Читать книгу Aulaskimo - Arne Ulbricht - Страница 3
Störung im Betriebsablauf
Оглавление„Komm, lass die beiden mal alleine fahren.“
„Dürfen wir wirklich?“
„Au ja!“
„Sag mal … meinst du nicht, dass sie dafür noch zu jung sind?“
„Sind wir gar nicht!“
„Nein, sind wir nicht!“
„Ach was, die schaffen das schon. Außerdem sollen sie ja auch gleich bei der nächsten Station aussteigen und auf uns warten.“
„Das machen wir!“
„Genau!“
„Wie kommst du bloß auf so eine bescheuerte Idee?“
„Dazu stand neulich mal was in der Zeitung. So ein Artikel über Großstadtkinder, die ab einem gewissen Alter lernen müssen, sich allein im Verkehr zurechtzufinden. So wie Kinder auf dem Land lernen müssen, sich im Wald…“
„Schön, Linus ist sieben.“
„Ich werde in … fünf Monaten acht!“
„Aber du bist sieben, und Meret ist…“
„Vier bin ich!“
„Genau … und deshalb können die beiden doch nicht einfach mal so, weil du was gelesen hast, allein in die S-Bahn steigen.“
„Also ich bin in dem Alter auch schon allein Bus gefahren.“
„Mit … vier?“
„Nein, mit sieben.“
„So so. Du bist allerdings in Husum aufgewachsen. In ganz Husum ist nicht so viel los wie an der nächsten Station. Und an einem Samstag ist am Bahnhof Zoo nicht nur viel los, da ist die Hölle los.“
„Aber es ist ja nicht so, dass die Kinder noch nie am Bahnhof Zoo gewesen wären.“
In diesem Augenblick fuhr die S7 in Richtung Potsdam ein.
„Und … dürfen wir jetzt?“, fragte Linus, als sich die Türen der S7 öffneten.
„Nein“, sagte Xenia.
„Doch, springt ruhig rein. Wartet am Bahnhof Zoo genau dort, wo ihr aussteigt, wir nehmen die nächste S-Bahn“, sagte Klaas.
Linus schaute seine Mutter an, die die Achseln zuckte. Dann nahm er Meret an die Hand und wollte einsteigen.
„Meret … bleib du lieber hier“, sagte Xenia.
„Ach nö“, sagte Meret und sprang ihrem Bruder hinterher.
Als die Türen sich bereits schlossen, sahen Klaas und Xenia, wie sich ihre Kinder auf einen Vierer zu einem Mann setzten, den Klaas auf mindestens siebzig schätzte und der einen auffälligen, rosafarbenen Schal trug. Anstatt aus dem Fenster zu schauen und seinen Eltern zuzuwinken, fing Linus sofort zu erzählen an. Der Mann lachte, kramte in seiner Manteltasche und hielt plötzlich eine Tüte mit Gummibärchen in der Hand. Dann fuhr die S-Bahn los.
„Du, hast du das gesehen … der alte Mann hat … er hat…“
„Ja ja, habe ich gesehen, aber…“
„Aber was? Kannst du mir mal erzählen, was so einer mit Gummibärchen will? Der hat sie bestimmt nur dabei, weil er darauf wartet, dass irgendwelche Eltern so bekloppt sind wie wir.“
„Ach komm schon.“
„Und hast du den Schal gesehen?“
„Ja, habe ich.“
„Der Schal war rosa!“
„Ja ... ich weiß…“
„Ein Mann, der so einen Schal trägt, und das an einem solchen Tag, der muss ja wohl ein bisschen gestört sein.“
Klaas sagte nichts dazu. Dass es sich um einen Pädophilen auf Beutefang handelte, schloss er aus. Es wimmelte geradezu von Menschen, die ihn beobachten und später auch identifizieren könnten. Xenia schüttelte den Kopf. Ob aus Wut oder Verzweiflung, wusste Klaas nicht.
„Hoffentlich kommt die nächste S-Bahn bald“, sagte sie.
Sie hoffte allerdings vergeblich, denn in diesem Moment sagte eine weibliche, monotone Stimme: „Sehr geehrte Fahrgäste, in Richtung Spandau und Potsdam kommt es wegen einer Störung zu einer Verzögerung im Betriebsablauf. Wir bitten um Ihr Verständnis.“
Xenia sagte irgendwas, was wie „mein Gott“ klang, und Klaas guckte reflexartig in Richtung Anzeige. Dort lief ein Band, auf dem das stand, was die weibliche Stimme gesagt hatte und nun wiederholte: Dass es wegen einer Störung zu einer Verzögerung im Betriebsablauf komme. Dieses Mal präzisierte sie: Die nachfolgenden Züge verspäteten sich um zehn Minuten. Zehn Minuten klangen nach nichts. Aber an einer S-Bahnhaltestelle, wo alle drei bis vier Minuten eine S-Bahn einfuhr, bedeuteten zehn Minuten eine Ewigkeit. Vor allem dann, wenn man seine Kinder allein vorausgeschickt hatte.
„Lass uns ein Taxi nehmen“, sagte Klaas.
„Das bringt doch nichts. Das Taxi muss doch um den Tiergarten herumfahren, während die S-Bahn einfach rüberfährt. Und außerdem müssten wir es erst bestellen“, sagte Xenia.
Klaas schaute auf die Uhr. Es war bereits viertel vor eins. Klassische Mittagessen-Zeit. Auf die Currywurst, die sie immer aßen, wenn sie einen Ausflug in den Zoo machten, würden sie wohl noch warten müssen. Ob er einfach loslaufen sollte? Er bräuchte zehn Minuten bis zum Bahnhof Zoo. Aber wie viele Minuten waren schon vergangen seit der Durchsage? Zwei? Oder doch schon fünf?
„Hast recht. Versuch dir doch einfach keine Sorgen zu machen. Linus weiß sich immer zu helfen“, sagte Klaas.
Xenia nickte, nahm seine Hand und drückte sie derart fest, als ließen sich die Kinder dadurch herbeizaubern. Hand in Hand warteten sie. Klaas traute sich nicht, auf die Anzeige zu gucken, weil er befürchtete, dass aus den angekündigten zehn Minuten eine halbe Stunde geworden war. Stattdessen schaute er in einer Tour auf seine Uhr und hatte den Eindruck, der Sekundenzeiger würde sich bei seinen Runden besonders viel Zeit lassen. Dieser Eindruck verschärfte sich, als sich die Lausprecherstimme dafür entschuldigte, dass aus den zehn Minuten fünfzehn werden würden.
Als die S-Bahn endlich kam, stiegen Klaas und Xenia genau an der Stelle ein, an der auch Linus und Meret eingestiegen waren. Sie setzten sich nicht hin, sondern blieben im Türbereich stehen. Während Xenia auf den Boden starrte, schaute Klaas auf einen Vierer, auf dem vier Hertha-Fans mit Bierflaschen in der Hand saßen. Stimmt, dachte Klaas, Hertha hat ein Heimspiel. Er fragte sich, ob er die Kinder allein hätte S-Bahn fahren lassen, hätte er daran gedacht. Nein, wohl nicht. Zwar schlugen auch die aggressivsten Fußballfans nicht auf einen siebenjährigen Jungen und dessen vierjährige Schwester ein, aber das Gedränge in den einzelnen Bahnhöfen war ungleich höher an einem Heimspieltag.
Kaum war die S-Bahn im Bahnhof Zoo zum Stehen gekommen, schoben sich Klaas und Xenia durch die sich hineindrängelnden Hertha-Fans raus, und wenige Sekunden später schaute Xenia Klaas mit versteinerter, ängstlich wirkender Miene an: Die Kinder waren nicht auf dem Bahnsteig. Jedenfalls nicht an der Stelle, an der sie sie erwartet hätten. Während Xenia die Stellung hielt, lief Klaas den sich wieder mit Fans füllenden Bahnsteig auf und ab und rief im Zweisekundenrhythmus abwechselnd nach den Kindern. Sie hätten … einer von ihnen hätte vorfahren müssen, um die Kinder in Empfang zu nehmen. Warum hatte er nicht wenigstens daran gedacht?
Dann stand Klaas wieder neben Xenia. Sie war längst weiß im Gesicht geworden und starrte mit unbeweglicher Miene auf die leeren Gleise. Wenn Klaas nicht gewusst hätte, was sie bedrückt, hätte er sie für eine Selbstmordkandidatin gehalten. Er nahm ihren Kopf, schaute sie an und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen.
„Die Kinder … sie … sie sind nicht hier“, sagte er.
***
Bis dahin war es ein eher unspektakulärer Samstagvormittag gewesen. Unmittelbar nach dem Frühstück hatte Klaas noch kurz im Büchereck vorbeigeschaut, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Aber Ceyhan, die für die Gastronomie zuständig war und wie fünfundzwanzig aussah, obwohl sie schon vierzig war, und sein mittlerweile fünfunddreißigjähriger Buchhändler Hannes, der als Abiturient durchgegangen wäre, hatten wie immer alles unter Kontrolle und ihn mit den Worten „Jetzt geh‘ endlich mit Xenia und den Kindern in den Zoo“ weggeschickt. Dann hatte allerdings eine Stammkundin den Laden betreten, und Klaas hatte gar nicht anders gekonnt, als sie erstens persönlich zu beraten und zweitens über das April-Wetter zu rätseln. (Tagsüber war es warm, nachts frostig, und für den Nachmittag war ein heftiges Gewitter angekündigt.)
„Wir hätten nie direkt über den Laden ziehen sollen“, sagte Xenia, als er wieder die Wohnung betrat.
„Ist doch super, wir müssen nur die Treppe runtergehen und...“
„Genau das ist das Problem. Du bist montags bis freitags von acht bis acht im Laden, weil du meinst, dich auch ums Café kümmern zu müssen, obwohl Ceyhan das besser kann.“
„Ja, aber…“
„Nichts aber. Die Abmachung war, dass du zumindest an einem Tag in der Woche nicht im Laden bist.“
„Ich habe doch nur vorbeigeschaut.“
„Genau. Und die Nachmittagsschicht hast du zur Familienschicht erklärt.“
„Ja, denn samstags ist am meisten los. Und deshalb ist es fair, dass wir eine Schicht übernehmen. Dass wir mit den Kindern ausgerechnet samstags in den Zoo gehen, das hast übrigens du durchgesetzt, weil…“
„…da die Geschäfte aufhaben und...“
„…vor allem Linus auch gern mit seinem Papa in den Legoladen geht, ich weiß. Hast du schon hundertmal erklärt.“
„Leider hast du es hundertmal nicht begriffen.“
„Ach, komm schon.“
Klaas winkte ab und sagte nichts mehr. Wie oft hatten sie diese Diskussion schon geführt? Vielleicht nicht hundertmal, aber zwanzigmal bestimmt.
„Was soll’s, bringt ja eh nichts“, sagte Xenia mehr zu sich selbst als zu Klaas.
Sie ging ins Spielzimmer und erzählte den Kindern, dass sie wieder in den Zoo gehen wollten. Daraufhin stürzten sie jauchzend in ihr Schlafzimmer, in dem nur ein Hochbett und ein Kleiderschrank standen, und zogen sich an. Linus entschied sich für einen dünnen dunkelblauen Pullover und eine Jeans, Meret suchte sich einen roten Pullover mit silberner Glitzerprinzessin und eine lila Leggins mit rosa Blumen aus. Anschließend rannten sie ins Spielzimmer, in dem eine angefangene Legoritterburg darauf wartete, weitergebaut zu werden, und Plastikgeschirr und Ausmal- und Stickerhefte auf dem Boden verteilt waren. Hier suchten sie Sachen für den Ausflug zusammen, wobei Xenia ihnen half, während Klaas das Chaos Zeitung lesend aus den Augenwinkeln beobachtete. Wie jeden Samstag wunderte er sich darüber, dass sich die Kinder verhielten, als gingen sie zum ersten Mal in den Zoo. Als sie zum Aufbruch bereit im Flur standen, zeigte Meret ihrem großen Bruder, was sie alles in den Rucksack gepackt hatte:
ein Dutzend Pixibücher (davon acht Conni-Geschichten, die sie liebte)
ihre mit Wasser gefüllte Pipi Langstrumpf-Trinkflasche
eine kleine Puppe im Schlafanzug mit Schnuller im Mund, die Meret immer nur „mein Baby“ nannte
einen Apfel (den Xenia ihr gegen ihren Willen in die Hand gedrückt hatte)
Linus zeigte ihr daraufhin, was er eingepackt hatte:
den Feuerkelch (Die ersten drei Harry-Potter-Bände hatte Xenia ihm vorgelesen, den vierten Band las Linus inzwischen allein, obwohl er nach Xenias und Klaas‘ Ansicht dafür viel zu jung war.)
eine mit Wasser gefüllte Peter Pan-Flasche
einen Apfel (den er freiwillig eingesteckt hatte)
einen Noteuro
eine kleine Stablampe, die sich auf den Boden stellen und wie eine Nachttischlampe benutzen ließ
Die Taschenlampe nahm er überallhin mit. Er fragte, ob er nicht auch ein Taschenmesser und Streichhölzer einstecken dürfe, und natürlich begründete er seine Bitte mit einer Fülle von Argumenten, von denen das Argument, dass er sich im Zoo verlaufen könnte und gezwungen wäre, dort zu übernachten, sich ein Feuer zu machen und sich gegen freilaufende Tiere zu verteidigen, das originellste war. Es nützte aber nichts.
„Wollen wir nicht lieber alles in einen großen Rucksack stecken?“, fragte Klaas.
„Ich trag meine Sachen allein“, sagte Linus. „Ich bin ja kein Baby mehr.“
„Und ich bin auch kein Baby mehr“, sagte Meret.
„Denkt an eure Jacken!“, sagte Xenia, woraufhin Linus und Meret ihre Regenjacken in ihre Rucksäcke stopften.
Dann verschwanden sie im Treppenhaus und man hörte sie die Treppen herunterrennen, als hätten sie Angst, dass es sich ihre Eltern noch anders überlegen könnten. Klaas, der davon ausging, irgendwann beide Rucksäcke tragen zu müssen, nahm nichts mit.
„Na komm“, sagte Xenia, die ihre Handtasche umhängte und ihm einen Kuss auf die Wange gab.
„Ich will einmal schaukeln“, sagte Meret, als sie auf halbem Weg an einem Spielplatz vorbeikamen.
Während Linus und Meret schaukelten, schaute Klaas Xenia an, die sich zu Klaas‘ Erstaunen nicht neben die Schaukel stellte, um auf Meret aufzupassen. (Was sie eigentlich immer tat, obwohl Meret noch nie von der Schaukel gefallen war.) Während er in seiner Bluejeans, seinem schwarzen Kapuzenpulli, seinen ausgetretenen Sambaturnschuhen und seinen zotteligen Haaren aussah wie ein Mann, um den sich die Frauen nicht mehr unbedingt rissen, so gehörte Xenia in ihrer eng anliegenden schwarzen Jeans, ihrem dünnen lila Pullover, der ihre weibliche Figur zur Geltung brachte, ohne dass es aufdringlich wirkte, den schwarzen Sommerschuhen und den auf die Schulter herabfallenden, schwarz glänzenden Haaren zu den Frauen, denen vermutlich selbst Studenten hinterherguckten und Männer ab dreißig sowieso.
Schließlich gingen sie, ohne dass sie darüber gesprochen hätten und ohne konkreten Anlass, weiter zur S-Bahn-Station Tiergarten, obwohl sie meistens zu Fuß zum Zoo gingen. Wie der Tag verlaufen könnte, wusste Klaas in jenem Moment nicht. Aber die Möglichkeit, dass er zum Albtraum werden würde, hätte er gewiss ausgeschlossen.