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IV

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Am nächsten Tage gegen elf Uhr vormittags wurde Liegnitz in seinem Geschäftszimmer ein neuer Besucher gemeldet: Gerhard Leiner.

Liegnitz saß an seinem breiten Schreibtisch, wie immer rosig im Gesicht, wie immer vollendet vornehm. Er starrte das kleine Kärtchen an, und seine Hand fuhr dabei ein paarmal über die blanke Glatze.

Diese Bewegung deutete die schlanke, schwarzhaarige Sekretärin, die vor ihm stand, mit Recht als Zeichen der Verlegenheit „Soll ich ihn abweisen, Herr Liegnitz?“ erkundigte sie sich. „Ich hab’ ihm nicht gesagt, daß Sie anwesend seien, und daher…“

Liegnitz atmete tief auf. „Nein: Vorlassen, Fräulein Diersch!“ sagte er freundlich und bestimmt.

Die Hände an die Schreibtischkante gepreßt, wartete er, bis sie das Zimmer verlassen hatte. Dann zog er schnell ein Schreibtischfach auf, nahm einen Revolver heraus, entsicherte ihn und steckte ihn in die Rocktasche. Das alles tat er mit einer Miene des Abscheues, die in jedem Beobachter Zweifel erweckt hätte, ob der Mann je fähig wäre, Von der Waffe Gebrauch zu machen.

Die Tür öffnete sich: Werner trat ein. Unentschlossen blieb er an der Schwelle stehen und musterte mit raschem Blick den Mann am Schreibtisch, diesen Mann, den er noch nie gesehen hatte und den er nun wie den besten Freund begrüßen mußte.

Liegnitz war aufgestanden. Sekundenlang standen sich die Männer gegenüber und keiner tat einen Schritt vorwärts, keiner verriet durch die kleinste Bewegung, was für Gefühle er dem anderen entgegenbrachte. Es waren überaus peinliche Augenblicke, und alles in Werner drängte dazu, ihnen ein Ende zu bereiten. Aber er fürchtete, sich im Ton zu vergreifen, und daher lächelte er nur ein krampfhaftes, unnatürliches Lächeln.

Die Wirkung dieses Lächelns war überraschend. Mit einem Ruck riß Liegnitz die Hände aus den Taschen, breitet die Arme weit aus und ging mit strahlendem Gesicht auf Werner zu. Im nächsten Augenblick lagen sich die beiden Männer in den Armen, und es gab eine Begrüßung, wie man sie sich zwischen zwei Freunden nicht herzlicher hätte denken können.

„Gerd! Altes Haus!“ stöhnte Liegnitz und schnappte nach Luft. „Endlich wieder da! Komm, setz dich! Ein Likörchen, ja?Du sagst doch nie nein. Na also!“ Er trat an den kleinen Wandschrank und holte eine dickbauchige Flasche mit zwei Gläschen heraus, die er rasch füllte. „Hab’ dich furchtbar vermißt, Gerd, die ganze Zeit… Na, prosit! Auf die Freiheit! Auf die Liebe! Auf die Weiber… Hahaha! Was, wir verstehen uns noch immer, alter Gauner?“

Werner empfand eine geradezu körperliche Abneigung gegen diesen fetten, satten Menschen. Der Ekel würgte ihm bei der bloßen Vorstellung, daß er nun, getreu der übernommenen Rolle, in diesen abscheuerregenden Ton einstimmen und so tun müsse, als freue er sich, wieder das alte Leben mit solchen Freunden aufnehmen zu können. Und im Augenblick stand bei ihm der Entschluß fest, das nicht mitzumachen, selbst auf die Gefahr hin, aufzufallen. „Augenblick mal —Arthur!“ sagte er vorsichtig. „Du redest da drauflos, als käme ich nach einer längeren Erholungsreise wohlbehalten wieder zurück… Aber ich — ich komme da nicht mehr mit. Vier solche Jahre vergißt man nicht. Sie lassen sich nicht einfach auswischen aus dem Gedächtnis. Außerdem bin ich entschlossen, nun mal ein bißchen vernünftiger zu werden…“

„Du lieber Himmel!“ japste Liegnitz. „Du bist wohl zur Heilsarmee übergegangen? Komm, sei vernünftig! Trink, Bruderherz!“

„Hör mal! Ich möchte etwas Ernsthaftes mit dir besprechen!“ unterbrach ihn Werner kühl. „Meine Frau… Ich finde sie da in einer Lage…“

Liegnitz setzte sein Glas hin. Mit einem prüfenden Blick sah er Werner an. „In was für einer Lage?“ fragte er kurz.

„In einer Lage… Wie soll ich mich ausdrükken? Nun, mit einem Wort: in einer Lage, in der ich meine Frau nicht zu sehen wünsche!“

Mit beredter Miene breitete Liegnitz die Arme aus. „Tja, mein Guter: Wer ist schuld daran daß — —? Na, kurz und gut: Daß!“

„Ich weiß sehr gut, daß ich an allem schuld bin“, erwiderte Werner, „und ich will darum jetzt gutzumachen versuchen, was noch gutzumachen ist Dabei sollst du mir helfen!“

„Aber selbstverständlich! Ich hab’ mich die ganze Zeit über um Änne gekümmert. Hat sie dir das nicht gesagt? Not hat sie nie gelitten — das wird sie dir bestätigen. Jetzt führe ich noch den Prozeß…“

„Ja — das ist sehr gut“, meinte Werner. Unddann stellte er die entscheidende Frage: „Warum hast du zugegeben, daß Änne die gefälschte Unterschrift auf die Vollmacht als echt anerkannte?“

Liegnitz lächelte. Diese Frage schien ihn jedenfalls nicht zu überraschen. „Weil — — na: weil die Geschichte dir ein paar Jährchen mehr eingebracht hätte. Sehr einfach!“

Werner sagte nichts dazu. Der Fall war klar, die Antwort einleuchtend. Gab es daran noch etwas zu ändern? Nein! Also Schluß mit dieser Erbschaftsangelegenheit! „Ich möchte gern die Akten einsehen, soweit sie meine Vermögenslage betreffen“, sagte er abschließend und stand auf. Es war ein wenig unhöflich, doch er ließ es darauf ankommen. Dieser Mann sollte merken, daß ihm der Verkehr mit ihm nicht mehr sonderlich erwünscht war. Anders war es nicht möglich, ihn sich ein bißchen vom Leibe zu halten.

„Ich schick sie dir noch heute“, antwortete Liegnitz, und in seinen Augen war ein eigentümliches Leuchten; aber Werner hielt den Kopf gesenkt und sah es nicht. „Du willst doch jetzt nicht etwa schon gehen? Nein, daraus wird nichts! Du mußt mir erzählen…“ Ein Klopfen unterbrach ihn. „Herein!“ rief er.

Die Sekretärin trat ein.

„Ein Herr Großfeld!“ meldete sie halb fragend.

Liegnitz richtete sich auf. „Ich lasse bitten!“

Großfeld trug einen Anzug, der eben erst vom Schneider zu kommen schien, so neu sah er aus. Ebenso neu war alles andere an ihm: Schuhe, Hemd, Krawatte. Sein Gesicht aber strahlte vor Glück und Zufriedenheit. „Tag, lieber Leiner!“ Er drückte Werner kräftig die Hand. Er begrüßte ihn so, als hätte er sich erst gestern von ihm verabschiedet. „Tag, Arthur Amadeus! Noch immer hier?“

„Ja“, versetzte Liegnitz erstaunt, „wo sollte ich wohl sonst sein?“

„Nun, ich dachte, Sie wollten verreisen“, meinte Großfeld gleichgültig.

„Darum brachten Sie mir auch wohl das Kursbuch?“ fragte Liegnitz etwas schärfer als sonst.

„Ja, darum!“

„Nein, ich denke gar nicht daran zu verreisen“, begann Liegnitz.

Doch Großfeld ließ ihn nicht zu Ende sprechen. „Um so besser, Arthur Amadeus! Warum regen Sie sich da künstlich auf? Um so besser, wenn Sie hierbleiben! Da kann ich ja gleich meine Einladung zu einem bescheidenen Fest bei mir morgen abend anbringen. Sie kommen doch beide? Wir wollen ein bißchen Leiners Heimkehr begießen. Bringen Sie auch Änne und Onkel Gotthelf mit, Leiner, ja? Änne hat ja morgen abend frei.“

„Sehr gern“, sagte Werner.

„Und Sie, Arthur Amadeus?“

„Ich komme natürlich auch.“

„Na, dann ist ja alles in bester Ordnung! Ich habe im Augenblick nicht viel Zeit. Sie müssen entschuldigen, Arthur Amadeus, wenn ich Sie schon jetzt verlasse. Sie wollten auch gehen, Leiner?“

„Ja…“

„Nein, Du bleibst noch!“ widersprach Liegnitz eifrig.

„Wirklich: Meine Zeit — —“ sagte Werner zögernd.

Großfeld nahm ihn ohne viel Umstände am Arm und zog ihn zur Tür.

„Leben Sie wohl, Arthur Amadeus!“ rief er Liegnitz zu, dem nichts übrigblieb, als sich ins Unvermeidliche zu fügen. Man sah ihm an, wie ungern er die beiden zusammen gehen ließ.

„Wie finden Sie nun unser Berlin?“ plauderte Großfeld, als sie auf der Straße angelangt waren. „Hat sich doch prächtig herausgemacht? Feiner Wagen dort, nicht? Und die Kleine drin ist auch nicht so ohne… Na, wie war’s denn?“

Werner fand, daß dieser Großfeld nicht im entferntesten dem Bilde glich, das er sich nach Onkel Gotthelfs und Ännes Erzählungen von ihm gemacht hatte. Den Mann, der sich ein Museum von zurückgeschickten Geschenken seiner Angebeteten anlegte, hatte er sich als ein schmächtiges, zartbesaitetes Bürschchen vorgestellt, das womöglich noch Gedichte herstellte. Und hier sah er einen kerngesunden jungen Mann, der mit beiden Beinen mitten im Leben stand und der sich unmöglich mit einer aussichtslosen Schwärmerei zufrieden geben würde… „Schön war’s nicht“, antwortete Werner und zuckte die Achseln. „Das können Sie sich ja denken. Fast vier Jahre…“

„Nein!“ fiel ihm Großfeld ins Wort. „Ich meine doch, wie es da oben bei Liegnitz war!“

„Wie soll’s gewesen sein?“ gab Werner vorsichtig zur Antwort. „Genau wie früher auch. Wir tranken ein Gläschen aufs Wiedersehen und — — —“

„Mein Lieber!“ Großfeld blieb plötzlich stehen. „Halten Sie mich doch nicht zum besten! Ich frage doch nach dem geschäftlichen Teil Ihrer Unterredung. Was hat er gesagt?“

„Er versprach, mir die Akten noch heute zu schikken. Da muß ich mich nun einarbeiten…“

„Und wieviel hat er Ihnen geboten?“

Jetzt begriff Werner, daß er irgend etwas Entscheidendes nicht wußte und daß diese Unkenntnis ihm im nächsten Augenblick zum Verhängnis werden könnte. „Er hat noch nichts Endgültiges geboten“, sagte er gepreßt.

Großfeld lachte auf. „Komisch! Na, alles Gute einstweilen, Leiner! Hallo, Taxi!“ Er sprang in den Wagen und winkte Werner zum Abschied freundlich zu.

Sehr nachdenklich blieb Werner zurück.

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