Читать книгу Aulaskimo - Arne Ulbricht - Страница 5
Die Suche beginnt
ОглавлениеXenia atmete langsam ein und aus. So, als hätte sie Angst, das Atmen andernfalls zu vergessen. Sie gingen zu einem glatzköpfigen, älteren Mann, der in seiner Uniform wie ein klassischer Schaffner aussah.. Nachdem Xenia mit immer wieder stockender Stimme erzählt hatte, was geschehen war, winkte er ab und sagte, dass das immer wieder vorkomme. Er ließ die Kinder ausrufen. Wenige Minuten später ließ er sie erneut ausrufen. Der Bahnsteig, auf dem Klaas und Xenia warteten, wurde klar und deutlich genannt. Alles an dem Ausruf war klar und deutlich, und Linus hätte gewiss keine Probleme gehabt, das richtige Gleis zu finden. Vorausgesetzt … er hörte den Ausruf. Klaas ließ Xenia, die inzwischen nicht mehr langsam, sondern stoßweise atmete, beim Schaffner stehen und fuhr mit der Rolltreppe hinab in die Bahnhofshalle. Es war nicht ausgeschlossen, dass Linus Meret überredet hatte, mit ihm in den Zeitschriftenladen zu gehen, um in irgendwelchen Comics zu blättern. Aber auch hier waren sie nicht, und der Verkäufer erinnerte sich nicht daran, sie gesehen zu haben. Klaas wischte sich über die Stirn. Er hatte nicht gemerkt, dass er begonnen hatte zu schwitzen. Inzwischen rann der Schweiß seine Stirn herunter und brannte in seinen Augen. Xenia schüttelte den Kopf, als er endlich wieder neben ihr stand.
„Die Kinder sind weg … was … was machen wir jetzt bloß?“, sagte sie mit einer Stimme, die nicht mehr als ein Krächzen war.
„Sie könnten die Polizei rufen“, sagte der Schaffner, der noch immer neben ihnen stand.
„Noch nicht“, sagte Klaas.
Dann schaute er Xenia an.
„Oder was meinst du?“
Xenia zuckte die Achseln, während der Schaffner von Touristen auf irgendeiner Sprache angesprochen und in ein Gespräch verwickelt wurde. Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht.
„Keine Ahnung.“
Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:
„Ich habe einfach Angst.“
Anschließend standen sie eine Weile schweigend auf dem Bahnsteig und schauten sich um, als handelte es sich bei ihnen um Dorfbewohner, die keine Ahnung haben, wie man sich auf einem Bahnhof mit mehr als einem Gleis verhält. Die Zeit verstrich quälend langsam. Wären sie zu viert geblieben, wären sie zu den Rolltreppen gegangen und hinunter in die Halle gefahren, und wenn irgendjemand zu ihnen gesagt hätte, dass das Chaos auf den Bahnsteigen fürchterlich sei, hätten sie gefragt: Welches Chaos? Aber sie waren nicht zu viert. Deshalb beobachteten sie mit stillem Entsetzen, wie eine Handvoll Polizisten am Ende des Bahnsteigs mit einem Dutzend Fans um eine Fahne kämpfte, die die Fans zuvor offensichtlich irgendwo nicht ganz legal befestigt hatten.
„Ich … ich finde, dass wir die Polizei einschalten sollten. Und zwar jetzt“, sagte Xenia.
„Das ist zu früh. Die sind bestimmt irgendwo hier in der Nähe. Und Linus passt ja auf Meret auf. Bei Kindern … da leiten sie doch bestimmt gleich einen Großeinsatz ein.“
„Ja, und wenn?“
Wieder kam eine Horde Fans die Treppen hoch und schwappte wie die ersten Ausläufer einer Flut über den Bahnsteig. Die Männer hatten Bierflaschen in der Hand und grölten ihren bekloppten Lieblingsschlachtruf Ha Ho He – Hertha BSC. Mit einem Gefühl der Beklemmung verfolgte Klaas, wie sich die Massen aus der S-Bahn herausschoben, während sich Fans, Touristen und ein paar Berliner in die S-Bahn hineinschoben, als ließe sich auf diese Weise Zeit gewinnen. Es entstand ein hässliches Gedrängel, das jeden Großstadt-Skeptiker endgültig davon überzeugt hätte, dass das Leben auf dem Land dem Leben in einer Stadt wie Berlin vorzuziehen sei.
„Ich will noch raus“, schrie irgendjemand.
„Kein Problem, kein Problem, nächste Station kannste raus“, lallte ein Fan.
Und dann gingen die Türen zu und das Chaos fand sein vorläufiges Ende. Die S-Bahn, in die die Kinder eingestiegen waren, war nicht derart überfüllt gewesen. Aber angenommen, beim Bahnhof Zoo hätte sich ebenfalls eine solche Menschenmenge ohne Rücksicht auf Verluste in die S-Bahn gequetscht? Wie wären Linus und Meret mit einer solchen Situation umgegangen? Linus konnte sich durchaus durchsetzen. Er rief, wenn er feststeckte, mit kindlich kreischender Stimme: Lasst uns raus! Oder: Mach Platz! Oder: Weg da! Und Meret … schob sich einfach zwischen den Beinen durch und schien auch im unübersichtlichsten Chaos eher die sportliche Seite zu sehen. So verhielten sich die Kinder jedenfalls, wenn Xenia und Klaas Rückendeckung gaben und helfen konnten, wenn gar nichts mehr ging. Klaas hatte noch nie Anlass gehabt sich zu überlegen, wie sie sich ohne Eltern in einem solchen Fall verhielten.
„Was ist jetzt?“, fragte Xenia.
Klaas sagte nichts, weil ihm nichts einfiel. Xenia zupfte ihm daraufhin am Pullover, als sei er eingeschlafen und müsste geweckt werden.
„Hey, ich warte auf eine bessere Idee. Ich bleibe hier jedenfalls nicht stehen und drehe Däumchen“, sagte sie.
Dabei sah sie ihn an, als würde sie sich innerlich auf einen Streit oder mehr vorbereiten.
„Ich zähle bis drei. Wenn du bis dahin keinen Vorschlag gemacht hast, rufe ich die Polizei. Also: eins … zwei…“
„Die … die Kinder sind doch vielleicht einfach schon losgegangen. Ich finde es zu früh für die Polizei. Linus bekommt bestimmt ein schlechtes Gewissen, wenn wir wegen ihm die Polizei gerufen haben.“
„Also bleiben wir hier wirklich stehen, warten und…“
Klaas unterbrach sie sofort und sagte:
„Was hältst du davon, wenn einer von uns einfach beim Zoo vorbeischaut und guckt, ob sie da irgendwo sind?“
Xenia sah ihn an und schien über seinen Vorschlag nachzudenken. Dann nickte sie.
„Ja, vielleicht hast du recht.“
Während sie auf dem Bahnsteig wartete, lief Klaas los und drängelte sich eine Minute später an den Schlangen vor den Kartenhäuschen vorbei. Bei der Drehtür blieb er stehen und fragte einen schnurrbärtigen Zooangestellten nach Linus und Meret.
„Ich habe tausend Kinder gesehen“, sagte der Mann.
„Ja, aber es geht um diese Kinder“, sagte Klaas und zeigte ein Handyfoto.
„Standen die beiden hier und sahen aus, als würden sie auf ihre Eltern warten?“
Der Mann warf einen flüchtigen Blick aufs Display.
„Nee, glaube ich nicht. Aber kann natürlich sein. Sie sehen doch, was hier los ist.“
Jetzt rief Klaas nach Linus und Meret und schaute in alle Richtungen. Einige Eltern nahmen ihre eigenen Kinder daraufhin an die Hand, als müssten sie vor so einem Irren beschützt werden, was Klaas egal war. Als er sie nicht sah und niemand auf seine Rufe reagierte, rannte er zurück. Selten zuvor hatte er das Gefühl gehabt, es derart eilig zu haben. Xenia stand noch an derselben Stelle. Es schien fast so, als handelte es sich bei ihr um eine Wachsfigur. Als Klaas sie ansprach, drehte sie wie in Zeitlupe ihren Kopf in seine Richtung.
Bevor sie etwas fragte, sagte er: „Die Kinder waren nicht da. Was hältst du davon, wenn ich erst mal eine Station weiterfahre und dort suche? Und du wartest hier, falls die Kinder doch noch kommen. Kann doch gut sein, dass sie es nicht rausgeschafft haben oder einfach nicht rechtzeitig aufgestanden sind.“
Xenia sah ihn mehrere Sekunden lang vollkommen ausdruckslos an. So, als hätte er sie in einer unbekannten Sprache angesprochen. Dann sagte sie:
„So verlieren wir doch bloß Zeit. Wenn etwas passiert ist, dann…“
„Es ist nichts passiert. Jedenfalls nichts Schlimmes. Linus und Meret sind doch nicht an einem Samstag am helllichten Tag mitten in Berlin gekidnappt worden.“
Und während er das sagte, glaubte er es wirklich. In diesem Moment fuhr die nächste S-Bahn Richtung Spandau ein. Klaas schaute Xenia an. Xenia, die seinen fragenden Blick stumm erwiderte, wirkte ratlos. Dann nahm sie Klaas’ Kopf in beide Hände und drückte ihre salzig schmeckenden Lippen derart fest gegen seine Lippen, als wüsste sie nicht, ob sie ihn jemals wiedersehen würde.
„Na mach schon“, sagte sie, als sie sich voneinander gelöst hatten.
Sie schob ihn geradezu in die S-Bahn, in der es schwierig war, zwischen den Fans wenigstens einen Stehplatz zu bekommen.
„Viel Glück…“, rief sie, bevor sich die Türen schlossen.
Klaas nickte und versuchte zu lächeln. Ob es ihm gelungen war, wusste er nicht. Vielleicht warteten die Kinder tatsächlich am Savignyplatz. Sollten sie es jedoch nicht tun und sollte er mit leeren Händen zurückkommen und auch Xenia die Kinder nicht gefunden haben, war nicht ausgeschlossen, dass sie – Xenia und er selbst – die Nerven verlieren würden und die Situation endgültig aus dem Ruder liefe. Wie es dann weitergehen würde, wusste Klaas nicht. Vielleicht käme Xenia auf die Idee, ihn daran zu erinnern, dass sie Linus längst ein GPS-Handy hatte kaufen wollen und er dagegen gewesen war. („Ein Kind will auch mal alleine sein und das Gefühl haben, nicht immer kontrolliert zu werden!“) Und wenn sie ihm so käme, was sollte er dann sagen? Die Wahrheit war: Er war tief in seinem Inneren noch immer der Meinung, dass ein siebenjähriger Junge kein Handy brauchte. Und erst recht kein GPS-Handy. In der Vergangenheit waren solche Gespräche immer harmlos verlaufen. So wie ihre Samstagmorgen-Diskussionen war es eher wie ein Spiel gewesen, bei dem jeder seine einstudierte Rolle gespielt hatte und wahrscheinlich enttäuscht gewesen wäre, hätte der eine dem anderen plötzlich Recht gegeben. Und da Xenia sich immer durchsetzte, wenn sie sich wirklich durchsetzen wollte, war Klaas stets davon ausgegangen, dass selbst Xenia die Ausstattung ihres siebenjährigen Sohnes mit einem Sicherheitshandy für übertrieben gehalten hatte. Aber nun waren die Kinder weg.
Klaas schaute auf seine Uhr. Es war zwanzig vor zwei. Er rechnete und spürte einen Stich in seiner Magengegend. Fast eine Stunde waren die Kinder allein. Vermutlich waren sie inzwischen hungrig. Klaas selbst hätte eigentlich auch Hunger haben müssen. Aber die Leere, die er in sich spürte, hatte nichts mit Hunger zu tun. Hätte er doch bloß geschwiegen... Der Tag hatte so entspannt begonnen, und vielleicht würde der Tag noch entspannt enden. Ja, vielleicht würden sie in einer halben Stunde schon über das Chaos, das die Kinder und vor allem Klaas angerichtet hatten, lachen können. Denn die Kinder saßen wahrscheinlich wirklich auf dem S-Bahnhof Savignyplatz, weil sie zu weit gefahren waren, und Meret fragte gerade nach Mama und Papa und Linus erfand irgendeine verrückte Geschichte. Vielleicht waren sie aber auch in der S-Bahn sitzen geblieben, weil der Mann mit dem rosa Schal so eifrig Gummibärchen verteilt hatte. Bei diesem Gedanken lächelte Klaas nicht mehr. Hätte er diesen Mann bloß nicht gesehen. Er wollte nicht an ihn denken. Er sagte es sich immer wieder, doch es nützte nichts. Wie ein böser Geist, der gar nicht daran dachte, sich vertreiben zu lassen, blitzte das Gesicht des Mannes fortwährend auf. Vielleicht waren sie tatsächlich mitgegangen… Dann saßen sie gerade beim Mann in seiner Zweizimmerwohnung und aßen Nudeln. Und zum Nachtisch Götterspeise, die er für solche Fälle immer im Kühlschrank aufbewahrte. Nicht auszudenken, wenn dem so wäre.
Die Türen schnellten auf. Er stieg aus, schaute sich um und sah einige Fußballfans, die auf ihn wirkten wie Zombies aus einem B-Movie, und einen Obdachlosen. Aber seine Kinder, die sah er nicht. Er gab sich einen Ruck und ging auf den Obdachlosen zu. Er saß auf einer Bank, von der aus er einen guten Überblick über den gesamten Bahnsteig hatte, und hielt einen Tetra Pak Rotwein in der Hand.
„Sagen Sie, haben Sie zufällig zwei Kinder gesehen?“, fragte Klaas.
„Was?“, krächzte er mit der Stimme eines Menschen, der selten Gelegenheit hatte, mit irgendjemandem zu sprechen.
„Haben - Sie - zwei - Kinder - gesehen?“
„Kinder?“
„Ja, zwei Kinder“, sagte Klaas und zeigte dem Obdachlosen auf dem Handy ein Foto seiner Kinder.
Er schaute sich das Foto lange an. Dann nahm er einen Schluck Wein aus dem Tetra Pak.
„Nö, hab ich nicht gesehen“, sagte er.
Wäre auch zu schön gewesen. Die S-Bahnstation lag wie fast alle S-Bahnstationen nicht ebenerdig, und da Meret gern Treppen heruntersprang und noch lieber mit der Rolltreppe fuhr, lief Klaas die Treppen hinunter. Vielleicht saßen sie ja auf irgendeiner Bank auf dem Savignyplatz und aßen ihre Äpfel. Der Savignyplatz war eine überschaubare Grünanlage, die von der Kantstraße geradezu durchschnitten wurde. Klaas benötigte nur wenige Minuten, um sich sicher zu sein, dass die Kinder sich hier nirgendwo aufhielten. Sollte er in den zahlreichen Cafés nachfragen? Nein, in ein Café hätten sie sich mit Sicherheit nicht gesetzt. Plötzlich zuckte er zusammen: Er hörte, wie jemand von innen gegen eine wie ein Einmann-Wohnwagen aussehende öffentliche Toilette klopfte, und auf eine solche Idee käme nur ein Kind! Hätte Meret pinkeln müssen, hätte Linus gewiss nicht gezögert, mit ihr eine solche Toilette zu benutzen. Einen Euro hatte er ja. Noch immer wurde von innen geklopft. Klaas erwiderte das Klopfen und rief währenddessen die Namen der Kinder. Als sich die Toilettentür wie in Zeitlupe automatisch aufschob, lachte Klaas. Das Handy hatte er schon in der Hand, um Xenia sofort anzurufen. Doch als sich die Toilettentür so weit geöffnet hatte, dass er reinsehen konnte, blickte er ins Gesicht einer älteren, übertrieben geschminkten Dame mit rotgefärbten Haaren, die ihn missbilligend anschaute. An der Hand hielt sie einen kleinen Jungen, vielleicht fünf Jahre alt, der absurd schick angezogen war. Bevor die Enttäuschung Klaas überwältigen konnte, klingelte sein Handy. Jemand – wahrscheinlich Hannes – rief aus dem Büchereck an. Er schaute das Handy an wie eine Vogelspinne, wäre sie ihm mitten in Berlin auf einem Bahnsteig über den Fuß gelaufen. Das Handy klingelte munter weiter. Sollte er abnehmen? Worüber sollte er mit Hannes reden? Plötzlich wusste er es, und von einer auf die andere Sekunde war das, was er verloren hatte, wieder da: Hoffnung, die Kinder ohne Hilfe wiederzufinden. Denn vom Bahnhof Zoo ging er selbst zwanzig Minuten zum Büchereck zurück. Linus und Meret bräuchten eine halbe Stunde. Vielleicht nicht mal eine halbe Stunde, weil sie manchmal, vor allem wenn sie aufgeregt waren, etwas ausgeheckt hatten oder einen Überschuss an Energie loswerden mussten, einfach liefen, um von Punkt A nach Punkt B zu kommen. Klaas drückte auf die Taste mit dem grünen Hörer.
„Sind sie da?“, fragte Klaas.
Hannes stutzte. Was los sei?
„Ach nichts“, sagte Klaas.
Wenn die Kinder im Büchereck gewesen wären, hätte Hannes gewusst, was los war. Dort, wo zuvor noch die Hoffnung gewesen war, war nur noch ein tiefes, schwarzes Loch. Aber Hannes kannte Klaas viel zu lange, um sich mit einem „ach nichts“ abzufinden. Doch, es sei etwas, sagte er und fragte, wer genau da sein sollte.
„Die Kinder sind weg“, sagte Klaas.
Weg?
„Ja, weg, aber noch nicht lange, wir haben gerade erst mit der Suche begonnen.“
Ob sie schon die Polizei eingeschaltet hätten. Klaas zuckte zusammen, als hätte ihn jemand angerempelt. Die Polizei … ja, vielleicht hätten sie sie tatsächlich sofort einschalten sollen.
„Nein“, sagte Klaas, und dann: „Sag mal, warum rufst du eigentlich an, das tust du doch sonst nie.“
Wegen einer Kundin, die behaupte, Klaas habe ihr gesagt, sie könne heute Der Alchimist von Coelho abholen. Und sie sage, sie verlasse erst das Büchereck, wenn er mit Klaas gesprochen habe, sagte Hannes. Klaas hörte an seinem Tonfall, wie leid es ihm tat, ihm wegen einer solchen Lappalie wie ein Berufsanfänger mit einem Ich-lerne-noch-Schild auf der Brust hinterhertelefoniert zu haben.
„Sag ihr, sie soll was Besseres lesen.“
Er werde ihr Trainspotting empfehlen, sagte Hannes und versprach sich zu melden, sobald die Kinder auftauchten, und er und Xenia sollten sich wenigstens ums Büchereck keine Sorgen machen. Er bleibe da bis acht und schließe dann.
„Du hast um vier Feierabend.“
Nein, habe er nicht, und Ceyhan auch nicht, sagte er und legte auf, bevor Klaas irgendetwas sagen konnte. Als er wieder auf dem Bahnsteig stand, klingelte erneut das Handy. Sein Herz begann derart zu rasen, als er Xenias Nummer sah, dass Klaas sich an die Brust fasste. Es hätte ihn nicht gewundert, hätte sein Brustkorb vibriert.
Hoffentlich hat sie gute Nachrichten, dachte er. Klaas merkte allerdings schon an Xenias Begrüßung, dass das nicht der Fall war. Sie sagte, dass er seit über einer halben Stunde weg sei. Er entschuldigte sich, erzählte von Hannes’ Anruf und sagte, dass er zurückkomme und sie dann weitersehen müssten. Zu mehr reichte es nicht.
In dem Augenblick, in dem er in eine S-Bahn Richtung Bahnhof Zoo stieg, überfiel ihn plötzlich eine Ahnung, die finster und bedrohlich war. In letzter Sekunde sprang er durch den schmalen Spalt der sich bereits schließenden Türen wieder heraus und ging zum Obdachlosen, der an einem Zigarettenstummel zog.
„Ah, der Mann, der seine Kinder sucht“, sagte er, als er Klaas auf sich zukommen sah.
Dabei wirkte er so, als freue er sich über die Abwechslung. Und dass er sich an Klaas erinnerte, war kein schlechtes Zeichen. Offensichtlich hatte er noch nicht sein ganzes Gehirn weggesoffen.
„Genau, jetzt suche ich einen Mann, einen auffälligen, älteren Mann mit einem Schal, genauer gesagt mit einem…“
„…rosa Schal? Den habe ich gesehen!“
Das gibt es doch nicht, dachte Klaas, der am ganzen Körper leicht zu zittern begann.
„Hatte der Mann Kinder an der Hand gehabt?“, fragte er.
„Keine Ahnung.“
„Das hätten Sie doch sehen müssen.“
„Nein, ich habe nur auf den Schal geachtet. War schon eine komische Erscheinung, der Typ. Seine Arme hingen runter wie Spaghetti. Kann schon sein, dass da Kinder dran waren, an den Händen, meine ich.“
Klaas entfernte sich rückwärtsgehend vom Obdachlosen, der genüsslich am Zigarettenstummel zog, und stieg in die nächste S-Bahn. In der S-Bahn starrte ihn eine ältere Dame an, als hätte sie noch nie einen Mann seines Alters gesehen.
„Junger Mann … setzen Sie sich doch. Ich steige eh gleich aus“, sagte sie.
Klaas zögerte einen Augenblick. Dann zuckte er die Achseln, bedankte sich und ließ sich auf den Sitz fallen. Kaum saß er, fuhr die S-Bahn im Bahnhof Zoo ein. Klaas stellte sich an die Tür und sprang in dem Moment, in dem sie aufschnellte, auf den Bahnsteig. Xenia sah ihn und fiel ihm in die Arme. Sie weinte nicht, sie heulte.
„Wir … lass uns … wir müssen die Polizei einschalten“, sagte Klaas mit mechanischer Stimme.
Xenia sah ihn mit einem Blick an, als wollte sie ihm sagen, dass genau das ihr erster Vorschlag gewesen war. Er befürchtete, sie würde ihn vor Wut und Verzweiflung anbrüllen.
Doch sie nickte nur.