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VOLKER REINHARDT

Schattenbeschwörung und Traumhilfe

Wer heute einen Romspaziergang unternimmt, wandelt über eine verwaiste Bühne. Die grandiosen Requisiten stehen noch: himmelumspannende Kuppeln, hoch ragende Paläste, zerfallende Kirchen in Tempelruinen, Brunnen mit Schildkröten, schmalbrüstige Mietshäuser mit hohläugigen Antikenköpfen im Gemäuer. Die Menschen, die in ihnen lebten, aber sind lange tot. Ihre Knochen bleichen unter den steinernen Fußböden der Kirchen, durcheinander gewürfelt und übereinander geschichtet die kleinen Leute, in der modrigen Abgeschiedenheit ihrer marmornen und bronzenen Grüfte die großen Herren, oben und unten im Tod mehr noch als im Leben getrennt. Die Verkaufsschreie der Fischhändler bei S. Angelo in Pescaria, die Mitleid erregenden Seufzer der Bettler in der Via Belsiana, das gedämpfte Gemurmel der beratenden Kardinäle im Consulta-Palast, die Zurufe der Maurer auf dem Schwindel erregenden Gerüst von St. Peter, die Gebete der Straßenräuber auf dem Schafott, die mahnend erhobene Stimme der Bußprediger in Aracoeli – sie alle sind verklungen. Das Rumpeln der Räder goldgeschmückter Karossen, das Rauschen des Korns durch seine metallenen Messgefäße, das Pfeifen der Pestärzte in der Not der Epidemie, das Trippeln tanzender Füße auf marmornen Fußböden – verhallt. Selbst das Rauschen des Tibers in Zeiten des Frühlingsregens ist durch die abschirmenden Steinböschungen fast unhörbar geworden. Seidenschuhe, Getreidezylinder, Kutschen, Pestinstrumente: das alles gibt es noch. Im Museum. Und der Fluss ist nur noch ein Paradies der Ratten.

Die toten Römer, die toten Gegenstände, den toten Fluss belebt allein die Phantasie. Mit ihr hat es in historischen Städten ein zweifelhaftes Bewenden. Wer sich aus seiner eigenen Zeit hinausträumen will in ferne und fremde Räume, landet im Retortenland der Jedi-Ritter. Dort scheint alles anders und ist doch wie gehabt: wir selbst, etwas auffallend gewandet, mit intergalaktischen Waffen, zusammengesperrt mit lebenden Robotern und Mischwesen, die aus Menschen und Maschinen gepaart sind, dazu ein paar Sternenkämpfer aus dem mittelalterlichen Disneyland. Raum und Zeit sind in Sciencefictionfilmen überwindbar. Und gerade deshalb landet man, ob man die Zeitachse nun vorwärts oder rückwärts beschreitet, unweigerlich wie ein Wanderer im nächtlichen Schneesturm am immer gleichen Punkt: in der Ödnis einer Gegenwart mit Laserkanonenoutfit, aus der man sich doch gerade heraus bewegen möchte: in einer unfreiwilligen Parodie des Selbst. Wer nur seine eigene Zeit kennt, entkommt ihr nicht. Erst recht nicht in der Einbildung, am allerwenigsten in den Träumen.

Die in diesem Band vereinten neunzehn Geschichten wollen dem abhelfen, wollen Imaginationshilfe, Traumfluchtunterstützung leisten, und zwar durch äußerste historische Präzision. Treffpunkt ist eine Welt, die von uns weiter entfernt ist als die Milchstraße und zugleich ganz nahe scheint, rätselhaft vermischt aus Vertrautheit und Fremdheit. Akteure sind Menschen, die vor vierhundert Jahren in Rom lebten, Menschen wie wir – und doch zugleich ungreifbar, unfassbar anders. Es sind Menschen, die – mit einigen gefährdeten Ausnahmen – daran glauben, dass sich die Sonne um die Erde dreht, dass der Teufel unter ihnen umgeht, dass der Papst die Schlüssel zu Himmel und Hölle besitzt. Aber es sind auch Menschen, die an den großen Coup, an den kolossalen Glückstreffer, und zwar schon morgen, glauben: dann, wenn ein neuer Papst gewählt wird, auf den sie gewettet haben, der aus derselben Stadt wie ihre Vorfahren stammt und ihnen endlich Reichtum und Reputation verschaffen wird.

Diese Geschichten handeln von menschlichen Komödien und Tragödien, vom Leben in Buntheit, Prallheit, Üppigkeit, aber auch, für drei Viertel der Römer, von der ewigen Angst, ob die Brote morgen noch satt machen, ob der Tiber nicht über die Ufer tritt oder Mörder mit allerhöchster Lizenz nicht die Tür aufbrechen. Sie erzählen von Furcht und Hoffnung, rasender Leidenschaft, tödlichem Hass, zu früher Freude und von Verbrechen aus verlorener Ehre. Kardinäle, Künstler, Kurtisanen, Käsekrämer, Kerzenzieherinnen, Kutscher und Kammerdiener, sie alle leben in den engen Gassen einer Stadt, die 1527, am Vorabend ihrer furchtbarsten Katastrophe, 55000 Einwohner zählt und anderthalb Jahrhunderte später gut doppelt so viele. Nach heutigen Kriterien eine kleine Stadt, und auch damals sahen Metropolen anders aus: Venedig, Mailand und Neapel mit mindestens doppelt so vielen Einwohnern dürfen sich mit Fug und Recht als solche betrachten. Doch was für eine Stadt: Genies, Glücksritter, Geschäftemacher, Günstlinge, Gecken, Gläubige, alles, was Europa zu bieten hat, das Beste und das Schlimmste, strömt in sie hinein, fängt sich in ihren Netzen, richtet sich ein im Schatten ihrer Kuppeln und strebt nach der Gnadensonne der Mächtigen. Von all diesen Lebenskünstlern, Lebenshungrigen, Lebensmüden und Lebenslänglichen handeln diese Geschichten. Erfinden müssen sie nichts; das Leben übertrifft die Phantasie. So sind alle diese Schicksals-Anekdoten in Quellen belegt, jede Einzelheit, jeder Name, jede Handlung, jeder Weg, jeder Gegenstand, die in ihnen vorkommen, sind in den Dokumenten der Zeit verzeichnet. Und so mögen diese Erzählungen von komischen, traurigen, skurrilen und erhabenen Geschicken die steinerne Stadt wieder mit Fleisch und Blut bevölkern, und sei es nur im wahren Traum.

Kardinäle, Künstler, Kurtisanen

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