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Erste Sturmböen

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„Oh mein Gott“, flüsterte Xenia, kaum hatten sie das Bahnhofsgebäude verlassen.

Sie zeigte schräg nach oben. Nun sah auch Klaas, wie der kräftiger werdende Wind eine schwarze Wolkenwand in ihre Richtung schob. Die Wolkenwand war wie eine unmissverständliche Botschaft: Sie mussten die Kinder finden, bevor das Unwetter die Suche behindern, wenn nicht gar unmöglich machen würde.

„Komm … ein Grund mehr, die Polizei einzuschalten. Lass uns einen Polizisten suchen“, sagte Klaas und nahm Xenia an die Hand.

Die Suche nach Polizisten war nicht besonders kompliziert. Während auf den Bahnsteigen vor allem Sicherheitspersonal gewesen war, so stolperte man vor dem Gebäude geradezu über reguläre Polizisten. Klaas sprach eine von einem älteren Polizisten begleitete auffallend junge Polizistin an, die so klein war, dass Klaas sich fragte, ob es bei der Polizei überhaupt noch so etwas wie eine Mindestgröße gebe. Mit ihren Sommersprossen und ihrem roten, zum Zopf zusammengebundenen Haar wirkte sie, als wäre Pipi Langstrumpf erwachsen geworden. Der Polizist wiederum hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Horst Tappert als Derrick in den späten Folgen und strahlte auch nicht mehr Energie aus. Klaas schilderte diesem eigenartigen Duo, was seit dem Moment, als Linus und Meret allein in die S-Bahn gestiegen waren, geschehen war. Xenia stand wie eine stumme Zeugin neben ihm. Als Klaas sagte, wen der Obdachlose gesehen hatte, zog Xenia ihre Hand jedoch weg, als hätte sie einen Schlag bekommen. Augenblicklich bereute Klaas, ihr nicht gleich von der Beobachtung des Obdachlosen erzählt zu haben.

„Entschuldige … ich wollte dich nicht noch mehr beunruhigen…“, sagte er.

Xenia schaute ihn an. Dann streichelte sie ihm einmal über die Wange, nahm seine Hand und beschrieb den Mann mit dem rosa Schal so exakt, als hätte sie vor Kurzem ein Portrait von ihm angefertigt.

„Wir glauben … wir befürchten…“

Weiter kam sie nicht.

„Machen Sie sich bitte erst einmal keine Sorgen. Solche Fälle enden fast immer damit, dass wir die Kinder gesund und munter wiederfinden. Meistens haben sie sich einfach verlaufen. Manchmal werden sie durch irgendetwas abgelenkt und vergessen die Zeit. Gerade neulich haben wir ein als vermisst gemeldetes Kind auf dem Breitscheidplatz gefunden. Dort stand es und hatte offensichtlich stundenlang Straßenkünstlern zugeguckt“, sagte die Polizistin.

„Was meinen Sie mit fast?“, fragte Xenia.

„Es kann halt immer was passieren. Aber vor allem bei Kindern sind wir auch oft in der Lage, Schlimmeres zu verhindern. Und deshalb leiten wir jetzt sofort die Fahndung ein.“

Xenia nickte wie in Zeitlupe.

„Wir bräuchten zunächst ein Foto Ihrer Kinder und Ihre Personalien“, sagte der Polizist.

Noch auf der Straße reichten sie dem Polizisten ihre Personalausweise und diktierten ihm ihre Handynummern, die der Polizist notierte und die Polizistin direkt in ihr eigenes Handy speicherte. Anschließend gab Xenia dem Polizisten das aktuellste der drei Fotos aus ihrem Portemonnaie und schickte eine ganze Auswahl an Handyfotos der Polizistin. Im selben Augenblick rollte ein Streifenwagen auf sie zu und hielt neben ihnen. Sie sollten auf der Rückbank Platz nehmen. Der Fahrer sagte, er heiße Herr Gülhan, warf einen Blick auf die Fotos, sagte, dass die Kinder süß seien und fügte hinzu, er selbst habe auch zwei Kinder. Und sie sollten sich keine Sorgen machen, der große Bruder passe bestimmt auf seine kleine Schwester auf. Der Polizist auf dem Beifahrersitz hieß Lange, war ein wenig älter als Herr Gülhan und trug einen derart vollen Vollbart, dass man ihn problemlos undercover in der Islamistenszene hätte ermitteln lassen können. Er erkundigte sich, nachdem er ebenfalls einen Blick auf die Fotos geworfen hatte, nach ihren Berufen.

„Ich bin Buchhändler“, sagte Klaas.

„Oh, ich lese gern. Vor allem die Krimis von Volker Kutscher“, sagte Herr Lange.

Xenia sagte nichts und Herr Lange fragte nicht weiter nach. Als Herr Gülhan erneut um die Beschreibung des Mannes mit dem rosa Schal bat, beschrieb Xenia ihn so detailliert wie zuvor.

„Na, wenn er hier herumläuft, werden wir ihn schon finden“, sagte er und gab die Beschreibung an alle Funkstreifen weiter.

„Und dass der Mann einen rosa Schal trägt, hat nichts zu bedeuten. In Berlin gibt es schon lange nichts mehr, was es nicht gibt.“

Xenia, die aus dem Fenster starrte, als hoffte sie, Linus und Meret könnten einfach auf dem Busbahnhof herumlaufen, schien ihn nicht gehört zu haben. Klaas schaute auf seine Uhr. Es war halb drei. Die Kinder waren schon seit über zwei Stunden weg. Einfach weg! Im schlimmsten Fall zwei Stunden in der Hand eines Verrückten. Die Polizistin, die ihre gesamte Energie zu bündeln schien, um ihren Beitrag zur Lösung leisten zu können, kam noch einmal zum Streifenwagen.

„Mein Kollege macht sich auf den Weg zur Dienststelle und leitet von dort die Fahndung ein“, sagte sie.

„Was ist eigentlich mit den Überwachungskameras?“, fragte Klaas.

„Ach, wissen Sie, an einem solchen Tag ist es fraglich, ob man die Kinder überhaupt darauf sieht, und dann haben die Fans wohl auch irgendeinen Unsinn gemacht und eine Fahne über eine der Kameras gehängt. Außerdem bräuchten wir Sie für die Auswertung, aber viel dringender brauchen wir Sie eigentlich im Auto. Später vielleicht.“

So viele Argumente, und jedes einzelne verstärkte das taube Gefühl der Machtlosigkeit.

„Okay, ich gehe gleich zum Zoo, zur Not auch ohne begleitenden Kollegen“, sagte sie.

„Da war ich schon. Die Kinder sind dort nicht gesehen worden und die Familienkarte hat meine Frau“, sagte Klaas.

„Sie können später hingegangen sein, um dort zu warten. Vielleicht hat sie auch eine Familie einfach schon mal mit reingenommen, es ist zumindest eine Chance. Und der Zoo war doch das gemeinsame Ziel, oder?“

Xenia nickte. Obwohl sie vollkommen abwesend gewirkt hatte, hatte sie offensichtlich zugehört.

„Ich schreibe einmal kurz in die Elterngruppe, vielleicht meldet sich ja jemand“, sagte sie.

Klaas versuchte sie aufmunternd anzulächeln. Ob es ihm gelang, wusste er nicht. Und eigentlich war es auch egal, denn sie hatte nicht in seine Richtung geschaut. Und das war auch gut so. Denn wahrscheinlich hätte sie gesehen, dass er sich zum Lächeln hatte zwingen müssen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hielt er es für ausgeschlossen, dass befreundete Eltern zu Linus und Meret gesagt hatten: „Hey ihr beiden, kommt doch schon mal mit uns mit!“ Es gab vermutlich auf dem gesamten Planeten niemanden, der sich in einem solchen Fall nicht sofort gemeldet hätte. Und Xenia hatte ihr Handy immer auf laut gestellt, weil sie unbedingt durchgehend für Merets Kita und Linus‘ Grundschule erreichbar sein wollte. Für den Fall der Fälle. Der nun eingetreten war. Allerdings weder in der Kita noch in der Schule.

„Ja, machen Sie das unbedingt. Wir…“, sagte die Polizistin und sprach den Satz nicht zu Ende.

Stattdessen fasste sie sich reflexartig an den Kopf. Doch es war zu spät. Eine Sturmböe hatte ihre Mütze heruntergerissen und sie wie eine Papiertüte einige Meter durch die Luft gewirbelt. Eine Meute Fans lachte grölend über die Polizistin, die wie eine Fliegenfängerin Jagd nach ihrer Mütze machte. Als sie sie endlich erwischt hatte, applaudierten sie ihr.

Nachdem die anwesenden Polizisten die Fans zurechtgewiesen hatten, fuhr der Polizeiwagen endlich los. Gleichzeitig schob sich die schwarze Wolkenwand über die Sonne und verdunkelte die Stadt, als würde es bereits dämmern.

„Schauen Sie aus dem Fenster“, sagte Herr Lange.

Xenias Handy piepte. Anstatt aus dem Fenster zu schauen, warf sie einen Blick aufs Display, schüttelte den Kopf und murmelte:

„Bei uns sind sie nicht, wird schon alles gut werden, schreibt Maria.“

Wieder piepte es.

„Bei uns auch nicht. Kopf hoch.“

Und wieder.

„Wir haben auch nichts gehört. Macht euch keine Sorgen.“

Dann steckte sie es in ihre Handtasche. Während der Polizeiwagen begann, ohne Eile die Straßen in unmittelbarer Nähe des Bahnhof Zoos entlangzurollen, legte Klaas seine Hand auf Xenias zusammengefaltete Hände, wo er sie ruhen ließ. Wann immer sie Kinder am Straßenrand sahen, hielten sie an, Herr Lange sprang heraus, sprach die Kinder an und zeigte ihnen eines der Fotos. (Kinder sehen oft mehr als Erwachsene, hatte ihnen Herr Lange erklärt.) Aber keinem Kind war ein Geschwisterpaar aufgefallen, das durch die Straßen irrte.

Die Zeit verstrich gnadenlos: Es war inzwischen kurz nach halb fünf. Die zweite Halbzeit war bereits angepfiffen. Im Stadion saßen wahrscheinlich gerade um die fünfzigtausend Menschen und hatten keine Ahnung, was für Ängste Xenia und Klaas aushalten mussten. Die Fans waren längst besoffen und jubelten ihrer Mannschaft zu. Die größtmögliche Katastrophe wäre an jenem Tag eine Niederlage ihrer Mannschaft. Doch schon morgen wäre das Einzige, was vom Frust übrigbliebe, ein Kater. Wie würden sich Klaas und Xenia fühlen, sollten Linus und Meret nicht bis zum Abend gefunden werden oder von sich aus auftauchen?

Jede Minute, die verstrich, war wie ein weiterer Schritt in Richtung Abgrund. Inzwischen fegten Sturmböen durch die Stadt, die selbst die durchtrainiertesten Männer wanken ließen. Eine Melone rollte einsam über den Weg. Es war ein Bild wie aus einem Weltuntergangsfilm von Roland Emmerich. Die Straßen hatten sich, ohne dass Klaas es gemerkt hatte, innerhalb der zurückliegenden halben Stunde geleert. Auf den Terrassen der Cafés und Restaurants waren die Stühle und Tische zusammengestellt und mit schweren Eisenketten aneinandergekettet.

„Mann, Mann, Mann, da braut sich ein Unwetter zusammen, wie ich es lange nicht mehr erlebt habe“, sagte Herr Lange, als er wieder eingestiegen war.

Wie um seinen Eindruck zu bestätigen, trennte just in diesem Augenblick ein Blitz den schwarzen Himmel in zwei Hälften. Einige Sekunden vergingen. Dann knallte es. Kein Grummeln, das zu einem Donnern wurde. Einfach ein Knall. Die wenigen Menschen, die gegen den Sturm kämpften, zuckten zusammen. Auch Xenia zuckte zusammen. Anschließend erstarrte sie wieder.

Die Verzweiflung verwandelte sich zunehmend in eine dumpfe Angst. Klaas hatte sich in den Sitz gedrückt, als säße er beim Zahnarzt und müsste gerade eine schmerzhafte Behandlung über sich ergehen lassen.

Wo waren die Kinder?

„Ich habe da noch eine Idee“, sagte Herr Gülhan und klang dabei so, als glaube er wirklich an seine Idee.

Ohne sich mit Herrn Lange abgesprochen zu haben, parkte Herr Gülhan den Wagen und ging geradewegs auf einen türkischen Mann zu. Bei diesem Mann handelte es sich um einen Lebensmittelhändler, wie es sie in Berlin viele gab. Sein Laden hätte eine 1a-Kulisse für einen klischeebeladenen Film über in Deutschland lebende Türken abgegeben. Vor dem Eingang lag eine einzelne Banane und wenn Bananen rund gewesen wären, wäre sie in Richtung Savignyplatz gerollt. Der Sturm war längst zu einer Kampfansage an die ganze Stadt geworden. Herr Gülhan half dem Mann und sprach mit ihm.

„Das ist Mehmet, ein Onkel von Herrn Gülhan“, sagte Herr Lange.

Xenia reagierte nicht. Sie schaute aus dem Fenster und sah das, was auch Klaas sah: Blitze im Minutentakt. Mal erhellten sie wie ein Scheinwerfer den Himmel, mal erschienen sie in klassischer, gezackter Form. Es folgte brummelnder, hin und wieder krachender Donner. Klaas zweifelte nicht daran, dass dem Tag, an dem die Welt untergehen würde, ein solches Gewitter vorausginge. Auf den Straßen lagen Dutzende, zum Teil armdicke Äste, die Böen ausgerissen hatten, als handelte es sich um Streichhölzer. Klaas erinnerte sich nicht daran, dass Meret jemals ein solches Gewitter bewusst miterlebt hatte. Und selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, dann waren Xenia und Klaas immer in ihrer Nähe gewesen.

Je genauer Klaas sich ausmalte, was den Kindern in den zurückliegenden Stunden zugestoßen sein könnte, desto heftiger glaubte er zu spüren, wie die Angst sich in ihm ausbreitete und keine anderen Gefühle mehr zuließ. Klaas versuchte sich abzulenken, indem er Herrn Gülhan beobachtete, der es gemeinsam mit seinem Onkel geschafft hatte, sowohl Kartons als auch Tische und Regale ins Innere des Ladens zu bringen. Noch immer unterhielten sie sich angeregt. Dann nickte Herr Gülhan und sah aus, als habe er eine Nachricht erhalten, von der er nicht wusste, ob sie gut oder schlecht war. In dem Moment, in dem Herr Gülhan die Tür öffnete, fielen die ersten Tropfen. Es waren wenige, aber dicke Tropfen, die vom Wind ins Auto getragen wurden. Nachdem die ersten Tropfen als Warnung vorausgeschickt worden waren, brachen die Wolken. Es war so, als hätte zuvor ein Staudamm versucht, die Wassermengen zu halten. Binnen Sekunden bildeten sich kleine Wasserläufe neben den Bürgersteigen. Herr Gülhan ließ sich in den Sitz fallen und rückte seine Mütze zurecht. Dann zeigte er auf einen etwa hundert Meter entfernt liegenden Häuserblock.

„Der Mann mit dem rosa Schal … der wohnt da vorne“, sagte er.

Aulaskimo

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