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1. Kapitel

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Der Parkplatzwächter rechts neben der Madeleine sah auf seine Uhr und wußte, daß er in genau fünf Minuten seine erste Morgenzigarette rauchen würde. Er spähte den Boulevard des Capucines hinunter, über die vielfarbigen Dächer der Wagen hinweg, die in ununterbrochener Schlange auf ihn zu und an ihm vorbeiglitten.

Er sah seine Morgenzigarette schon vom weitem — in Gestalt eines hellblauen Wagens mit geöffnetem Sonnendach. Der Wagen kurvte leise aus der Schlange in die Einfahrt des Parkplatzes. Der Wächter winkte aufgeregt auf den Platz, den er freigehalten hatte.

Schon die Pünktlichkeit dieser Frau war erstaunlich. Sieben Minuten vor neun, an jedem Wochentag, schloß sie das Schiebedach ihres Wagens, stieg aus, nickte dem Wächter wortlos und ohne Lächeln zu, gab ihm fünfzig Francs und ging um die Madeleine herum und in den Boulevard Malesherbes davon.

Sie trug ein Jackenkleid aus Rohseide. Es saß, als habe ihr Schneider es ihr in liebevollster Arbeit auf die bloße Haut genäht. Sie hatte ganz helles braunes Haar, aber fast schwarze Augenbrauen, gestreckte flache Bogen, die strichfein auf die Schläfen zuliefen.

Ihre merkwürdigen hellen, ockerfarbenen Augen hielten jeden auf Distanz. Der lange Hals ließ ihre Kopfhaltung fast hochmütig erscheinen.

Sie nickte wie immer. Der Wächter verbeugte sich zweimal, aber sie schien das nicht zu bemerken. Er sah ihr bewundernd nach.

Sie mochte sehr reich sein. Vielleicht die Frau eines großen Geschäftsmannes. So etwas wie eine Fürstin ...

Den Fünfzigfrancschein steckte der Wächter nicht erst in die Tasche. Er lief ein paar Schritte in die Rue Tronchet, um sich wie jeden Tag im Tabac-Bureau seine schwarzen Gauloises dafür abzuholen.

*

Sie war nicht reich und erst recht keine Fürstin. Sie war Sekretärin.

Es amüsierte sie, ihren Wagen hier stehen zu lassen, um dann mit einem Umweg in die Rue de Rome zu Fuß zu gehen. Ihr Chef brauchte nicht zu wissen, daß sie einen eigenen Wagen fuhr.

An der Ecke zur Rue de Madrid drückte sie die Tür eines jener großbürgerlichen Pariser Häuser auf, in deren breiten Treppenhäusern es auch im Sommer kalt und auch in den Geschäftsstunden still bleibt.

Bless Dorlon verschmähte es, den Fahrstuhl erst herunterzurufen. Sie suchte den Schlüssel aus ihrer Handtasche, während sie in den ersten Stock hinauflief.

„Maitre Sourette“, mehr stand nicht auf dem großen Messingschild des Büros.

Wer Sourette besuchte, der wußte auch, wer er war.

Das erste, worauf ihr Blick fiel, als sie die Tür öffnete, war ein Mantel in der Garderobe. Sourettes grauer Gabardine-Mantel, darüber sein breitkrempiger schwarzer Hut.

Das war fatal. Bless hatte nicht damit rechnen können, daß Sourette heute schon zurückkam. Sie verhielt eine Sekunde, dann glitt sie ganz in das Entrée und schloß die Tür leise hinter sich.

Der geizige Sourette hatte die Lampe in der Garderobe wieder gelöscht, aber ein Lichtstreif, der sich kegelförmig verbreiterte, fiel auf dem braunen Teppich in den Raum. Er kam aus dem Vorzimmer, dessen Tür halb offen stand. Bless konnte auf ihren Arbeitstisch sehen. An diesem Tisch stand Sourette. Er zeigte ihr den Rücken, gekrümmt, er sah aus wie verwachsen. Der gedrungene Mann stützte sich mit geballten Fäusten auf die Tischplatte. Vor ihm lagen Papiere, auf die er herunterstarrte.

Bless schob sich etwas zur Seite. Zwischen dem Körper und dem leicht gewinkelten Arm Sourettes hindurch konnte sie auf das Blatt sehen. Kein Zweifel, er hatte ihre Notizen gefunden. Sie erkannte deutlich am rechten Rand des Blattes die roten Ziffern.

Bless Dorlon hatte mit peinlicher Genauigkeit Buch geführt über die Summen, die sie seit zwei Jahren aus Sourettes verschiedenen Geschäftskonten hatte verschwinden lassen. Sie brauchte diese Buchführung, um ihr scharf kalkuliertes Spiel weiterspielen zu können.

Maitre Sourette war der Jurist verschiedener Verbände und Organisationen. Er verwaltete auch Gelder für sie, die sie aufgespeichert hatten, wie eine Armee Granaten für den Kriegsfall aufspeichert. Es war für Bless nicht schwer gewesen, mit Intelligenz und Wachsamkeit das Geld immer dort angehäuft zur Verfügung zu halten, wo es demnächst gebraucht wurde. Sie erhielt alle Informationen dazu und beherrschte das geschäftspolitische Spiel der Verbände wie ein Jongleur seine fliegenden Untertassen. Es mußte schon so etwas wie ein Generalstreik passieren, um die von Maitre Sourette betreuten Verbände alle gleichzeitig nach ihren Kampfreserven greifen zu lassen — und das Spiel der Sekretärin zu zerstören.

Oder — Maitre Sourette mußte eines Montags überraschend in sein Büro kommen und die Notizen seiner Sekretärin finden. Er brauchte die roten Summen nicht einmal zusammenzuzählen. Sie hatte am Sonnabend gewissenhaft Bilanz gemacht. Es waren etwas über zehn Millionen Francs.

Sie hörte, wie der Mann schnaufte. Sein Atem ging schnell. Lautlos trat sie zurück und sah um sich. Auf einem brusthohen schwarzen Fuß, der aussah wie eine eingeschrumpfte Säule aus Griechenland, stand eine kleine Sandsteintänzerin. Der Staub, der jeden Abend von den Schultern des Steinmädchens gewischt wurde, hatte im Laufe der Jahre einen grauen Schleier über ihre verspielten Glieder gelegt, als ob eine so unverhüllte Lebensfreude hier nicht herpaßte.

Bless Dorlon sank in die Hocke und legte ihre Handtasche auf den Teppich. Die dünnen Handschuhe behielt sie an den Händen. Dann hob sie die Tänzerin von ihrem Sockel, drehte sie herum und faßte sie mit beiden Händen um Hals und Brust.

Maitre Sourette bewegte sich. Er raschelte mit den Blättern und murmelte vor sich hin.

Bless trat rasch in die Tür hinter seinen Rücken. Sie hob die kleine Tänzerin hoch in die Luft.

Sie hielt den Atem an und schlug mit aller Kraft zu.

*

Es war nicht leicht, das Schlüsselbund aus der Tasche des Toten zu ziehen, denn er lag auf der rechten Seite. Das glatte Gesicht der Sekretärin zeigte keine Veränderung, es war jetzt auch wie aus poliertem Sandstein. Sie mußte achtgeben, daß sie sich nicht beschmutzte.

Ruhig, aber rasch ging sie in Sourettes Arbeitsraum hinüber. Das Schlüsselwort seines altmodischen Geldschranks kannte sie, und auch die Summe, die sich darin befand. Sie schob die drei Geldnotenpäckchen in einen steifen gelben Umschlag und schrieb ihre eigene Adresse darauf. Dann faltete sie die Blätter mit den roten Ziffern, deren Auffindung Sourette das Leben gekostet hatte, schob sie ebenfalls in den Umschlag und klebte ihn zu. Über den toten Mann am Boden hinweg nahm sie aus einem Kästchen auf ihrem Schreibtisch Briefmarken. Sie bewegte sich so sicher, als habe sie eine ganz alltägliche Geschäftspost fertigzumachen.

Und sie wußte, daß man eine Arbeit am schnellsten zu Ende bringt, wenn man sie ganz gelassen erledigt.

Ohne noch einen Blick auf den toten Mann mit dem zerschmetterten Kopf zu werfen, ergriff sie eine Schere und schnitt die Zuleitung des Telefons ab. Den Safe ließ sie offen stehen, mit eingestecktem Schlüssel.

Dann verließ sie die Wohnung, warf die Tür hinter sich zu und lief schnell die Treppe hinunter.

Schon drei Schritte vor der Haustür sah sie einen kleinen Straßenjungen, wie sie ihn suchte. Sie winkte ihn heran.

„Lauf zur Post und wirf diesen Brief ein. Willst du?“ Sie legte einen Hundertfrancschein auf den Umschlag. „Wird erledigt, Madame!“

Sie lächelte darüber, daß er sie „Madame“ nannte. Er lief davon.

Auch Bless lief jetzt, so schnell es in dem engen Rock ging. Sie lief um die Ecke in die Rue de Madrid und in ein kleines Café gegenüber dem Konservatorium. Auch jetzt am Morgen saßen schon Studenten hier und sahen ihr nach, wie sie, fast stolpernd, an den Schanktisch lief und sich eine Telefonmarke geben ließ. Sie eilte in die Telefonzelle in der Ecke des Caféraumes und ließ sich die Kriminalpolizei geben.

„Kommen Sie sofort! Monsieur le Maitre Sourette ist tot!“

„Ich bin seine Sekretärin. Ich fand ihn um neun Uhr bei Dienstbeginn in seinem Büro.“

„Er muß erschlagen worden sein. Ich spreche aus einem Café. Die Telefonschnur im Büro ist durchschnitten.“

„Ich warte auf Sie.“

Sie verließ eilig das Café, aber doch auf ihre Erscheinung bedacht, etwa so wie eine Dame, die zu einer Verabredung ohnehin schon eine Viertelstunde zu spät kommt. Sie ging in Sourettes Büro zurück, um die Polizei zu erwarten. Sie überlegte: Wenn die erste Vernehmung vorüber war, würde sie Eric anrufen.

*

Eric Lavigne legte den Telefonhörer langsam, geistesabwesend auf die Gabel zurück. Er starrte auf den Rücken seiner Sekretärin, als wolle er die roten Punkte ihrer Everglace-Bluse zählen. Er glaubte, die dunkle Stimme von Bless Dorlon noch zu hören, die eben gesagt hatte: „Ich muß dich sprechen, sofort!“ Aber sie hatte nicht verraten, was denn geschehen war. Er gab sich einen Ruck, fuhr sich durch das stark gewellte schwarze Haar und griff an den grellbunten Schlips.

„Sollte jemand nach mir fragen —“

Die Sekretärin drehte sich um und musterte den Junior der Firma drohend.

„Sagen Sie das lieber Ihrem Vater.“

„Was zahlt er Ihnen im Monat dafür, daß Sie für ein Schaf wie mich den Schäferhund spielen?“

„Monsieur Eric, ich meine es doch nur gut.“

„Jedenfalls hat mein Vater einen neuen Plan. Früher hatte ich hübsche Sekretärinnen!“ Mit einem verbitterten Gesicht marschierte Eric hinaus auf den Korridor.

Übrigens vermutete er richtig. Sein Vater hatte erkannt, daß sich hübsche Sekretärinnen im Zimmer des Juniors zu schnell in Freundinnen verwandelten.

Eric öffnete die Tür zum Zimmer seines Vaters, ohne anzuklopfen, und steckte seinen schmalen, gelblich-bleichen Kopf hinein.

„Ein Anruf, Pa, ich muß rasch einmal —“

Philippe Lavigne saß in Hemdsärmeln am Schreibtisch.

„Ich weiß nicht, was du dir eigentlich denkst. Ich habe dir hundertmal gesagt, du sollst in der Geschäftszeit deine heillosen Geschichten lassen.“

„Es handelt sich nicht um Geschichten, sondern um einen Kunden, und —“

„Kunden?“ Wie heißt dieser Kunde?“

„Darüber nachher, Pa. Ich kann ihn nicht warten lassen!“

Eric schloß schnell die Tür und schüttelte sich. Er verstand auch durch die geschlossene Tür, was ihm nachgerufen wurde:

„Untersteh dich nicht, einen Wagen zu nehmen!“

Nein, Eric unterstand sich nicht. Er hätte sich kaum ein Taxi leisten können — jedenfalls nicht mit dem Taschengeld, daß Monsieur Philippe seinem 22jährigen Sohn bewilligte. Eric hatte Lust, die Fäuste zu ballen. Aber er war soweit eingeschüchtert, daß er dazu erst einmal die Hände in die Taschen schob.

Auch das Mädchen in der Empfangsloge dieser Firmen-Etage blickte ihn streng an. Vielleicht hatte auch sie eine Anweisung von Vater Philippe — Eric verspürte ein brennendes Verlangen, ihr die Zunge herauszustrecken. Aber er unterließ es.

So war es immer. Hundertmal am Tag packte ihn die Lust zur Auflehnung, zur Revolution, zum Sturm gegen die Tyrannei. Aber es kam höchstens einmal im Monat dazu, daß er zu sagen wagte: „Pa, da bin ich anderer Meinung.“ Und Vater Philippe pflegte die Revolution durch einen Satz zu beenden wie: „Dop hatte auch immer eine Meinung.“

Dop nämlich war der Foxterrier, der vor ein paar Jahren gestorben war.

Eric stürzte auf die Straße. Er hatte nur ein paar Schritte zu laufen, aus der Rue Drouot auf die Oper zu. Von weitem sah er an einem der Tischchen vor dem Café Opéra Bless Dorlon sitzen — in ihrem hautengen rohseidenen Kleid, steif wie die Königin von Saba, hinter einem Apéritif, den sie nicht anrührte. Etwas atemlos kam er an.

„Danke, Bless. Für den Anruf. Höchste Zeit, daß du für Nachschub sorgst. Meine Munition ist wieder einmal restlos verschossen, und der Alte ...“

Mitten im Reden gab er ihr die Hand und ließ sich auf einen Rohrstuhl neben ihr fallen.

„... und der Alte verlangt einen schriftlichen Antrag in drei Ausfertigungen, wenn ich zwanzig Francs für den Bus brauche.“

Eric lachte. Bless hob ruhig das schöne, aber unbewegliche Gesicht und sah ihn an. Er hatte rehbraune Augen. Aber er konnte sie nicht länger als zwei Sekunden auf den gleichen Punkt gerichtet halten. Er hatte Lippen wie eine Frau und zerbrechliche Hände.

„Mit dem Nachschub ist es aus, Eric“, sagte sie ruhig. „Sourette ist tot.“

„Tot? — Was? — Was ist Sourette?“

Sie sah auf diese langen, dünnen Hände, die er jetzt auf die Tischkante legte, als wolle er sich daran festhalten. Die Haut dieser Hände hatte den gleichen gelblich-bleichen Farbton wie sein langes Gesicht.

Sie nickte. „Tot. Totgeschlagen.“

*

Wer einen reichen Mann beneidet, täuscht sich mitunter. Philippe Lavigne war reich. Ihm allein gehörte die Chemie-Exportfirma, die es sich leisten konnte, im brandteuren Zentrum von Paris eine Büro-Etage zu haben. Und Philippes Macht strahlte von dieser Etage weithin aus. Seit vier Jahren behauptete er den heiß umkämpften Präsidentensessel der Chemie-Union, einem konzernartigen Zusammenschluß etlicher großer Werke und Handelsfirmen der chemischen Industrie.

Sein Wort konnte binnen Minuten Existenzen in Ecuador oder Kapstadt vernichten. Aber er selbst lebte wie der Lastesel eines armen Müllers.

Es kennzeichnete ihn, daß er mit hochgekrempelten Ärmeln am Schreibtisch zu sitzen pflegte. Er verrichtete seine Papierarbeit so, wie ein anderer Bäume fällen würde. Er schnaufte, schuftete und strengte sich entsetzlich an. Seine vierschrötige, muskulöse Gestalt wirkte wie eine Dampfturbine bei der höchsten Drehzahl. Wie eine Maschine funktionierte er nach seinem Terminkalender, und jede Minute, die ihm von seiner Planung verloren ging, brachte ihn an den Rand der Raserei.

Kurz vor elf Uhr an diesem Morgen sprang er auf und drückte dreimal kurz auf einen roten Knopf an seinem Diktiergerät. Das dreifache Klingelzeichen war in seinem Vorzimmer zu hören.

Das Zeichen wirkte wie der Alarmpfiff bei der Feuerwehr. Die erste Sekretärin warf Listen und Stifte von sich, schrie in ein Mikrophon, der Wagen des Chefs habe vorzufahren. Dann riß sie Lavignes Mantel aus dem Schrank und stürzte auf den Korridor, wo Lavigne im nächsten Augenblick bereits in voller Fahrt vorbeisauste.

Die zweite Sekretärin rannte hinterdrein mit einer Mappe, in der sich die zur jeweiligen Sitzung nötigen Papiere befanden.

Wenn es ihnen nicht gelang, Philippe Lavigne bis zum Fahrstuhl mit Mantel, Hut und Tasche zu versehen, dann mußten sie eben mit nach unten fahren. Zum Stehenbleiben hatte er keine Zeit.

„Was ist das für eine Schweinerei!“

Lavigne lief rot an und fluchte, während er nach dem linken Ärmel suchte, weil er diesmal doch stehenbleiben mußte. Jemand anders wagte es, ausgerechnet jetzt den Fahrstuhl zu benutzen. Als dann der erleuchtete Korb endlich eintraf und die Glastür sich öffnete, stellte sich heraus, daß Eric dieser Unglücksrabe war.

„Ah! Der Herr Sohn geruht zu kommen! Hätte ich mir denken können.“

Eric wirkte aufgeregt. Er hielt seinen Vater am Mantel fest.

„Pa — Maitre Sourette ist tot.“

„Warum nicht? Deshalb hältst du mich auf?“

„Sourette ist ermordet worden.“

Jetzt zögerte Philippe doch. Seine dunkelgrauen Augen erstarrten und ruhten für einige Sekunden auf dem unruhigen Gesicht des Sohnes.

„Komm mit!“ entschied Lavigne und zog seinen Sohn in den Fahrstuhl zurück. Die Kabine setzte sich summend in Bewegung.

„Woher hast du das?“

Eric zog es vor, die Antwort zu umgehen.

„Sourette ist vor etwa zwei Stunden in seinem Büro erschlagen worden.“

„Erschlagen? Was du sagst. Wer vergreift sich an diesem Fuchs.“

„Simpler Raubmord, anscheinend. Sein Geldschrank stand offen.“

„Sein Geldschrank stand offen“, sagte Lavigne nachdenklich.

Sie verließen den Fahrstuhl und eilten auf die Straße. Der Fahrer hielt die Wagentür auf. Lavigne fuhr einen alten, englischen Wagen. Fahrerraum und Fond waren wie in einem französischen Taxi durch eine verschiebbare Glasscheibe getrennt. Der Fahrer schloß sie ohne besondere Aufforderung, sobald er seine Adresse hatte.

Lavigne starrte konzentriert vor sich hin. „Der Geldschrank stand offen“, wiederholte er. „Erst vor zwei Stunden —“ Er stieß schnell hervor, ohne seinen Sohn anzusehen: „War noch etwas drin in dem Geldschrank?“

„Ich habe keine Ahnung. Was soll es gewesen sein?“

„Ein Schriftstück? Ein Protokoll?“

„War es eine Herstellungsformel? Ich könnte mir nicht denken, was dich sonst so interessiert.“

„Nein. Es ist das Gründungsprotokoll eines Vereins zur Beseitigung deines Vaters.“

„Pa!“ Eric starrte seinen Vater verblüfft an. „Jetzt erzählst du Räuberpistolen!“

Philippe Lavigne lachte bitter. Seine sonore Stimme klang etwas heiser. Eric fiel es plötzlich auf, daß sein Vater in den letzten Monaten alt geworden war. Die energischen Falten zu beiden Seiten seines Mundes sahen auf einmal melancholisch aus. Die Haut war schlaffer geworden, daran lag es.

„Dir wird bekannt sein, daß gewisse Herren sich emsig bemühen, mich als Vorsitzenden des Verbandes abzuschießen.“

„Ja, aber —“

„Ja? Tu doch nicht so, als ob du es wüßtest. Bei deinem Interesse für das Geschäft weißt du doch nicht einmal, womit wir überhaupt handeln. Aber es hilft nichts, du mußt es wissen. Es ist da eine Gruppe von Chemikern. Sie behaupten, der Verband dürfe nicht von den alten Kaufleuten, er müsse vielmehr von den Chemikern geführt werden. Natürlich ein kompletter Blödsinn.“

„Natürlich“, sagte Eric ohne eine Spur von Überzeugung.

„Es geht diesem Monsieur Ponti ganz einfach darum, sich an meine Stelle zu setzen. Verstehst du, was das bedeuten würde?“

„Wer ist Ponti?“ fragte Eric harmlos.

Philippe Lavigne stöhnte und sank ein wenig zusammen. Hatte es irgendeinen Sinn, diesem Sohn die Dinge auseinanderzusetzen? Für Philippe waren das Schicksalsfragen — und vielleicht waren sie es wirklich. Macht- und Einflußströme aus den großen Industriestaaten der Welt gipfelten in Ponti und Lavigne, die hier aufeinandertrafen. Von diesem Entweder-Oder hing etwas ab für die Wirtschaft des Landes. Vielleicht sah Lavigne die Dinge unter dem Vergrößerungsglas seiner leidenschaftlichen Anteilnahme — ihm kam es beinahe vor, als würden in diesem stillen Machtkampf die Geschicke einer Welt entschieden.

Und sein Sohn betrachtete die gleiche Sache ungefähr so, als würden ihm zum Nachtisch zwei Äpfel zur Auswahl vorgelegt.

Lavignes Gesicht wurde grämlich. „Doktor Ponti ist Chefchemiker bei Broussard“, sagte er müde, „und sitzt im Vorstand des Verbandes. Er hat wankelmütige Vorstandsmitglieder gewonnen, bei nächster Gelegenheit gegen mich zu stimmen. Um sie bei der Stange zu halten, hat er sie darüber ein gemeinsames Protokoll unterschreiben lassen.“

„Aha!“ machte Eric mit gespieltem Interesse. Philippe durchschaute die Heuchelei genau. Er spürte eine Aufwallung in sich. Instinktiv legte er die Hand auf das Herz. Er war über sechzig, und sein Arzt schlug die Hände über dem Kopf zusammen, so oft er ihn sah. Lavigne konnte sich kaum beherrschen, seinem Sohn nicht ins Gesicht zu schlagen.

„Das Protokoll lag im Geldschrank bei Sourette“, sagte er.

„Ach!“ Jetzt wurde Eric wirklich munter und richtete sich verwundert auf. „Woher weißt du das eigentlich alles?“

„Das geht dich nichts an. Wenn der Raubmörder dieses Protokoll mitgenommen hat, das für ihn ganz wertlos ist — ich wäre bereit, dafür eine gute Summe auszugeben, und ...“

Philippe Lavigne schloß die Augen. In dem Schweigen fiel Eric jetzt das Surren des Motors auf die Nerven. Er schob sich vor und starrte seinem Vater ins Gesicht, in dieses schwere, faltige Gesicht mit den Lidern über den großen Augäpfeln. Schließlich konnte er seine Ungeduld nicht halten. „Und?“ fragte er.

„... und fünfzigtausend Francs für dich, wenn du es vermitteln kannst.“

Eric lächelte spöttisch. Der Alte tat so, als seien fünfzigtausend Francs ein Kapital. Und man mußte auch noch so tun, als sei man ebenfalls dieser Meinung. Aber immerhin —

„Selbstverständlich“, sagte der Alte, „werde ich dabei das Geheimnis des Täters wahren. Mich interessiert nicht einmal, zu erfahren, wer es ist. Kannst du das machen?“

Der Druck der Bremsen hob sie ganz sanft in den Polstern an. Der Wagen hielt.

„Sind fünfzigtausend nicht etwas zu wenig bei diesem Auftrag?“ fragte Eric unverschämt. Wieder diese Aufwallung, der Griff zum Herzen.

„Also das Doppelte“, sagte Philippe wie unter Schmerzen.

„Und ich ...“

„Genug! Sag nichts mehr. Sag um Gottes willen kein Wort mehr!“

Philippe nahm seine Tasche und kletterte ins Freie, ohne seinen Sohn noch einmal anzusehen.

„Fahren Sie ihn zurück“, sagte er zum Fahrer. „Holen Sie mich in zwei Stunden.“

Der gestohlene Mord

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