irreale, fast möchte ich sagen artifizielle, besser noch imaginäre Präsenz ein. Es versetzte sich als etwas ganz und gar Unwirkliches direkt aus dem Märchen in die reale Gegenwart. Wo es doch als Fantasieobjekt irgendwo in weiter Ferne lag. Lediglich seine allerfeinsten Tentakeln reichten von dorther zu uns herüber. Durchscheinend und diffus schwankten sie wie im Aquarium unter den Einwirkungen der verschiedensten Strömungen vor unseren Augen hin und her. Und kamen wir mit ihnen in Berührung, was stets auf eine nicht geplante oder irgendwie beabsichtigte Weise geschah, so lösten sie wie die glitschigen Fangarme einer giftigen Qualle Krämpfe, Unwohlsein, ja physische Schmerzen aus. Wangenau verbreitete eine mir unverständliche Unruhe und versetzten meine Mutter und mit ihr natürlicherweise auch meine Schwester und mich in einen Zustand von Gespanntheit, Aufmerksamkeit und Gereiztheit für den es keinerlei rationale Erklärung gab. Dieser Zustand erfasste uns alle drei und stimmte mich immer aufs Neue empört und aggressiv, so dass weder ich, aus gerade diesem Grunde, noch meine Mutter und meine Schwester, aus einem anderen und für mich uneinsehbaren Grunde, ansprechbar blieben. In seiner Unerträglichkeit hielt er so lange an, bis wir seinen Anlass entweder vergassen oder einer von uns, meist ich, sich darüber hinwegsetzte und ihm schlussendlich mit aufgesteckter und völlig übertriebener Freundlichkeit und Fröhlichkeit ein Ende machte.
Ich werde längere Zeit in Wangenau zubringen. Es kann Monate, vielleicht ein Jahr dauern, bis ich wieder zurück bin.
Chronine kaute, ohne mir ins Gesicht zu sehen, an ihren Fingernägeln und fügte im selben Atem hinzu: Besuchst du mich dort? Eine einzigartige Gelegenheit, deinen Geburtsort wiederzusehen. Wirklich.
Sie musterte mich von der Seite her mit einem Glitzern in den Augen, das mich in hellwache Abwehr versetzte, einem Hin und Her des Blicks, der über mein Gesicht glitt, ohne irgendwo darin hängen zu bleiben.
Unwillkürlich erinnerte mich dieser Blick an ihren achtzehnten Geburtstag, an dem sie mich abends angerufen und eindringlich gebeten hatte, doch rasch noch auf eine kleine Feier herüberzukommen. Der Anwalt, sie sprach von ihrem Vater, sei am Nachmittag aufgekreuzt, ihr zu gratulieren und seinem Stolz auf die zusehends erwachsen werdende Tochter Ausdruck zu verleihen. Er sei, zum Glück, wieder fort. Mit seiner anderen, neuen Frau, die kaum älter war als Chronine, zwei drei Jahre nur und, ihrer Rede nach zu urteilen, nichts weiter darstellte als ein eitles Geschöpf. Ein Flittchen, wie sie sich ausdrückte, das ihren Vater sexuell um den Finger gewickelt und sich ins gemachte Nest gesetzt hatte. Es war klar, sie hasste sie aus tiefster Seele und übertrug diesen Hass auch auf den Vater, der, so sagte sie, eine schlappe Figur abgab. Sie müsse unbedingt noch mit einem normalen – das ihr Ausdruck – Manne sprechen, um ihr seelisches Gleichgewicht wieder herzustellen:
Gott, wenn das ein Vater sein soll!
Also hatte ich Orgelnoten erstanden. Diese schwer verkäuflichen und darum so teuren dünnen Notenhefte, die sich eine Schülerin von ihrem Taschengelde nicht leisten kann, selbst wenn ihr Vater ein nicht gerade schlecht situierter Anwalt und Notar ist, doch eine verwöhnte, anspruchsvolle, unersättliche Geliebte aushalten muss. Französische Orgelmusik: Vidor, Vierne, Milhaud, Messiaen, Poulenc. Orgelmusik, wie ich sie selbst mochte. Nicht leicht zu spielen, bereits erstaunlich modern, und von der ich mir dachte, dass sie auch ihr gefallen würde. Sie hatte sich voll auf das Orgelspiel geworfen. Es war ihr erklärtes Ziel, Organistin zu werden, wenn sie erst die Anfangsschwierigkeiten überwunden hätte. Mit Anstellung an einer Kathedrale. Ihre musikalische Begabung genügte durchaus für die Musikerkarriere; sie hatte absolutes Gehör, sang bezaubernd, ihre Motorik war gut entwickelt, ihr rhythmisches Gefühl stimmte. Vielleicht hatte sie etwas zu kleine Hände, aber die Hände waren weich und gelenkig, und sie spielte alle Stücke, auch die schwierigsten, mühelos vom Blatt. Wobei ihr das absolute Gehör und das perfekte musikalische Gedächtnis zu Hilfe kamen. Bewegungstechnisch war sie treffsicher und schnell in der Reaktion. Das Wichtigste aber: sie übte ihre Stücke mit einer nicht anders als fanatisch zu nennenden Hingabe auf Interpretation. Das machte den wirklichen Musiker in ihr. Neben dem rein Physischen war dies wahrscheinlich der Grund für die anfängliche Anziehung gewesen, die sie auf ihren Musikerfreund ausgeübt hatte.
Nur dieses eine einzige Mal hatte ich ihre und ihrer Mutter Wohnung betreten. Chronine hatte bereits reichlich Wein getrunken. Sie besass nicht mehr die volle Kontrolle über sich selbst. An der Tür warf sie sich geradewegs in meine Arme. Genauso, wie man es in schlechten und auch in vielen von den sogenannten guten Romanen liest, wo von geröteten Wangen geredet und verlogenerweise der ganze erotische Hintergrund verschwiegen wird. Als gehöre das alles nicht zum Leben: der angepresste Körper, der leicht geöffnete Mund mit den von Feuchtigkeit glänzenden Lippen, das gleiche Glitzern in den Augen, das die erotische Erwiderung zu erkennen sucht. Von den wie elektrisiert aufgerichteten Haaren über die Stirn, die flackernden, heute ausnahmsweise künstlichen Wimpern. Über die Lippen bis hinunter zu den Regionen, über die man der Sitte folgend nicht redet, atmete alles eine erregte feuchtwarme vibrierende Emanation. Durch das dünne, in der Taille geraffte Geburtstagskleid hindurch spürte ich ihre für ihr Alter zu schwere Brust. Ihr weicher Bauchansatz presste sich gegen mich.
Unvermeidlich sprang ein Teil der Erregung auch auf mich über, doch war sie vermischt mit jenem väterlichen Gefühl, das automatisch einen gesunden Abscheu erzeugt, der mich vor zu grosser Herzlichkeit bewahrte.
Ich löste ihre Arme behutsam von meinem Hals und brachte sie auf eine geringe Distanz, bevor ich ihr gratulierte.
Drinnen war eine kleine Gesellschaft versammelt. Ihre noch sehr jugendlich wirkende Mutter, die kaum jünger sein durfte, als ich es war, ein paar von Chronines Freundinnen und Freunden aus dem Chor. Darunter einer von diesen komischen Vögeln, die Priester werden wollen und glauben, sich ihr Leben lang dem Zölibat verschreiben zu können, während sie ständig von Frauen reden, und das in diminutivem Ton und unter Verwendung eines speziellen, subtil herabsetzenden Vokabulars. Dabei suchen sie die Gesellschaft von Frauen, ergreifen jeden sich bietenden Anlass, sich mit Frauen zu umgeben und sich mit ihren ans Schlüpfrige grenzenden Beiträgen zur Unterhaltung ins Zentrum zu setzen.
Chronine war damals in ihn verliebt gewesen. Zu meinem Erstaunen, wie ich zugeben muss. Bei allen Gelegenheiten schüttete sie mir ihr Herz aus. Zur gleichen Zeit traktierte er mich mit seinen mittelalterlichen, auf die aristotelische Nachfolge eingeschworenen Ansichten, die Hermeneutik, die Überlieferung, das geschriebenen Wort betreffend, die autorisierten Zeugnisse der Kirchenväter, wie er eigensinnig betonte, die Sünde im allgemeinen und die Sünde der Geburtenregelung im besonderen, der Prävention, Verhütung, vor allem die unsühnbare Todsünde der Abtreibung, die dem ordinären Mord gleichzusetzen sei, der wissentlichen und willentlichen Vernichtung von Leben. Worüber er sich stundenlang mit gesteigerter Unlogik und zunehmender Aggressivität auslassen konnte.
Ich hielt ihm den Zynismus der klerikalen Institution angesichts des Hungers, der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Dritten Welt und des Massensterbens von Kindern entgegen, die besser gar nicht hätten geboren werden sollen. Dagegen erfand er Tausend Ausflüchte, Rechtfertigungen, Erklärungen auf der Grundlage von ethisch-philosophischen Erwägungen, bis ich es aufgab, sie einzeln zu widerlegen. Als einziges erlaubte ich mir, ihn darauf hinzuweisen, dass es bislang nicht eine einzige stichhaltige philosophische Begründung von Ethik gäbe und dass die Philosophie bisher überhaupt so gut wie nichts erklärte. Das brachte ihn in Rage und liess ihn sich in der Behauptung verfangen, diesen Zweck erfülle die Religion. Folglich, konterte ich ironisch, definiere Religion Ethik in der Weise, dass Föten nicht angetastet werden dürften, weil eine derselben der Messias sein könne, bereits geborene Kinder aber nur gewöhnliche Menschen seien und recht und billig hungers verrecken oder in Kriegen umgebracht werden dürften.
In der Zwischenzeit schloss er sein Studium ab, verblieb jedoch weiterhin an der Universität. Er schrieb an einer Promotion über irgendein Seitenthema. Sein Mentor empfahl ihn als Spezialisten in Fragen des Abortus. Seither wurde er als akkreditierter Vertreter des wissenschaftlich geschulten Klerus zu Fernsehdiskussionen hinzugezogen. Stets gaben sie ihm das letzte und entscheidende Wort: das, was im Gedächtnis des Publikums haften bleibt.
Meine Schwester kommentierte einen seiner Auftritte, den sie miterlebte, mit den Worten: Finsterstes Mittelalter, was Frauen anbelangt. Was etwas heissen wollte bei ihr, die sonst Toleranz und Nachsicht in ihrer Person vereint. Weder politische Ranküne, noch die demagogischen Manipulationen der Parteien, noch die durchweg einseitigen, vom Interesse des privaten Informationsmonopols gesteuerten politischen Medienkommentare bringen sie aus der Fassung.
Was Chronine betraf, ersuchte er mich um Mithilfe, sie ihm vom Leibe zu halten. Natürlich ging ich darauf nicht ein. Was er vorbrachte, war unwahr. Ich warnte Chronine davor, sich auf ihn zu fixieren. Ihre Schwangerschaft erledigte das Problem. Glücklicherweise. Ich hatte ihn seither nicht mehr gesehen und legte auch keinen Wert darauf, ihm erneut zu begegnen.
Chronines Mutter und ich wechselten an jenem Abend erstmalig ein paar Worte. Sie beherrschte die Szene vollständig, auch wenn sie sich um des besseren Eindrucks willen bemühte, dezent im Hintergrund zu bleiben; eine gewisse Rivalität zwischen ihr und der Tochter blieb unverkennbar.
Woran ich mich besonders erinnerte, war der Blick, mit dem sie mich musterte: der gleiche wache, abschätzige, feindlich neugierige Ausdruck, den ich jetzt an Chronine bemerkte und den ich damals als Abwehr gegen einen vermeintlichen Anspruch auf ihre Tochter gedeutet hatte, als den sie meinen Besuch am achtzehnten Geburtstag missverstehen konnte. Eher, soviel gestand ich mir ein, hätte ich mich für sie interessieren können. Sie passte im Alter sehr wohl zu mir. Schwer verständlich, wieso ihr Mann sich von ihr losgesagt und dieser hohlen Figur von Geliebter zugewendet hatte.
Dezent, dabei wirkungsvoll geschminkt, sah sie blendend aus. Frisur und Kleidung waren betont unauffällig gehalten, aber von erlesenem Geschmack, die Bewegungen sorgfältig kalkuliert, sparsam und vornehm. Kurz, sie verbreitete eine flirrende Atmosphäre von Eros. Ich wusste, sie war gerade mitten in einer Affaire, angeblich mit einem argentinischen Tangolehrer – in Wahrheit kam er aus Bolivien –, von dem sie wenig später schwanger wurde und, da ihr Mann mit der Einstellung der Unterhaltszahlungen drohte, einen in ihrem Alter nicht ungefährlichen Abortus vornehmen liess. Damit war die Affaire zwar ausgestanden; der Eingriff hatte sie jedoch physisch erschöpft und psychisch mitgenommen. Von italienischer Abstammung, daher naturgemäss aus einer katholischen Umgebung kommend, brachte sie der Eingriff zusätzlich zu ihrer Scheidung sowohl mit der Kirche, als auch mit ihrer eigenen inneren Einstellung in Konflikt.
Als ich ihr hernach auf der Strasse begegnete, erkannte ich sie nicht wieder, so stark war sie gealtert. Sie hatte mich bereits passiert, bevor mir aufging, dass sie es gewesen war. Ich schämte mich, sie nicht gegrüsst und nicht wenigstens ein paar aufmerksame, aufmunternde Worte mit ihr geredet, sie vielleicht sogar zu einem Cafébesuch eingeladen zu haben in eine der besseren Confisérien. Zwar hätte ich nichts anderes mit ihr zu bereden gewusst als die überragende Musikalität und Begabung ihrer Tochter und deren aller Voraussicht nach erfolgreiche Zukunft als Musikerin; eine nähere private Unterhaltung hätte höchstwahrscheinlich auch andere interessante Züge an ihr offenbart, vielleicht sogar ein längeres Interesse meinerseits an ihr zur Folge gehabt und möglicherweise auch von ihrer Seite ein von Dankbarkeit gespeistes Entgegenkommen. Doch auch ohne diese Hintergedanken hätte ich einfach dem natürlichen Anstand Raum geben sollen.
Je nun, die Gelegenheit war verpasst. Zwischen uns hatte sich nichts angebahnt. Längere Zeit trug ich deswegen ein schlechtes Gewissen mit mir herum, schämte mich vor mir selbst und machte mir wohlbegründete Vorwürfe, sehr wohl wissend, dass meine Unachtsamkeit in ihren Augen als bewusste Unfreundlichkeit erschienen sein musste, ja erschienen war und ihr zu allem Überfluss ihren angegriffenen Zustand ungebührlich verdeutlicht hatte.
Wenn es meine Zeit irgend erlauben sollte, werde ich dich gern besuchen, antwortete ich freundlich aber kühl auf Chronines drängende Aufforderung.
Sie reichte mir, ihren hoch aufgeschwollenen Bauch vor sich her schiebend, die Hand, umarmte mich plötzlich und hauchte mir in einer Art entwaffnender töchterlicher Verbundenheit einen Kuss auf die Wange.
Danke, ich freue mich schon darauf, wenn du kommst, flüsterte sie an meinem Ohr. Und dann, aus etwas grösserem Abstand und in deutlich kühlerem Ton: Meine Mutter meint auch, es sei endlich einmal an der Zeit für dich, deine Heimat aufzusuchen. Deine eigentliche, die wirkliche Heimat.
Heimat gibt es nicht. Ich mag das Wort nicht. Es ist mir zu sentimental, sagte ich und dachte, dass Heimat bestenfalls dort ist, wo man sich wohl fühlt, seine Aufgaben erfüllt, Beziehungen aufbaut und Freunde hat. Das wollte ich erwidern, aber ich unterdrückte alle derartigen Äusserungen, die sie als belehrende Vorhaltungen empfinden musste. Ich wünschte ihr viel Glück für ihre Niederkunft und die Fahrt, die ich bei mir selbst für unverantwortlichen Leichtsinn hielt. Doch stand mir nicht an, mich in ihre Entscheidungen einzumischen, sie gar beeinflussen zu wollen. Darum gab ich ihr nur ein paar überflüssige wohlgemeinte Ratschläge mit auf den Weg.
Der Musiker, ihr Freund, ein um fünfzehn Jahre älterer, ausreichend bekannter Geiger, der sie nach ihrer und seiner Rückkehr zu heiraten gedachte, wie sie mir beide erklärten, stand linkisch daneben, von einem Fuss auf den anderen tretend, und vermied, mir in die Augen zu sehen.
Auch er war auf dem Sprung, zu verreisen. Er wollte für die gesamte Zeit ihrer Abwesenheit auf eine lange Konzertreise in die USA zu gehen, ein sabbatical, wie er sich ausdrückte und betonte, er könne eine solche Reise auf keinen Fall, schon der Karriere wegen nicht, verschieben. Der Augenblick von Chronines Abwesenheit böte sich ideal dafür an. Es handle sich nicht nur um von ihm zu absolvierende Konzerte, sondern um Kontakte und vor allem um die verschiedensten digitalen Aufnahmen, musikalische Alben, recordings, wie sie heute heissen: Quartette, Trios, Orchesteraufnahmen, viel Solistisches wie Rezitals, kurz etwas, das er nicht, um keinen Preis zurückstecken könne und wolle. Derartige Gelegenheiten böten sich nicht häufig; man dürfe sie keinesfalls ungenutzt vorübergehen lassen. Wie ich mir denken könne, seien sie eher selten. Schliesslich publizierte ich ja, wenn auch keine Literatur, er verzog sein Gesicht, als er es sagte, mich herablassend von der Seite her betrachtend, so doch wissenschaftliche Werke und wisse daher genau um die Probleme, die aufträten, wolle man Geschriebenes bei Zeitschriften oder Verlagen unterbringen, obwohl, er wisse es schon, die Modalitäten zwischen wissenschaftlichen und literarischen Publikation doch sehr verschieden seien. Als Editor von wissenschaftlichen Zeitschriften könne ich das bestätigen. Worauf ich die Schulter zuckte und bemerkte, dass ich es in der Literatur bislang nicht versucht habe, mir aber, wenn er meine, es gebe eine Differenz, sie mir durchaus vorstellen könne. In der Wissenschaft komme es auf Exaktheit und Beweiskraft an, was in der Literatur, der Belletristik, auch den anderen Künsten wohl kaum eine Rolle spiele. Da sei meines Wissens nichts zu beweisen.
Ganz ähnlich wie in der übrigen Kunst, meinte er, verhalte es sich auch mit der musikalischen Karriere. Noch viel rücksichtsloser eigentlich. Denn betrachte man die gedruckte Literatur, so wundere er sich, was da nicht alles an Verdummendem auf den Markt gelange, fantasy undsoweiter, nur weil es bestens verkäuflich sei und die Verlage nichts anderes im Sinne hätten, als ihren Profit; um Leistung, Qualität, hochwertige Kunst ginge es in der spätkapitalistischen Gesellschaft schon lange nicht mehr. Einzig um Darstellung und Gewinn.
Hausfrauenschrieb, meinte er leise pauschal und in abschätzigem Ton, ohne Namensnennung. Mit vorsichtigem Seitenblick auf Chronine und begleitet von einer wegwerfenden Handbewegung, so dass unklar blieb, wen er mit dieser Äusserung im Sinne hatte. Während doch in der Musik, selbst in großen Teilen der Unterhaltungsmusik, der strenge Qualitätsanspruch nicht zu leugnen sei. Der Musiker müsse stets technisch wie interpretatorisch etwas leisten, wolle er gehört und bekannt werden. Seine Leistung sei auch die Leistung des Augenblicks; sie dulde keine Unaufmerksamkeit. Gelänge sie nicht auf den ersten Anhieb, sei sie nicht perfekt, kurz: authentisch, dann lasse sie sich mit keiner noch so aufwendigen Anstrengung mehr korrigieren. Vorbei sei vorbei in der Musik; bliebe allein der Eindruck des Gelingens oder Versagens, letzterer sei unverwischbar, ja unauslöschlich.
Unauslöschlich, behauptete er und wiederholte: Unauslöschlich. Einmal versagt, ist immer versagt.
So die weitschweifige Entschuldigung für seine zu erwartende bevorstehende, dauerhafte Abwesenheit. Obwohl er sich wirklich darauf freue, komme das Kind, von seiten der Vaterschaft gesehen, allerdings doch im unrechten Augenblick. Diesbezüglich ginge das Jahr für die Beziehung zwischen ihm und dem Kinde verloren. Aber er müsse entscheiden und beides, soweit möglich, miteinander in Einklang bringen: Familie und Karriere. Im übrigen, fügte er noch hinzu, seien die Staaten für jeden, der eine Karriere anstrebe, ein absolutes Muss und unvermeidlich. Nur wer dort Karriere mache, habe bei Rückkehr eine Chance in Europa. Das gälte für alles, Wissenschaft wie Kunst, in erster Linie aber für die Kunst. Schauen Sie auf die Namen der Maler, der Musiker. Alle sind dort aufgestiegen.
Chronine ignorierte, was er an Klugem und Entschuldigendem vorbrachte, kommentierte auch nicht seine Anspielung auf die Literatur und ihre Abgrenzung der Musik gegenüber; sie war schon nicht mehr zu Hause, bereits unterwegs, weit weg in Gedanken bei irgendetwas, wovon wir nicht die Spur einer Ahnung hatten.
Ihr Freund und ich reichten einander die Hand, seine erstaunlich feste, ja fast hart zu nennende Hand, gegen die ich andrücken musste und die mir unangenehm in Erinnerung blieb. Musste ein Geiger von Berufs wegen eine solche harte Hand haben?
Dann gingen sie, und ich machte mich wieder an meine beruflichen Beschäftigungen.