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Der Sanierer

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1676 waren die guten Jahre am Tiber lange vorbei. Im Westfälischen Frieden von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, den konfessionellen Ausgleichszustand in Deutschland und eine europäische Friedensordnung festschrieb, wurde der Papst nicht einmal erwähnt. Es war wohl auch besser so. Denn er war nicht einverstanden, im Gegenteil. Doch die römischen Proteste gegen diese dauerhafte Aufwertung der ‘Ketzer’ kümmerten die führenden Mächte nicht mehr. Aus päpstlicher Sicht noch fataler: sie betrieben Religionspolitik jetzt zunehmend in eigener Regie. Dass die Kirche ein Teil des Staates, ja dessen Behörde und daher den Anweisungen des Herrschers unterworfen sein sollte, diese Überzeugung bricht sich vor allem in Frankreich Bahn; dort regiert mit Ludwig XIV. ein König, der eine hohe Auffassung von seinem Rang und seinen Rechten hegt. Für den Papst bleibt in seiner Sicht der Dinge wenig mehr als ein formaler Ehrenvorrang. Aber auch dieser ist in Gefahr, mehr noch: die römische Ehre insgesamt. Seit zwei Jahrzehnten zirkulieren auf dem europäischen Buchmarkt anzügliche Broschüren, die dem interessierten Publikum Blicke hinter kuriale Vorhänge verheißen, Motto: toll treiben es die Nepoten.

Vor allem aber krankt Rom ökonomisch. Im Klartext: der Kirchenstaat ist finanziell ruiniert, seine Wirtschaftskraft stark geschwächt – und die Ursache für diese Misere so simpel wie heutzutage aktuell. Man hatte über seine Verhältnisse gelebt. Sprich auf Pump. Oder um es anklagender auszudrücken: man hatte das Vermögen der nächsten Generation gleich mit ausgegeben. Und noch eine gewisse Parallele zur Gegenwart drängt sich auf: die Hoffnung auf einen Wirtschaftsboom, welcher durch ein steigendes Bruttosozialprodukt und eine diskrete Inflation die angesammelten Schulden tilgen helfen würde, erwies sich als eine Illusion. Spätestens hier ist der Punkt erreicht, um die geneigte Leserin, den geneigten Leser fairerweise zu warnen: wer den Wirtschaftsteil seiner Tageszeitung undurchblättert beiseite legt, sollte zur nächsten Geschichte übergehen. Doch nicht selten findet man auf diesen Seiten die wahren Tragödien. Oder auch Heldentaten oder wie im hier zu erzählenden Fall auch beides zusammen.

Ende 1676 summierte sich das Defizit der öffentlichen Hand in Rom auf fünfzig Millionen scudi. Das zumindest schreiben die venezianischen Botschafter. Als gewiefte Kaufleute müssen sie es wissen. Oder zumindest einigermaßen zutreffend abschätzen können. Der Papst und seine zuständigen Amtsträger selbst haben kaum eine ungefähre Vorstellung, wie tief sie in der Kreide stehen. Sie wollen es auch gar nicht wissen – so wie der Verdammte auf Michelangelos Jüngstem Gericht halten sie sich die Hand vor die Augen, um den Abgrund nicht zu sehen, in den sie stürzen. Oder besser: in dem sie längst unsanft gelandet sind. Dass man keinen Überblick hat, liegt vor allem daran, dass es keine auch nur ansatzweise zentrale Kassenführung gibt. Jede Behörde mit eigenem Budget und eigener Gerichtsbarkeit – und es ist nirgendwo aufgelistet, wie viele das eigentlich sind – wirtschaftet vor sich hin. Und zwar mehr schlecht als recht. Wer römische Kassenbücher zwischen 1640 und 1676 durchsieht, den packt das kalte Grausen. Zahlen werden nicht mehr addiert und wenn doch, oft genug falsch; Saldi werden nicht mehr gezogen, Bilanzen nicht mehr erstellt: eine traumhafte Situation für die Geschäftswelt in Rom, vor allem für die genuesischen Großfirmen, die Getreide einkaufen und Kredite bereitstellen. Niemand schaut ihnen auf die Finger. Rom, der große Selbstbedienungsladen in Sachen Finanzen.

Die Kardinäle, welche im August 1676 das Konklave beziehen, wissen oder ahnen zumindest, wie ernst die Lage ist, auch wenn sie keine sicheren Zahlen kennen. Schon seit mehr als einem Jahrzehnt hat sich das Kollegium der Purpurträger in ganz neuartiger Weise sortiert – und damit zugleich polarisiert. Die alten Gefolgschaften, die sich um Spanien und Frankreich und um die Kardinalnepoten der letzten Päpste scharen, bestehen durchaus fort. Doch die damit gezogenen Grenzen verblassen zunehmend; viel schärfer tritt jetzt eine neuartige Trennlinie hervor. Auch sie mutet uns Heutigen vertraut an. Denn sie verläuft zwischen Reformern und Beharrern. Die Letzteren, überwiegend saturierte alte Männer, besitzen eine seltene Fähigkeit: unbegrenzt verdrängen zu können. Ihre Devise lautet: es wird schon weitergehen, zumindest so lange, wie wir leben. Hatte nicht schon der Erzbösewicht Machiavelli anderthalb Jahrhunderte zuvor in seinem ruchlosen Traktat über den Fürsten geschrieben, dass die Herrschaft des Papstes schlichtweg nicht untergehen kann? Die Fraktion der Reformer – sie macht gerade einmal ein Neuntel der Wahlberechtigten aus – ist davon längst nicht mehr überzeugt. In ihren Augen ist die Welt böser geworden, ja sie schreckt vor nichts mehr zurück, nicht einmal davor, Hand an das Papsttum zu legen. Dabei versteht diese Gruppierung der zelanti, der „Eiferer“, Reform im ursprünglichen Wortsinn: Wiederherstellung der alten, besseren Gestalt. In diesem Fall heißt das: zurück zu den strengen Leitsätzen des Konzils von Trient, die in ihrer Schärfe niemals zur Anwendung gelangt sind. Vor allem aber bedeutet es einen politisch-moralischen Appell, dessen Befolgung in ihren Augen gleichfalls seit mehr als einem Jahrhundert überfällig ist: schaffen wir endlich den ewigen Stein des Anstoßes aus dem Weg – schaffen wir den Nepotismus ab. Seit langem ist kaum ein Jahr vergangen, in dem nicht – auch das eine Ähnlichkeit zum frühen 21. Jahrhundert – der regierende Papst eine hochkarätige Kommission ins Leben gerufen hat, die sich dieser Frage aller Fragen zu widmen hatte. Darf er oder darf er nicht – darf der regierende Pontifex maximus seine Verwandten erhöhen, und falls ja, wie weit, wie glanzvoll, wie kostspielig? Was wie ein müßiges Spiel der Regierenden aussehen mag, ist in Wirklichkeit blutiger, heiliger Ernst: Roms Herz, der Nepotismus, schlägt unruhig. Und nach der Mitte des 17. Jh. erbringt diese angstvolle, qualvolle Gewissensbefragung immer seltener die erhofften beschwichtigenden Antworten (die am Ende doch nicht beruhigen können) und stattdessen immer häufiger ein niederschmetternd negatives Resultat: nein, er darf nicht, schlimmer noch, er stellt sein Seelenheil aufs Spiel, wenn er es tut. Und so stirbt Innozenz’ dritter Vorgänger, Alexander VII., der sich am Beginn seiner Regierung als erster eine Generalsanierung des Systems Rom zu Ziel gesetzt hatte, 1667 im Zustand der völligen Verzweiflung; er hatte einige Monate lang durchgehalten, hatte seine Verwandten von Rom fern gehalten, um dann umso rückhaltloser rückfällig zu werden.

Neun Jahre später wird die Wahl des neuen Papstes auf diese Weise zu einer Abstimmung über Sein oder Nichtsein: Rückwärtserneuerung im Sinne einer rigorosen moralischen Ökonomie – oder Augen zu und vorwärts in den Bankrott. Im Jargon der Fachkommissionen ausgedrückt: wollen wir, brauchen wir einen Papst, dem nichts Menschliches fremd ist, oder einen Pontifex, der ganz dem Jenseits zugewandt ist? Theologisch konnte man beide Varianten begründen. Schließlich war Christus, der Gottessohn, selbst Mensch geworden, hatte sich also aus der einsamen Höhe des Göttlichen herabgelassen zu seinen Geschöpfen, nicht zuletzt, um auch deren Empfindungen zu teilen. Also musste auch Er gewusst haben, dass Blut dicker ist als Wasser; und waren Seine Apostel nicht gleichfalls nach Verwandtschaft handverlesen? Dieser religiösen Rechtfertigung des Nepotismus radikal entgegen waren die ‘Eiferer’ der Ansicht, dass das Amt des Papstes im Wesentlichen nicht von dieser Welt sein durfte, sondern auf Zeitenende und Ewigkeit gerichtet zu sein hatte. Weltliche Herrschaft war eine Last, eine Treuhänderschaft, die man leidend und duldend auf sich nehmen musste: zum Nutzen der anderen – und mit sauberen Händen. Mani pulite 1676.

Und damit enden die Parallelen zur Gegenwart. Denn am 21. September 1676 erheben die Kardinäle den radikalsten aller Reformer zum Papst: Benedetto Odescalchi, fünfundsechzig Jahre alt, seit einunddreißig Jahren Kardinal und dadurch mit den Missständen des alten Systems bestens vertraut. Hinterher konnte niemand behaupten, er habe nicht gewusst, was er tat. Der neue Papst hatte wie nicht wenige Kardinäle der letzten zwei Jahrhunderte einen Lebensstil des symbolischen Widerstands geführt und damit das Gegenbild einer alternativen Kirche gezeichnet. In Zeiten des voll entfalteten, um nicht zu sagen: entfesselten Nepotismus hatte er innerweltliche Askese praktiziert. Ein weißgetünchtes Schlafgemach fast ohne Möbel, nur ein Kruzifix an der Wand, frugalste Mahlzeiten, dauerndes Memento mori – bedenke, dass du sterben musst. Das war sehr barock, passte zum Zeitgeist und hieß noch nicht viel. Schließlich hielt sich auch Alexander VII., welcher der süßen Stimme des Blutes am Ende nachgab, einen aufgeschlagenen Sarg als Wohnzierde.


Gianlorenzo Bernini, Karikatur Innozenz’ XI. Odescalchi

Ein fader Pedant, öder Kleingeist und Verächter des Schönen – so zeigt Berninis grausame Karikatur den durchgreifendsten Reformpapst der Neuzeit. Diesen Hass zog sich Innozenz XI. dadurch zu, dass sein Regierungsprogramm „Spitäler statt Spektakel“ lautete, womit die römische Kunstindustrie in eine Auftragskrise ohnegleichen gestürzt wurde. Im Übrigen ermangelte der rigorose Luxusverbieter und Sitteneinschärfer, der zugleich die Zwangskonversionen der Hugenotten im Frankreich Ludwigs XIV. ab 1685 indirekt missbilligte, nicht des Humors und der Fähigkeit zur Selbstkritik – vielleicht hätte er also bei aller Bitternis der Charakterzeichnung über sein genial verzerrtes Konterfei sogar geschmunzelt.

Innozenz XI. aber war aus anderem, aus härterem Holz geschnitzt. Und bei aller Weltabgewandtheit war er ein Finanzpolitiker großen Stils. Den global players der großen Konzerne sollte schnell Hören und Sehen vergehen. Nicht umsonst stammte dieser Papst aus einer Familie, die über Generationen hinweg im Großhandel reich geworden war; diese ererbten Managerqualitäten werden jetzt gegen die Großfinanz gewendet. ATTAC hätte seine Freude daran.

Um einen Sumpf auszutrocknen, muss man seine Ausdehnung kennen. Und so beginnt jetzt ein seltsames Spiel: wer findet bislang unbekannte Schulden? Hier taucht nochmals eine gewisse Übereinstimmung zum Jahr 2004 auf. Bei kaum einer anderen Tätigkeit sind Finanzpolitiker so erfinderisch wie bei der Einrichtung von Schattenbudgets, Zusatzetats und versteckten Sonderkassen. Für die römischen Finanzkontrolleure bedeutete das konkret: Berge finden. Monti, also Berge nämlich hießen die öffentlichen Schuldaufnahmen, mittels deren Rom in fünf viertel Jahrhunderten seine Nepoten, seine Bauten und seine Kriege finanziert hatte. Ein solcher ‘Berg’ bestand aus einer Pauschalanleihe, meistens in der Größenordnung von einhunderttausend bis einer Million scudi (zum Vergleich: ein Handwerker verdient um die Mitte des 17. Jh. jährlich etwa sechzig bis siebzig scudi), welche in der Regel von einem Bankenkonsortium en bloc übernommen, also vorgestreckt wird. In Zeiten extremer Geldnot – also im Normalfall – zahlt der Kreditgeber jedoch nicht den Nennwert, sondern einen durch ein so genanntes Disagio, einen Abschlag, niedrigeren Wert; Rabatte von bis zu zehn Prozent sind durchaus üblich. Mit anderen Worten: das Papsttum bekommt dann beispielsweise statt einer Million nur 900000 scudi ausbezahlt, hat aber für den vollen Betrag die Zinsen zu zahlen.

Auf der Seite der Banken aber tun sich verlockende Gewinnspannen auf. Denn die meist billig erstandenen Großanleihen ließen sich in vielfältig gestückelter Form lukrativ absetzen. Aufgeteilt in „Bergorte“ von hundert scudi, waren diese römischen Staatsschatzbriefe auch und gerade für den Kleinsparer attraktiv. Und wenn das Familienvermögen nicht reichte, dann tat man sich mit Verwandten, Freunden oder Nachbarn zusammen – und lebte als glücklicher Rentier von deren Erträgen bis ans Lebensende. Noch Giacomo Casanova versorgt seine abgelegten Mätressen zwecks Verheiratung mit solchen Kleinrenten. Die ideale Mitgift waren sie nicht zuletzt aufgrund der päpstlichen Zahlungsmoral. Diese nämlich ist eisern. Im Gegensatz zu König Philipp II. von Spanien, der zweimal den Staatsbankrott ausrufen und danach den Schuldendienst, die Zinszahlungen also, einstellen ließ, waren die Päpste durchgehend darauf angewiesen, ihren Ruf der Kreditwürdigkeit zu wahren – die Nepoten jedes neuen Pontifikats warteten schließlich ungeduldig auf ihre fürstliche Ausstattung. Mochten Könige auf dem Schafott enden und die Türken vor Wien stehen: diese Rente war sicher. Schon damals machten solche Sprüche die kleinen Leute glücklich. Mit dem Unterschied, dass sie stimmten. Zumindest bis Innozenz XI. kam.

Monti wurden seit dem Pontifikat Clemens’VII. (1523–1534) eingerichtet, und zwar in zwei verschiedenen Spielarten. Die so genannten „erlöschenden“ Berge gelten nur zu Lebzeiten des Anteilzeichners, können nicht vererbt werden und stellen daher eine Hochrisikoinvestition dar. Dementsprechend werfen sie eine fabulöse Rendite ab: bis zu 12%. Etwas für Finanzzocker also. Dieser Menschentyp aber wird zunehmend rar in Rom, in Italien, im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Viel beliebter sind daher die „ewigen“ monti, die man getrost per Testament hinterlassen kann. Die einzige Gefahr, dass sie erlöschen könnten, besteht im theoretischen Rückkaufrecht der Kurie. Doch wann hatte man schon erlebt, dass ein Staat Schulden zu tilgen vermochte? Dementsprechend konnten die Konsortien die Anteile meist deutlich über dem Nennwert absetzen, manchmal sogar mit einem Aufschlag von einem Viertel. Daraus ergab sich, wie unschwer zu berechnen, eine hübsche Profitmarge. Bei standesbewussteren Geldanlegern noch höher geschätzt waren die so genannten „Kaufämter“. Noch älter als die monti, hüllten sie die schnöde Kredit-Zins-Operation in die Prunkgewänder einer öffentlichen Tätigkeit. Natürlich waren das des Kaisers neue Kleider. Der Kreditgeber durfte sich mit einem phantasievollen Titel – etwa Ritter des heiligen Petrus – schmücken, ohne damit irgendwelchen beruflichen Verpflichtungen zu unterliegen: alles Schall und Rauch, außer dem ‘Gehalt’, den Zinszahlungen also, versteht sich. Sie waren sehr real und lagen für die Lebenszeit- und Dauerämter in etwa in Höhe des „Bergorte“-Ertrags.

Anno 1676 warfen die „ewigen Berge“ fünf oder sechs Prozent ab. Hochgerechnet auf die gesamte Staatsschuld waren das jährlich mindestens zweieinhalb Millionen scudi Aufwendungen allein für Zinsen. So viel aber brachte der ganze Kirchenstaat samt seiner Hauptstadt nicht ein. Dieses Jahresbudget weist 1674 gerade einmal einen Nennwert von 2,4 Millionen auf. Davon aber mussten sämtliche öffentlichen Ausgaben bestritten werden: die Gehälter der zahlreichen Amtsträger, Kosten für Verteidigung, Subventionen aller Art, nicht zuletzt für Brot, Ausgaben für Botschafter, Straßenbau etc., summa summarum Fixkosten von mehr als zweieinhalb Millionen. Dabei waren die Zinszahlungen in ungefähr derselben Höhe nota bene nicht miteinberechnet. Man hatte ein Gegenfinanzierungsproblem. Gewiss, das Papsttum hatte noch eine andere, verschwiegenere Kasse: die Datarie. Über sie wurden die so genannten Gnadenhandelsoperationen abgewickelt. Deren große Zeit fiel in den Pontifikat Alexanders VI. Anno 1500 konnte man Kardinalate noch meistbietend verkaufen; ein roter Hut brachte je nach Kaufkraft des Interessenten zwanzig- bis dreißigtausend Dukaten (d.h. inflationsbereinigt, auf das Jahr 1676 bezogen, an die hunderttausend scudi) ein. So lukrativ diese Verkäufe waren, ihre Nachteile lagen in der damit verursachten Rufschädigung: in der Zerstörung des religiösen Kapitals, ohne welches langfristig auch kein Geld mehr fließen würde. Und unter einem so skrupulösen, tief religiösen Papst wie Innozenz XI. war selbst an weitaus unanstößigere Geschäftspraktiken dieser Art nicht mehr zu denken. Sogar Heiratsdispense – ein Verkaufsschlager des Renaissancepapsttums – gab man jetzt gratis.

Ein echtes Dilemma also: was konnte man tun? Der neue Papst setzt, wie im Zangengriff, an vier Seiten zugleich an. Und zwar zuerst bei sich. Schon nach wenigen Wochen verdient der päpstliche Hof diesen Namen nicht mehr. Die Ausgaben für Repräsentation aller Art tendieren gegen Null. Innozenz selbst sucht sich im Quirinalspalast – den überhaupt zu beziehen ihm schwere Gewissensnöte verursacht – die schäbigsten Zimmer, ohne Fenster. Die prachtvollen Gartenanlagen auch nur zu betreten, hindert ihn eine heilige Scheu. Zehn Jahre lang trägt er dieselbe Soutane, bis sie in Fetzen fällt. Und die päpstliche Tafel wird bei Feinschmeckern berüchtigt. Das alles ist natürlich vorrangig symbolisch, gewiss auch eine Frage des Images, der angestrebten Wirkung nach außen; der finanzielle Nutzeffekt fällt demgegenüber kaum ins Gewicht.

Dieser hingegen ist bei der Umstrukturierung der Staatsschuld gewaltig. Denn der neue Papst betet nicht nur reichlich, er arbeitet unaufhörlich, mindestens fünfzehn Stunden am Tag. Und bei aller Frömmigkeit studiert er pausenlos Rechnungen und Bilanzen. Hier vollzieht sich eine erste Revolution. Denn eine Brigade gut ausgebildeter Finanzprüfer (wo waren diese Leute eigentlich vorher?) hat, wiederum binnen weniger Monate, zumindest das Gros der verstreuten Schulden ausfindig gemacht, getreu dem Motto, dass man das Schreckliche kennen muss, um es zu bannen. Die dabei entdeckten Hunderte von Anleihen werden jetzt in einen einzigen riesenhaften monte eingebracht. Das klingt nicht eben umstürzend und ist doch eine im Europa der Zeit nahezu einzig dastehende Operation. Ihr Resultat ist eine übersichtliche und zugleich konsolidierte Staatsschuld. Doch das ist nur der erste Schritt. Auf den der zweite sogleich folgt. Alles Protestgeschrei der europäischen Finanzwelt hilft nichts: für sämtliche monti wird die Verzinsung jetzt einheitlich auf drei Prozent zurückgeschraubt. Das war eine kühne und weitblickende Maßnahme. Die Finanzberater des Papstes nämlich schätzen richtig ab, dass die römische Kreditwürdigkeit dennoch erhalten bleiben werde. Waren doch in den letzten zwei Jahrzehnten die Erträge aus Landbesitz und -verpachtung am Beginn einer Abschwungphase der europäischen Ökonomie, die schließlich hundert Jahre dauern sollte, kontinuierlich gesunken, und zwar um bis zu vierzig Prozent. Vor diesem düsteren Hintergrund war eine sichere Rendite von drei Prozent aus den römischen Staatstiteln nicht zu verachten.

Haarscharf am Markt, unter konsequenter Ausnutzung der von diesem gebotenen Chancen, bewegt sich zum anderen die Subventionspolitik des Papstes. Hier kommt ihm Glück zur Hilfe, dem man allerdings auch kräftig nachhilft. Denn nach den schweren Versorgungskrisen der Jahrhundertmitte fallen jetzt die Ernten wieder deutlich besser aus, ganz abgesehen davon, dass nach den Epidemien dieser Krisenzeit weniger Mägen zu füllen sind. Zudem tut die päpstliche Wirtschaftspolitik alles, um ein Überangebot an Getreide am Tiber herbeizuführen – mit überwältigendem Erfolg. Auf diese Weise sinken die Weizenpreise so tief, wie sie seit einem Menschenalter nicht mehr gelegen haben. Auch hier hagelt es natürlich Proteste. Doch der Papst bleibt fest. Ein Shareholder-Value-Pontifex war Innozenz XI. wahrlich nicht. Doch nicht nur die römischen Aristokraten mussten verzichten lernen.

Derart billiges Getreide hätte es erlaubt, Brot zu einem Traumgewicht pro Einheitspreis von einem Hundertstel scudo zu verkaufen. Doch daran dachte der Papst nicht im Traum. Jetzt, so seine Argumentation, war durch eine besondere Gnade Gottes die Gelegenheit geboten, auch diesen Etatposten zu sanieren. Und so verkauft die staatliche Getreidebehörde billig erworbenen Weizen unverändert teuer an die römischen Bäcker, die ein Jahrzehnt hindurch einer rigorosen Zwangsabnahme unterliegen. Und auch hier intensive Marktbeobachtung: die dadurch verursachte Verteuerung wird sehr genau im Auge behalten: ein Brotpreis, der den uralten Forderungen des Volks nach erschwinglicher Basisnahrung entspricht, bleibt dennoch gewährleistet. Das mögliche Schlaraffenland allerdings wird ihnen verschlossen. Würden Politiker unserer Tage eine solche Operation wagen, so würden sie diese wohl sozial ausgewogen nennen – und flugs abgewählt werden.

Rein zweckrational betrachtet aber macht dieses Vorgehen Sinn: in Zeiten des Überflusses den Verbrauchern zumutbare Kosten zu verursachen, um für die nächsten Krisen Reserven anzusammeln. Und das Vorhaben gelingt, über alle Erwartungen hinaus. Die europäischen Finanzexperten reiben sich ungläubig die Augen. 1689 sind am Ende des Pontifikats nämlich stolze fünf Millionen Staatsschulden tatsächlich getilgt. Und es gibt wieder ein ansehnliches Plus im laufenden Budget. Rom hat finanzielle Lebenskraft für ein weiteres langes Jahrhundert gewonnen. Dazu trägt entscheidend bei, dass dieser Papst keine Nepoten hat – als erster und einziger aller länger regierenden Päpste seit mehr als drei Jahrhunderten. Das ist die zweite, die moralische Revolution. Sie erzeugt gewiss auch finanzielles, vor allem aber symbolisches Kapital. Und doch ist sie wie alle Revolutionen riskant. In den endlosen Debatten der vorangehenden Jahrzehnte hatten die Befürworter des Nepotismus eines ihrer stärksten Argumente – über den Mensch gewordenen Christus hinaus – darin gefunden, dass ein Papst, der die planmäßige Verwandtenförderung beseitigt, auf diese Weise seine Vorgänger diskreditiert. Das aber konnte man als einen Akt des Hochmuts auslegen: besser sein zu wollen als so viele vom Heiligen Geist erkorene Amtsinhaber. Innozenz XI. nahm diesen Einwand ernst, so ernst, dass die geplante Bulle, welche den Nepotismus für alle Zeit unterdrücken sollte, vorerst nicht zustande kam und erst 1692 unter seinem zweiten Nachfolger Innozenz XII. mit manchen Kompromissen verkündet wurde. Doch gegenüber der eigenen Familie machte der Odescalchi-Papst keine halben Sachen: kein Geld, kein Amt, kein Rang, kein Einfluss für seine Verwandten. Finanziell konnten sie das ohne weiteres verschmerzen. Und auch wenn die Römer den Neffen des Papstes, Don Livio, sprichwörtlich als stiefonkelhaft vernachlässigt bedauerten – langfristig haben die Odescalchi von dieser rigorosen Haltung mehr profitiert als die meisten Nepoten von den über sie ausgeschütteten Füllhörnern. Zum einen konnten sie sich darauf berufen, einen geradezu heiligen Papst hervorgebracht zu haben; und zum anderen durften sie mit stolzgeschwellter Brust von sich sagen: was wir geworden sind, sind wir trotzdem geworden. Und das war nicht wenig. Aber auch wenn er jede unmittelbare Unterstützung der Seinen ablehnte, in Sachen Heiratspolitik sprach der Papst kein Veto aus. So verschwägerten sich die Odescalchi wie gehabt mit der Crème de la Crème der römischen und italienischen Aristokratie, für die ein solcher Pontifex in der Verwandtschaft schlicht eine Statusaufwertung bedeutete.

Bankiers, kleine Leute, Nepoten – sie alle mussten sparen. Noch härter aber traf es Architekten, Maler und Bildhauer. Anfängliche große Erwartungen – dass dieser Papst etwa die Kolonnaden des Petersplatzes grandios erweitern würde – zerschlugen sich in Windeseile. Seinem Selbstverständnis als Erhalter und Befestiger entsprechend baute dieser Papst keine neuen architektonischen Weltwunder wie seine Vorgänger, sondern bewahrte allenfalls ältere Substanz, wenn sie es wert war, vor allem dann, wenn sie symbolischen Aussagewert besaß. Der Papst schützt die Kirche vor dem Einsturz – diese neue Selbstdarstellung findet ihren konsequenten Ausdruck im Medium der Restaurierung und vielleicht noch radikaler in der Umfunktionierung. Was für Pracht und Prunk errichtet wurde, hat jetzt den nüchtern-heiligen Geboten der Caritas zu dienen. So wird der Lateranpalast, für den es seit seiner Errichtung unter Sixtus V. (1585–1590) nie eine sinnvolle Verwendung außer der gab, Erhabenheit an geschichtsträchtiger Stätte anzuzeigen, kurzerhand zum Hospital umgebaut. Dieser Wandel sollte sich als fundamental erweisen – Rom entdeckt die Ästhetik des Minimalen, die Propaganda der Schlichtheit. Dass Verzicht auf Prunk aussagekräftiger sein kann als aller Glanz der Form: diese Entdeckung prägt das Selbstverständnis des Papsttums bis heute.

Kaum weniger schwer als Bankiers und Luxushändler trifft die Sanierung des maroden Systems die Gewerbe, die der Unterhaltung dienen. Dieser Dienstleistungssektor war in Rom traditionell gut besetzt. Musiker, Schauspieler, Regisseure und selbst Kurtisanen hatten die kurze, rigorose Reformzeit unter Pius V. (1566–1572) ohne allzu schwere Kundschaftsverluste überstanden und speziell unter dem mondänen Pontifikat Urbans VIII. (1623–1644) eine Blütezeit ohnegleichen erlebt. Und hier, im verzweifelten Versuch, das Lebensgefühl einer Epoche nach strengen alten Reinheitsgeboten zu reformieren, stößt der exemplarisch erfolgreiche Pontifikat des konservativen Reformers denn auch an Grenzen. Gewiss, man konnte den Römern ihren heiß geliebten Karneval verbieten, wenngleich nicht ohne das Risiko, brachialen Unmut zu erzeugen. Und natürlich reichte der Arm des Papstes auch weit genug, um die Aufführung von Singspielen aller Art zu untersagen. Selbst die verblüfften Jesuiten mussten damit rechnen, dass ihre moralisch erbaulichen Schuldramen auf einmal der schnöden Zerstreuung verdächtig wurden. Alle Lustbarkeiten aber lassen sich die Römer nicht verbieten. Diejenigen, die ihnen dabei zu Diensten sind, müssen jedoch mancherlei Restriktionen und Schikanen in Kauf nehmen.

So bietet der Pontifikat des späten Reformpapstes reichlich Stoff zu historischer Spekulation. Wären alle oder auch nur die meisten Päpste seit der Mitte des 16. Jh. wie er gewesen: die Geschichte Roms und der Kirche wäre anders verlaufen. Zeigt die Herrschaft Innozenz’ XI. doch ein für alle Mal auf, welche Belastung der Nepotismus für das Papsttum bedeutete – und wie abwegig alle Thesen von einer sinnvollen Herrschaftsfunktion der Nepoten, zu welchem Zeitpunkt auch immer, sind. Dass man Rom, den Kirchenstaat und die katholische Kirche insgesamt im Gegenteil ohne Papstverwandte weitaus effizienter und für die öffentliche Meinung akzeptabler zu regieren vermochte, dass man auf das dazu nötige Reservoir loyaler und kompetenter Amtsträger jederzeit zurückgreifen konnte, ohne die Bande des Blutes zu bemühen – auch dafür steht der Modellpontifikat von 1676 bis 1689. Auf der anderen Seite wäre ein Rom ohne Nepoten eine ziemlich glanzlose Stadt – streicht man alle ihre Bauten, Statuen und Bilder heraus, dann sieht der römische Stadtplan pockennarbig aus.

Das Rad des Zeitgeistes aber ließ sich durch alle konservativen Reformanstrengungen nicht mehr zurückdrehen. Und am Ende auch der Nepotismus nicht. Im 18. Jh. ist er, in dezent standardisierter, doch weiterhin intensiver Ausprägung wieder da. Und am Ende reicht auch die finanzielle Sanierung Roms und des Kirchenstaats nur bis 1798. In diesem Jahr kommen die französischen Revolutionstruppen und rufen die Republik aus: auch eine Sanierung.

Kardinäle, Künstler, Kurtisanen

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